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2.6 Teilung der Zeit

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Teilung der Zeit. Nicht anders verschiebt der Film die Logik der Wahrnehmung; und deshalb beschreibt er keine Technik, die sich einer "natürlichen Wahrnehmung" entgegensetzen ließe. Jede Wahrnehmung resultiert aus einer Abschwächung oder Unterbrechung des mechanischen Zusammenhangs der Bilder. Sie entspringt einem Bruch, der sich als Indeterminiertheit ins Gefüge von Ursachen und Wirkungen einzeichnet. Wahrnehmung rührt aus dieser Abschwächung oder Subtraktion der Bilder. Sie zeichnet sich in der indifferenten Ordnung mechanischer, blind agierender und reagierender Bilder als spezifische Differenz ein. Nicht in Begriffen einer transzendentalen Philosophie, sondern zunächst strikt medientechnisch wird sie in Bergsons "Vitalismus" gedacht: "Das Gehirn ist also nach unserer Ansicht nichts anderes als eine Telefonzentrale: seine Aufgabe ist, 'die Verbindung herzustellen' – oder aufzuschieben. Es fügt dem, was es empfängt, nichts hinzu; aber da alle Wahrnehmungsorgane mit ihren letzten Enden in ihm münden und alle motorischen Mechanismen des Rückenmarks und des verlängerten Marks ihre befugte Vertretung in ihm haben, so ist es in Wahrheit eine Zentralstelle, wo der periphere Reiz Anschluß an diesen oder jenen motorischen Mechanismus gewinnt, den er sich jetzt wählt und nicht mehr aufdrängen läßt. Da sich aber in dieser Substanz eine ungeheure Menge motorischer Bahnen auftun können und zwar alle zugleich für ein und denselben peripheren Reiz, so hat dieser Reiz die Fähigkeit, sich ins Unendliche zu teilen und sich folglich in unzähligen bloßen Ansätzen zu motorischen Reaktionen zu verlieren." 17 Ist es zufällig, daß sich in Bergsons "alle zugleich" das "Zugleichsein" Kants zu wiederholen scheint? Wie korrespondiert dieses Zugleich mit dem Unendlichen der Teilung? Und was bedeutet das für die "herausgehobenen Momente" des Bewegungs-Bilds, also den Film? Zumindest fällt auf, daß Bergsons Ästhetik des Virtuellen, auf die sich Deleuze beruft, in einer Terminologie vorgetragen wird, die zunächst dem Universum optischer Medien entlehnt ist. Doch sogleich wird diese erste Terminologie von einer zweiten überlagert, die aus der Welt elektrischer Medien und spezifischer Schalt-Techniken stammt. Die Einschnitte, in denen sich die Bilder in eine reelle und eine virtuelle Wirkung aufspalten, führen sich durch eine Vermittlungsinstanz ein, die Bergson mit einer Telefonzentrale vergleicht: sie stellt Reize durch oder hält sie zurück und führt damit eine Zeitlichkeit ein, die das Bewegungsbild skandiert. Die Reize werden nämlich nicht nur verteilt; nicht weniger unterliegen sie einer Teilung. Die Indeterminiertheit, so wiederholt Bergson ausdrücklich, wird "in einer Reflexion der unsern Körper umgebenden Bilder zum Ausdruck auf sich selbst oder vielmehr in einer Teilung dieser Bilder zum Ausdruck kommen..." 18 Alle Probleme des Intervalls spitzen sich hier zu – und mit ihnen die Frage nach der Zeit. Sie betrifft das Verhältnis von Vermittlung und Aufschub, von Verteilung und Teilung oder von Reellem und Virtuellen. Auf der einen Seite gibt es nämlich eine Wahrnehmung, die mit dem Objekt zusammenfällt; wie Deleuze in seiner Bergson- Monografie schreibt: "Wir nehmen die Dinge dort wahr, wo sie sind, die Wahrnehmung versetzt uns von vorneherein in die Materie hinein, sie ist a-personal und läuft mit dem wahrgenommenen Objekt zusammen." 19 Auf der anderen Seite aber hat der empfangene Reiz eine Indeterminations-Zone durchlaufen, die eine Re-Aktion zurückhält und sie einem Virtuellen zuordnet, das sich von Fall zu Fall, in bestimmten Bildern nämlich, erneut aktualisieren wird: in den Erinnerungen etwa, den Träumen... Anders gesagt: die Differenz schreibt sich im Gedächtnis oder als Gedächtnis nieder. Und damit hat sich bereits eine Zeitlichkeit angekündigt, die der Mechanik beliebiger Zeitpunkte nicht mehr unterliegt. In ihr machen sich alle Beziehungen zwischen dem Bild und dem Virtuellen geltend. Denn hier findet nicht nur das Wahrnehmungs- Bild seinen Ur-Sprung, sondern auch jedes andere der Bilder: buchstäblich zerspringt das Bewegungs-Bild in eine Typologie differenter Bilder. In ihrem Medium wird Deleuze deshalb die Taxonomie des Films realisieren: Wahrnehmungsbild, Aktionsbild, Triebbild, Affektbild, Erinnerungsbild, Traumbild... alle Bildtypen, in denen sich das Bewegungs-Bild des Films als offenes System herstellen wird, sind auf ihre Weise bereits vom Gedächtnis, vom Virtuellen oder einer bestimmten Zeitlichkeit affiziert.
Doch um so mehr zeichnen sich hier auch Fragen ab, die eine genauere Analyse der Beziehungen von Zeit und Bild herausfordern und sich im übrigen auch an Deleuze richten lassen. Die eine betrifft die Zeitanalyse Bergsons, an die Deleuze anknüpft. Offenbar erweist sie jede Gegenwart als "ursprünglich" in sich gespalten, wenn sie sich von Anfang an in die Aktualität des Sensomotorischen und die Virtualität des Gedächtnisses teilt. Und doch, denkt Bergson die Zeit damit nicht noch immer vom Privileg der Gegenwart her? Und bleibt dies in bestimmter Hinsicht nicht unzureichend, wie Heidegger zu Bergson anmerkt? 20 – Eine zweite Frage betrifft, davon ausgehend, das Verhältnis zwischen den Ver-Teilungen und den Teilungen der Bilder. Wäre es völlig abwegig, dieses Verhältnis auf die Beziehungen von analogen zu digitalen Techniken oder Zeichen zu beziehen? Und legt Bergson diesen Schluß nicht selbst nahe, wenn er die Indeterminiertheit, die sich mit der Zeitlichkeit einführt, in Begriffen einer Schalttechnik faßt, die weniger optischen Medialitäten des Bildes als vielmehr differentiellen Techniken der Telekommunikation, weniger dem "Analogen" als dem "Digitalen" entlehnt sind? Könnte von hier aus nicht auf eine gewisse Nähe des Bewegungs-Bilds zum analogen, des Zeit-Bilds zum digitalen Zeichen geschlossen werden? Deleuze wird diesem Schluß zwar widersprechen, und es sind nicht die schlechtesten Gründe, die er anführt. Aber immerhin, bereits hier wird absehbar, wie sehr auch nach dem Digitalen im Horizont einer Analyse der Zeit und des Zeit-Bildes zu fragen sein wird.

Uploaded Image: pfeil.gif 2.7 Einschub zur Metaphorologie

  17 Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Meiner 1991, Einleitung S.I., S.14f.

18 ebd., S.52.

19 Gilles Deleuze: Bergson zur Einführung, Hamburg: Junius 1989, S.38.

20 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1989, S.328f.






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