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Das Gedächtnis als virtuelle Koexistenz

Referat von
jrh
devel
 


Das dritte Kapitel aus Gilles Deleuze Henri Bergson zur Einführung (BzE) beschäftigt sich mit Bergsons Theorie des Gedächtnis und seiner Konzeption von Dauer.


(I) Ontologie der Vergangenheit

Die Grundthese besteht in der Identität zwischen Dauer und Gedächtnis, die
damit der Dauer Freiheit und Bewußtsein notwendig voraussetzt.
Das Gedächtnis hat eine zweifache Eigenart:

"Dauer ist wesentlich Gedächtnis, Bewußtsein, Freiheit. Bewußtsein und Freiheit ist sie, weil sie in erster Linie Gedächtnis ist. Nun besitzt aber bei Bergson diese Identität von Gedächtnis und Dauer immer zwei Gesichter: »Aufbewahrung und Anhäufung der Vergangenheit in der Gegenwart«." (BzE S.69)

Prinzip der Umhüllung Prinzip der Verbindung
mémoire-souvenir mémoire-contraction
Gegenwart schließt die Vergangenheiten ein Vergangenheit akkumuliert sich



Die Dauer als reine Erinnerung ist damit aber noch nicht Teil eines
Wahrnehmungsprozesses, sondern als solches etwas völlig anderes.
Es muß also einen Mechanismus geben, der den Übergang von
Dauer zum faktischen Gedächtnis bildet und erlaubt.


Deleuze hält fünf Aspekte dieses Mechanismus fest:


Die ersten beiden, Bedürfnis und Gehirn gehören der Linie des Objektiven, d.h. der Bewegung an, die letzten beiden der Linie des Subjektiven, also der Dauer.


In diesem Zusammenhang wird auf die erste wichtige Fehlannahme über die Erinnerung hingewiesen:

Das Gehirn als Vorratskammer der Erinnerungen

Bergson weist diese Vorstellung als fehlerhaft zurück, da das Gehirn in der objektiven Welt lokalisiert ist, die keine Dauer kennt (sie ist ausschließliches Werden), während Die Erinnerungen nur in der Dauer, also in sich selbst virtuell erhalten bleiben können.
(-> BzE S. 73f)

Das Problem der Lokalisation der Erinnerung bildet damit eine falsche Fragestellung.
Sie beruht in der Verwechslung zwischen:
a) Sein:
nicht nützlich, nicht aktiv, virtuell, vergangen, unbewußt im Sinne Bergsons
b) Gegenwärtig-Sein:
werdend, aktiv, nützlich, real

Nach Bergson versetzen wir uns mit einem Sprung in die Vergangenheit, also ins Sein (Ontologie), der Verganngenheit im Allgemeinen, was Deleuze dazu veranlaßt, zu fragen, woher diese plötzliche Diskontiuität im sonst so von Kontinuitäten geprägten Bergsonschen Modell hereinbricht. (haupts.BzE, 4.Kapitel)


Die zweite Fehlannahme:
"Zum einen gehen wir davon aus, das Vergangene konstituiere sich erst, nachdem es gegenwärtig gewesen sei; zum anderen, daß es gleichsam von der neuen Gegenwart, deren Vergangenheit es inzwischen ist, rekonstruiert werde." (BzE, S.77)


Daraus würde folgen, daß zwischen Erinnerung und Wahrnehmung nur ein gradueller Unterschied bestünde.
Dagegen folgt die "Vergangenheit nicht der Gegenwart, sondern wird als Bedingung schlechtdings vorausgesetzt, ohne die sie nicht vergehen könnte. Anders ausgedrückt, jede Gegenwart verweist auf sich selbst als Vergangenheit.... Ein weiteres Mal werden bei Bergson platonische Elemente deutlich" (BzE, S.79 o) .

Es koexistiert also weiter die ganze Vergangenheit mit der Gegenwart.
"Dauer ist zwar wirkliches Nacheinander, aber sie ist dies genaugenommen nur, weil sie virtelle Koexistenz ist."(BzE S 80 o)

Uploaded Image: kegel.gif


AB stellt den weitaufgefächertsten Zustand (détendu/abgespannt),
A'B' eine Annäherung an den kontrahiertesten Punkt S der Gegenwart dar.
Es handelt sich dabei jeweils um die gesamte Vergangenheit in unterschiedlichen Zuständen der Kontraktion.


Deleuze extrahiert vier Hauptbestimmungen dieser Struktur:
1) Paradox des Sprungs ("mit einem Sprung versetzen wir uns in die Vergangenheit")
2) Paradox des Seins (Wesensunterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart)
3) Paradox der Gleichzeitigkeit (die Vergangenheit folgt nicht der Gegenwart)
4) Paradox der psychischen Wiederholung (vollständige Koexistenz auf allen Spannungsebenen)


"Die Gegenwart als höchstkontrahierte Stufe der Vergangenheit und die Materie als spannungsloseste Stufe der Gegenwart (mens momentanea)" (BzE S98 m)



Diese Beschreibung erlaubt einen Einblick, wie die Tatsache, daß Materie Bild ist (Bewegungsbild) mit der Vorstellung von Vergangenheit zusammenhängt. Die Materie ist sozusagen das Bild, das die Vergangenheit auf der Gegenwart wirft. Die zwei Formen der Speicherung, die mechanisch-akuelle und die mental-virtuelle müssen sich in der Materie also begegnen, da sie die Übergangsschicht darstellt.

