[View]  [Edit]  [Attachments]  [History]  [Home]  [Changes]  [Search]  [Help] 

3.5 Zeitbrüche

len
<-Index

Zeitbrüche. Aber wie gesagt, solchen Fragen wird auf "direktem" Wege nicht näherzukommen sein. Denn bisher wurde nicht einmal die Ordnung des Bewegungs- Bildes annähernd ausgeschöpft. Zwar setzte sich die Räumlichkeit der Wahrnehmung mit der Zeitlichkeit der Aktion in Beziehung. Zwar durchliefen die Bilder bereits jene Indeterminations-Zone, die sie mit einer bestimmten Virtualität skandierte und deshalb bereits, wenn auch "indirekt", die Zeit zur Geltung brachte. Doch wird es zuvor mehr noch darum gehen, jene "andere" Linie der Bilder zu verfolgen, die sich bei Deleuze im Anschluß an Bergson eröffnet. Denn wie steht es mit dem Affekt? Wie mit dem Gedächtnis und der Erinnerung? Wie mit dem Traum? Wie also steht es um das, was von der Indeterminations-Zone an den sensomotorischen Apparat nicht durchgestellt wird, was zurückgehalten wurde und deshalb als "Virtuelles" in jeder Wahrnehmung interferieren kann, sich in ihr aktualisieren läßt und ihr selbst als Virtualität einträgt? Bisher ist die Frage nach der Zeit also nur oberflächlich gestellt worden. Sie wird präzisiert werden müssen: nicht nur, um die Ordnung des Bewegungs-Bildes klarer zu fassen; sondern vor allem, um deutlich zu machen, daß mit der Zeit etwas ins Spiel gekommen ist, was sich, wie Bergson erklärt, von der zeiträumlichen Bewegung nicht nur graduell, sondern wesentlich unterscheidet. Unvermeidbar wird also die Frage nach dem, was bei Bergson "Dauer" heißen wird. Sie ist, wie Deleuze schreibt, "wesentlich Gedächtnis, Bewußtsein, Freiheit. Bewußtsein und Freiheit ist sie, weil sie in erster Linie Gedächtnis ist. Nun besitzt aber bei Bergson diese Identität von Gedächtnis und Dauer immer zwei Gesichter: 'Aufbewahrung und Anhäufung der Vergangenheit in der Gegenwart'". 32

Um diese beiden Gesichter der Zeit wird es nämlich gehen, wo Deleuze nach dem Zeit-Bild fragt, um einer bestimmten Einfalt zu begegnen. Denn nichts wäre einfacher als die Behauptung, Vergangenheit sei bloß vergangene Gegenwart, und nichts läge von hier aus näher als die These, das Gedächtnis bestünde darin, diese vergangene Gegenwart zurückzurufen. Insofern vielleicht eine Angelegenheit für Psychologen, könnte man aber die entscheidende Frage kaum gründlicher verfehlen. Die Auskunft erklärt nichts. Denn warum bleibt die Gegenwart nicht Gegenwart? Was läßt sie vielmehr vergehen? Was hat sie also bereits in sich zur Vergangenheit ihrer selbst werden lassen, was läßt sie also nur als Differenz zu sich selbst zu? Und wie kann Deleuze deshalb davon sprechen, daß sich die Vergangenheit in der Gegenwart aufgewahrt und anhäuft? Wie "gibt" sich die Zeit? Diese Frage führt nicht nur weiter als der simple Verweis auf ihr angebliches "Vergehen". Bei Bergson und Deleuze führt sie vielmehr in eine Zeitlichkeit des "Vergehens" selbst ein, um sie als Dauer zu denken. Und in jeder denkbaren Weise wird man dabei über die bisherigen Hinweise auf Schalttechniken einer Indeterminations-Zone auch hinausgehen müssen.


Um so hilfreicher dürfte es sein, sich diesen Fragen selbst auf einem Umweg anzunähern. Die Filme Wim Wenders' treiben nicht nur Bewegung und Bewegungs-Bild in bestimmter Weise über sich hinaus. Zugleich – und um die Differenzen dieses Zugleich wird es gehen – zugleich also führen sie Erinnerungsbilder ein, Traumbilder, virtuelle Bilder, die mit bestimmten Bewegungen einer bestimmten Narration gebrochen haben, um die Zeit ins Spiel zu bringen. Was also widerfährt den Bildern "am Ende der Welt" und darüber hinaus? Wird die Zeit sich in ihnen anschaulich werden? Und welche Fragen könnten von hier aus an Wim Wenders gerichtet werden?


Uploaded Image: pfeil.gif 4.0 Fragen an Wenders

  32 Deleuze: Bergson zur Einführung, ebd., S.69.






Links to this Page