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Bergson: Indeterminiertheit

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  Textausschnitte aus Materie und Gedächtnis (MG), die zur Begriffsklärung beitragen könnten:


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Aber wenn im Aufstieg des Tierreiches das Nervensystem auf ein allmähliches Freierwerden der Tätigkeit abzielt, muß man da nicht annehmen, daß auch die Wahrnehmung, deren Fortschritt von dem des Nervensystems abhängt, ganz und

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gar auf Tätigkeit und nicht auf die reine Erkenntnis gerichtet ist? Und wenn dem so ist, sollte dann nicht die wachsende Fülle dieser Wahrnehmung einfach die Versinnbildlichung der wachsenden Indeterminiertheit sein, die dem Lebewesen den Dingen gegenüber eine immer freiere Wahl läßt?
Gehen wir also von dieser Indeterminiertheit als dem eigentlichen Prinzip aus. Untersuchen wir, ob sich nicht aus. ihr die bewußte Wahrnehmung als möglich oder gar notwendig deduzieren läßt. Mit anderen Worten, setzen wir dieses System engverbundener Bilder, die wir die materielle Welt nennen, und denken wir uns hier und dort in diesem System Zentren wirklicher Tätigkeit, durch die lebende Materie repräsentiert: wir wollen beweisen, daß sich um jedes dieser Zentren Bilder gruppieren müssen, die von seiner Lage abhängen und sich mit ihr verändern; daß sich die bewußte Wahrnehmung ergeben muß, und noch mehr, daß es möglich ist zu begreifen, wie diese Wahrnehmung entsteht.

Beachten wir zunächst, daß ein strenges Gesetz die Weite der bewußten Wahrnehmung an die Stärke der Aktivität bindet, über die das Lebewesen verfügt. Wenn unsere Hypothese begründet ist, dann müssen wir annehmen, daß die Wahrnehmung genau in dem Moment auftritt, in dem ein von der Materie empfangener Reiz sich nicht in eine notwendige Reaktion verlängert. Handelt es sich um einen Organismus niederer Art, so bedarf es allerdings eines unmittelbaren Kontaktes mit dem Reizobjekt, wenn ein Reiz ausgelöst werden soll, und da kann denn die Reaktion nicht gut verzögert werden. So ist bei den niederen Lebewesen der Gefühlssinn passiv und aktiv zugleich; er dient zugleich zum Erkennen und zum Ergreifen des Raubes, zur Empfindung und zur Abwehr der Gefahr. Die verschiedenen Fortsätze der Protozoen, die Ambulakralfüßchen der Echinodermen. fungieren sowohl als Bewegungsorgane wie als Organe des Tastsinns; der Nesselapparat der Coelenteraten ist gleichzeitig ein Sinneswerkzeug und eine Verteidigungswaffe.
Mit einem Wort: je unmittelbarer die Reaktion sein muß, um so mehr muß die Wahrnehmung einer bloßen Berührung gleichen, und der ganze Vorgang von Wahrnehmung
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und Reaktion unterscheidet sich dann kaum von einem mechanischen Anstoß mit notwendig darauffolgender Bewegung. Aber je ungewisser die Reaktion wird und je mehr sie ein Abwarten zuläßt, desto mehr nimmt auch die Entfernung zu, in der das Lebewesen die Wirkung des Gegenstandes, der es beschäftigt, empfindet. Durch das Gesicht, durch das Gehör setzt es sich zu einer immer größer werdenden Zahl von Dingen in Beziehung und unterliegt ihren Einflüssen auf immer größere Entfernungen; und ob ihm nun diese Dinge Vorteil versprechen oder Gefahr drohen, gerade weil sie nur versprechen und drohen, ist der kritische Moment hinausgeschoben. Aus dem Grade der Unabhängigkeit, über die ein Lebewesen verfügt, oder, wie wir sagen wollen, aus der Größe der Zone von Indeterminiertheit, die seine Aktivität umgibt, läßt
sich a priori auf die Zahl und Entfernung der Dinge, mit denen es in Beziehung
steht, schließen. Welcher Art diese Beziehung und die eigentliche Beschaffenheit der Wahrnehmung auch sei, jedenfalls kann behauptetwerden, daß die Weite der Wahrnehmung in genauem Verhältnis zur Indeterminiertheit der nachfolgenden Tat steht. Wir können also folgendes Gesetz formulieren:

Die Wahrnehmung beherrscht den Raum genau in dem Verhältnis; in dem die Tat die Zeit beherrscht.




