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4.4 Nach vorn und zurück

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Nach vorn und zurück. Insofern verwundert nicht, wenn Deleuze die Filme Wenders' als Zeugen für die Beziehungen von Bewegungs- und Wahrnehmungsbild aufruft. An keinem Punkt läßt sich die Wahrnehmung von der Bewegung trennen; immer ist die Bewegung bereits einer Wahrnehmung zuvorgekommen, die versuchen würde, sich vollständig in Aktionsbildern zu realisieren, das Virtuelle in der Aktion zu absorbieren und so mit ihm abzuschließen. Ganz so war das Aktionsbild des Hollywood- Films in eine Struktur übergegangen, die von der Situation zur Aktion fortschreitet, um in einer neuen Situation zu resultieren. Er gehorcht, wie Deleuze sagt, jener narrativen Struktur S–A–S' (Situation–Aktion–Situation), die Wahrnehmung, Affekt und Trieb in einer Aktionsstruktur bündelt, um auf ein Ende auch der Narration zuzulaufen. Aber darin besteht auch die Krise dieses Kinos. Nicht nur, daß es sich in der Gewalt des Aktionsbildes erschöpft. Vor allem wird es dem Bewegungs- Bild Gewalt selbst antun, dessen Bewegung keine Narration Herr wird: und deshalb muß es das Bewegungs-Bild selbst abbrechen. Auch deshalb zerfällt das Ende bei Wenders auch immer neu in Virtualitäten eines Anderswo, das die Bewegung in jeder Phase wieder einsetzen läßt. Also gibt es nicht einmal ein "Ende": in gewisser Hinsicht beschreiben die Filme Wenders' eine Bewegung aus Bewegungen, die als Bewegungs-Bild über jedes Ziel und damit jede Narration hinaus sind. Unablässig stellt sich in ihnen jene offene Totalität her, die der Bewegung nicht etwa als Gegebenheit oder Struktur vorgegeben ist, sondern sich in der Bewegung als Totalität verändert. Und dies macht die Reisen aus; "sie gehen nirgendwo hin; ich möchte sagen, daß es für sie nicht wichtig ist, irgendwo anzukommen. Es ist wichtig, die richtige 'Einstellung' zu haben, auf dem Weg zu sein. Das ist ihr Streben: unterwegs sein. Auch ich selbst mache das sehr gerne, nicht 'ankommen', sondern 'gehen'. Der Zustand der Bewegung, das ist wichtig für mich. Wenn ich zu lange an einem Ort bleibe, fühle ich mich irgendwie unbehaglich; ich will nicht sagen, daß ich mich langweile, aber ich habe das Gefühl, nicht mehr so offen zu sein wie unterwegs. Die beste Art für mich, einen Film zu machen, liegt in der Fortbewegung – meine Phantasie arbeitet dann besser. Sobald ich zu lange an einem Ort bleibe, kann ich mir keine neuen Bilder mehr vorstellen, ich fühle mich nicht frei" 39.

Vielleicht könnte man versucht sein, deshalb von einer "Bewegung nach vorn" zu sprechen. Doch sofort zeigt sich, daß diese Formulierung ein Paradox darstellt, von dem sie schließlich zerstört wird. Denn es gibt keine "Bewegung nach vorn", zumindest nicht, sobald die Bilder jede narrative Teleologie einer "Geschichte" unterminiert haben. Wird man nicht mit gleichem oder vielmehr größerem Recht behaupten können, es gehe um eine "Bewegung zurück"? Zumindest muß sich die Filmkamera, zum allgemeinen Äquivalent der Bewegung geworden, unablässig ihrer Äquivalenzfunktion versichern, um das Bewegungs-Bild nicht der Narration ausliefern zu müssen. Unausgesetzt muß die Kamera eine Art Archäologie ihrer selbst und des Films betreiben, in der sich erweisen könnte, daß sie aus einem Universum aller Fortbewegungs-Mittel auftaucht, aus den Dampfkameras, den Benzinkameras, den Fahrradkameras, den Luftkameras... Insofern wird die Bewegung von Erinnerungsund den Traumbildern durchquert werden, in denen sie sich ihrer selbst erinnert. Der Traum, den das Kino von sich selbst träumt, die Erinnerung, in der es sich seiner selbst erinnert – eine "Bewegung zurück" also?

Uploaded Image: pfeil.gif 4.5 Die bleierne Zeit

  39 Wim Wenders: Die Logik der Bilder, ebd., S.49.






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