Inwiefern kommt der Materie die Fähigkeit zu, Vergangenheit zu speichern?

Eine von Bergson nicht angeführte formale Überlegung führt zu der Vermutung, daß schräge Kegelschnitte eine Relevanz in diesem Modell bekommen könnten, insbesondere für die Überlegungen zum Kino (siehe auch: Die kleine Form des Aktionsbildes).
Es bleibt zu überlegen, ob eine "kontinuierliche Montage" dieser Kontraktionsebenen situative Projektionsflächen bilden, die die Vorstellung von der Gegenwart als Punkt S unterlaufen.


Uploaded Image: kegel2.gif




(II) Aktualisierung
Der Vorgang der Wiedererinnerung im psychischen Sinn ist ein Prozeß, der laut B. zwei gleichzeitige Bewegungen aufbringt:

Translation und Rotation

diese Bewegungen sind aber nicht mit den Kontraktionen der Vergangenheiten zu verwechseln: "Wenn Bergson hingegen von Translation spricht, handelt es sich um die notwendige Bewegung bei der Aktualisierung einer Erinnerung auf einer bestimmten Ebene." (BzE S.85 m)

Diese Bewegung könnte man mit der Abrufmechanik einer Jukebox vergleichen,
die aus einem (zwar ring- statt kegelförmigen) Repertoire eine Platte (Kontraktionsebene) herauslöst, sie Nadel und Plattenteller entgegenführt (Translation und Rotation) um sie dort zu aktualisieren.

Uploaded Image: jukebox2.jpg

Dieses Bild ist aber natürlich nur begrenzt haltbar. Es unterschlägt die Tatsache, daß sich die Ebenen des virtuellen Seins und seiner Aktualisierung durchdringen, indem sie eine Art "Stromkreis" (Bergson) bilden: Es erfolgt ein Aufruf (appel) einer Erinnerung durch eine "Situation der Gegenwart", also ein Sprung. Dann beginnt der Vorgang des "se rappeler" (rappel), des Aufrufs, der sich in Translation und Rotation mit der Gegenwart verbunden findet. Die Wahrnehmung aktualisiert sich als utilitaristischer Prozess (i.Ggs. zur de iure reinen Wahrnehmung) im Zusammenspiel mit dem Erinnerungsbild das hier die Bühne betritt.

Die Bergson: Indeterminiertheit, die die Freiheit und damit die Wahrnehmung selbst erst ermöglicht, konstituiert sich so also aus einem Wechselspiel zwischen dem "desinteressierten Sein" (Vergangenheit) und dem "determinierten Mechanismus" (Gegenwart), indem die beiden in ihrer Unvereinbarkeit koexistieren müssen. Diese Zwangsläufigkeit leitet sich aus der Möglichkeit des Vergehens und des Eintreffens ab, die folgern läßt, daß die Vorstellung, letztlich in den Zenonschen Paradoxien befangen, fehlerhaft ist.

In diesem Aktualisierungsprozeß bilden die Abbildungsverfahren Translation und Rotation eine Kernfunktion, die Bergson an bestimmten seelisch-körperlichen Leiden beschreibt, in denen diese gestört sind. (BzE S 91, MG 172 m)

"Unser Gefühl der Dauer, ich meine das Zusammenfallen mit mir selbst, lässt Grade zu" (SE 205/665)
"Es beruht dies darauf, daß man in unmerkichen Stufen von der konkreten Dauer, deren elemente sich durchdringen, zur symbolischen Dauer, deren Momente sich nebeneinander aufreihen, und folglich von der freien Akivität zum bewußen Automatismus übergeht." (ZF 188/156)
(BzE S.153)

Da auch schon die Gegenwart als "höchstkontrahierter" Fall der Vergangenheit angesehen werden kann, indem unsere Wahrnehmung in ihrer kontrahierenden Funktion die (quantitativen) Momente zu einer (qualitativen) Dauer zusammenzieht, ist der Dualismus zwischen subjektiver und objektiver Tatsachenlinie unterlaufen von der "reinen Wahrnehmung" und der "reinen Erinnerung".
Auf diesen Punkt trifft Deleuze in BzE (S. 93), indem er beschreibt, wie Bergson sich die Entstehung der Erinnerung vorstellt. Danach ist die reine Erinnerung bereits "Zeitgenossin schon der ehemaligen Vergangenheit".[ .. ] "Die Erinnerung muß sich verkörpern, nicht um ihrer eigenen Gegenwart (zu der sie zeitgenössisch ist), sondern um ihrer eigenen Gegenwart willen, gegenüber der sie jetzt vergangen ist."

Mengentheoretisch wäre es denkbar, diesen Schritt analog der Internal Set Theory (Interne Mengenlehre) zu sehen, in der irreguläre (non-standard) Zahlen definiert werden, die kleiner als jede reguläre (standard)) Zahl sind. Diese Modelle sind an ähnliche Probleme adressiert wie die Integralrechnung - Bergson selbst hat aufmerksam Riemanns Mathematik verfolgt - Der Begriff der Mannigfaltigkeit (Vielheit bei Deleuze) fällt dabei ins Auge. (Riemann)



Worin unterscheidet sich also die Zone der Bergson: Indeterminiertheit von dem Zufälligen, nicht vorhersehbaren ereignis beispielsweise des radioaktiven Zerfalls? bergson geht an wenigen Stellen auf den Automatenbegriff ein: Automat bei Bergson




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