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5.8 Das Digitale

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Das Digitale. Die Frage nach dem Digitalen wird hier jedenfalls wie mit Händen greifbar. Deleuze gibt eine Bestimmung des Zeit-Bilds, die zunächst auch als die des Digitalen gelten könnte: es spezifiziert seine Materie selbst, es ist in sich nicht konstituiert, sondern konstituiert seine Formen von Zeichen zu Zeichen oder von Zeit zu Zeit. Das Digitale ist also keineswegs selbst "Zeichen", zumindest nicht, so lange darunter – einer vorherrschenden semiologischen Tradition folgend – ein bestimmtes Verhältnis von Differentialität und Ausdruck verstanden wird. Das Digitale "ist" vielmehr reine Differenz, Einschnitt vor jeder Bewegung, Genesis einer transparenten Materie. Insofern stellt diese "zweite Dimension einer reinen, nichtsprachlichen Semiotik" auch nicht vor ein semiologisches Problem, dessen Lösung im "Signifikanten" bestehen könnte. Neue Zeichen tauchen auf, die sich auf der Ebene des Zeit-Bildes bewegen. Aber zunächst heißt das auch, daß sich diese Zeichen nicht einfach auf einen "digitalen Code" verweisen lassen. Zunächst zeigt sich nur, daß die Frage nach dem Zeit-Bild immer schon die eines bestimmten Einschnitts gewesen ist, der nicht auf das Bewegungs-Bild zurückgeführt werden kann. Der Film hatte insofern schon immer in einer Meditation dieses Einschnitts bestanden, auch da, wo er sich auf Optomechanik und Zelluloid stützte. Doch ebenso wird sich dieser Einschnitt unter Bedingungen digitaler Technologien anders manifestieren, forciert er eine Bewegung des Zeit-Bilds, in der es auf sich selbst zukommt.

Bemerkenswert mag sein, daß Deleuze den elektronischen, genauer: den digitalen Bildern keine eingehende Analyse widmet. Mitunter nennt er analoge Video- und digitale Bilder in einem Atemzug, ohne auf den tiefgreifenden Unterschied einzugehen, der zwischen beiden besteht. Kurz, er beschränkt sich auf Andeutungen, Skizzen und Marginalien; und selbst, wenn das nicht entscheidend sein wird: das dürfte auch auf die Umstände seiner Analyse zurückzuführen sein. Das Zeit-Bild. Kino 2 erschien 1985 in Frankreich, vor annähernd zwanzig Jahren, als sich die digitalen Technologien der Bilderzeugung wie in einer Inkubationsphase bewegten. Erklärt dies vielleicht die Zurückhaltung, die Deleuze an den Tag legt? "Es liegt nicht in unserer Absicht, eine Analyse der neuen Bilder zu erstellen, da sie über den Rahmen unserer Untersuchung hinausgehen würde; wir wollen nur auf bestimmte Auswirkungen hinweisen, deren Verhältnis zum kinematographischen Bild noch zu bestimmen ist." 79 Doch immerhin, indem Deleuze von den Auswirkungen des digitalen Bildes auf das kinematograische spricht, macht er deutlich, daß der "traditionale" Film die Ordnung des Bewegungs- und Zeit-Bildes bei weitem nicht ausschöpft. Und nachdem er diese Kadrierung vorgenommen hat, verweist er in einer Fußnote zusätzlich auf Edmond Couchet. Der hatte die digitalen Bilder als "Immedia" bezeichnet, "da es genaugenommen kein Medium mehr gibt. Dabei läßt er sich von der zugrundeliegenden Vorstellung leiten, daß es – bereits im Fernsehen – weder Raum noch Bild gibt, sondern einzig elektronische Leitungen..." Und deshalb bereitet es auch keine Schwierigkeiten, auf Probleme des Digitalen in Begriffen zurückzukommen, die Deleuze selbst eingeführt hatte. Denn hatte nicht bereits Bergson die Indeterminations-Zone, die den Bildern eine erste Ebene der Virtualität eintrug, mit dem Leitungsgewirr und den Schalttechniken einer Telefonzentrale verglichen? Und war damit nicht eine "Immedia" angesprochen oder nicht vielmehr die Medialität "selbst"?

Hier steht anderes zur Diskussion als nur die Frage, ob sich "digitale" Filme einfacher und billiger herstellen lassen als in tradierten Techniken. All das bedeutet nichts, denn es berührt noch nicht die entscheidende Frage, die über eine Ökonomie der Kosten hinausführt. In den "neuen" Bildern setzt sich die Virtualität des Zeit- Bildes in einer Weise frei, die ins Innere des ökonomischen Zeitdiktats selbst führt. Wie Wenders zeigt, hört der Film zwar auf, wo das Geld zu Ende ist. Doch eben darin besteht auch die eminente Rolle des Zeit-Bilds; wie Deleuze zeigt, ist "ein und dieselbe Operation, durch die der Film seine innerste Voraussetzung, das Geld, bekämpft und durch die das Bewegungs-Bild dem Zeit-Bild Platz macht." 80 Deshalb ist das Digitale auch weder einfach Bild noch einfach Zeichen, weder Werkzeug noch Medium, das lediglich Kosten dämpfen würde. Zwar kann es in diesen Bedeutungen auftreten, doch damit ist das Zentrum der Frage noch nicht berührt: welche andere Zeitlichkeit wird im Zeit-Bild sichtbar, sobald es im "Ohne des reinen Einschnitts" erscheint? Und zwar über alle begrenzten Verfügungen einer "Ökonomie der Zeit" hinaus?

Uploaded Image: pfeil.gif 5.9 Die Unmotivierte der Semiologie

  79 Deleuze II, S.339.
80 Deleuze II, S.108.






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