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2.5 Differenz der Wahrnehmung

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Differenz der Wahrnehmung. Man wird allerdings einen Schritt zurücktreten müssen. Alles kommt darauf an, das Bewegungs-Bild zunächst daraufhin zu analysieren, was es in ein Wahrnehmungsbild übergehen läßt, um es aus der Bewegung "hervorzuheben". Denn zunächst gibt es nur das Bewegungs-Bild; und der erste Zeuge, den Deleuze aufruft, heißt Henri Bergson, der in Materie und Gedächtnis schreiben konnte: "Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von 'Bildern'. Und unter 'Bild' verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist als was der Idealist 'Vorstellung' nennt, aber weniger als was der Realist 'Ding' nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem 'Ding' und der 'Vorstellung' liegt. Diese Auffassung der Materie ist ganz einfach die des gesunden Menschenverstandes." 14 Bergson siedelt die Bilder also nicht mehr auf der Oberfläche der Dinge an, hinter der sich ein "Ding an sich" oder ihr "Wesen" verbergen würde. Vielmehr gibt es nur Bilder, die aufeinander einwirken. Die Bilder umfassen nicht mehr die "äußere Erscheinung" der Materie, sie sind die "Materie selbst"; und was man Naturgesetze nennt, beschreibt lediglich die Regularien, in denen sie aufeinander einwirken. Und das sind bereits Begriffe, die der Film hervorbringt. Was nämlich gibt sich in ihm zu sehen? Tatsächlich beschreibt das Bewegungs-Bild Bergsons zunächst die "objektive" Welt der Naturwissenschaften, wie sie sich "vor" jeder Wahrnehmung verhält; mehr noch: in dieser Perspektive stellen sich auch Körper und Gehirn nur als Bilder dar, die in Beziehung zu anderen, sie umgebenden Bildern stehen. Bilder "vor" aller Wahrnehmung also; oder eine Engführung von Licht, Bewegung und Sein. Wie aber ist dann Wahrnehmung zu denken? Wie kann das Wahrnehmungsbild – die Aufzeichnung von Bildern, ihr Auftauchen in einer kadrierten, gerahmten oder repräsentativen Ordnung – aus dem Bewegungs-Bild hervorgehen? Bei Bergson führt sich diese Möglichkeit im Intervall einer Differenz ein, die bei ihm den Titel des Spontanen trägt und bemerkenswerter Weise einer Schwächung der Bilder korrespondiert: "Der Zusammenhang, in dem die Bilder untereinander stehen, ist der indifferente einer rein mechanischen Bewegung, sie wenden einander alle ihre Seiten auf einmal zu, d.h. sie wirken und reagieren mit allen ihren Elementen auf einander, und folglich wird keines von ihnen zur Wahrnehmung, und keines nimmt bewußt wahr. Stoßen sie aber irgendwo auf ein Etwas, das mit einer gewissen Stärke spontan reagiert, so wird ihre Wirkung in demselben Maße geschwächt, und diese Verringerung ihrer Wirkung ist gerade unsere Vorstellung von ihnen. Unsere Vorstellung von den Dingen würde also letzten Endes daher stammen, daß die Dinge sich an unserer Freiheit brechen." 15

Offensichtlich beschreibt die Wahrnehmung einen Bruch, in dem sich das Moment einer bestimmten "Freiheit" ankündigt. Und darin besteht, was Bergson dem Denken zumutet. Dieser Bruch läßt sich in der "natürlichen Wahrnehmung" eines "Subjekts" nämlich nicht mehr fundieren. Vielmehr markiert er, was jeder "natürlichen Wahrnehmung" als téchne vorausgegangen sein muß oder jede Wahrnehmung als technisch ausweist. Vor allem beschreibt er also technische Transformationsregeln, die eine beliebige Wahrnehmung aus dem Bewegungsbild auftauchen lassen. Spontan, also frei, ist, was sich von selbst ereignet, autómaton oder "automatisch". Gerade Bergson, dessen "Vitalismus" jeder Aufspaltung des Wirklichen in unbewegliche Segmente widerspricht, läßt deshalb keinen Zweifel daran, daß "Freiheit" ebenso medial wie technisch zu denken sein wird. Nicht zufällig beruft er sich auf Photogramme des Bewegungs-Bildes, wo er die Möglichkeit einer solchen Unterbrechung denkt. Gäbe es einen bestimmten Widerstand nicht, so notiert er, dann bliebe "die Photographie des Ganzen Licht, denn es fehlt die Platte, auf der das Bild aufgefangen wird. Unsere Zonen der Indeterminiertheit übernehmen sozusagen die Rolle dieser Platte. Sie fügen dem Vorhandenen nichts hinzu; sie bewirken nur, daß die reelle Wirkung durchgeht und die virtuelle bleibt" 16. Damit führen sich Freiheit oder Indeterminiertheit medientechnisch als Aufzeichnungsapparatur ein, die den mechanischen Prozeß von Einwirkung, Aktion und Reaktion der Bilder unterbricht. Anders gesagt, durchläuft das Bewegungs-Bild im Medium der "fotografischen Platte" eine Spaltung in Reelles und Virtuelles. Sofern die reelle Wirkung hindurchgeht, kommt sie einer Aktion gleich, die auf den empfangenen Reiz zurückwirkt. Diese Aktion treibt den Körper, selbst Bild unter Bildern, dazu, eine Veränderung in den Bildern vorzunehmen oder auf sie einzuwirken. Keinen Augenblick wird die Beziehung von Bild und Bewegung dabei aufgelöst; Wahrnehmung ist vom sensomotorischen Apparat nicht zu trennen. Aber vor allem ist diese Aktion bereits durch Zonen einer Indeterminiertheit hindurchgegangen, in der sich der Reiz auch in anderen, virtuell gebliebene Handlungen zurückhält. Aktionsbild und Virtuelles zeugen insofern, wenn auch noch in indirekter Weise, von einer Zeitlichkeit, die sich nicht nur mit der Wahrnehmung eingeführt, sondern sie vor allem eröffnet hat.

Uploaded Image: pfeil.gif 2.6 Teilung der Zeit

  14) Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Meiner 1991, Einleitung S.I.

15) ebd., S.21f.

16) ebd., S.24.






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