Diese Bewegungen gingen, so schien es, einzig und allein die Aktivität an; sie blieben dem Vorstellungsprozesse absolut fremd. Dann betrachteten wir die Aktivität selbst und die Indeterminiertheit, von der sie umgeben ist, eine Indeterminiertheit, die in der Struktur des Nervensystems gegeben ist und auf die dieses System in seiner Einrichtung viel eher abzuzwecken scheint als auf die Vorstellung. Diese Indeterminiertheit einmal als Tatsache angenommen, konnten wir zu dem Schlusse kommen, daß es Wahrnehmungen
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geben muß, d. h. eine variable Beziehung zwischen dem Lebewesen und den mehr oder minder fernen Einflüssen der Gegenstände, die es beschäftigen.





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Wenn nun aber die Lebewesen im Weltall "Zentren der Indeterminiertheit" darstellen und diese Inderterminiertheit mit der Zahl und der Feinheit ihrer Funktionen wächst, begreift man, daß ihr Vorhandensein ganz von selbst die Ausscheidung aller der Elemente in den Gegenständen mit sich führt, an denen ihre Funktionen nicht interessiert sind. Sie lassen gewissermaßen jene äußeren Wirkungen, die ihnen gleichgültig sind, durch sich hindurchgehen; dadurch werden die anderen isoliert und eben durch diese Isolierung zu "Wahrnehmungen".




siehe auch:
Die photographische Funktion bei Bergson
Bergson: Filterfunktion der Indeterminiertheit



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Diese Indeterminiertheit wird, wie wir gesehen haben, in einer Reflexion der unsern Körper umgebenden Bilder auf sich selbst oder vielmehr in einer Teilung dieser Bilder zum Ausdruck kommen; und nur weil gerade die nervöse Kette, welche die Bewegungen aufnimmt, hemmt oder weiterleitet, Sitz und Maß dieser Indeterminiertheit ist, entspricht unsere Wahrnehmung in allen Einzelheiten den Veränderungen der nervösen Substanz und erscheint als deren unmittelbarer Ausdruck.




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Dies wäre also die vereinfachte schematische Theorie der äußeren Wahrnehmung, die wir aufstellen wollten. Es wäre eine Theorie der reinen Wahrnehmung. Wenn man sie für definitiv hielte, so hätte unser Bewußtsein bei der Wahr-
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nehmung einzig die Funktion, an dem fortlaufenden Faden unseres Gedächtnisses eine ununterbrochene Kette momentaner Anschauungen aufzureihen, die vielmehr ein Bestandteil der Dinge selbst als Teil von uns wären. Daß übrigens unser Bewußtsein bei der äußeren Wahrnehmung wirklich diese Aufgabe vor allen andern hat, das kann schon a priori aus der Definition der lebenden Körper abgeleitet werden. Denn wenn auch die lebenden Körper den Zweck haben, Reize aufzunehmen und sie zu unvorhersehbaren Reaktionen zu verarbeiten, so darf es doch nicht vom Zufall abhängen, welche Reaktion gewählt wird. Die Wahl der Reaktion wird ohne Zweifel von der bisherigen Erfahrung inspiriert und vollzieht sich nie, ohne daß auf die Erinnerung an analoge Vorgänge zurückgegriffen wird. Die Indeterminiertheit der zu vollziehenden Handlungen erfordert folglich, soll sie nicht zu reiner Willkür werden, die Erhaltung der wahrgenommenen Bilder. Man könnte sagen, daß ohne einen Rückblick von entsprechender Weite keine Besitzergreifung der Zukunft möglich ist; daß der Vorstoß unserer Aktivität nach Vorwärts eine Leere hinter sich läßt, in die sich die Erinnerungen stürzen; daß somit unser Gedächtnis eine Art Rückwirkung darstellt, die sich in der Sphäre des Bewußtseins als eine Folge der Indeterminiertheit unseres Willens ergibt. Aber die Tätigkeit unseres Gedächtnisses erstreckt sich viel weiter und tiefer als diese oberflächliche Prüfung erraten läßt. Der Augenblick ist gekommen, das Gedächtnis wieder in die Wahrnehmung einzuführen, dadurch richtig zu stellen, was unsere Folgerungen etwa Übertriebenes haben könnten, und so den Berührungspunkt zwischen dem Bewußtsein und den Dingen, zwischen Körper und Geist genauer als roher zu bestimmen.



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