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5.1 Im Lauf der Zeit

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Im Lauf der Zeit. Doch gerade diese irrige Vorstellung sukzessiver Gegenwarten drängt sich auf, solange man von der Bewegung ausgeht. Unaufhörlich scheint die Zeit hier in der Gegenwart einzusetzen und in die Vergangenheit überzuleiten, um zur "vergangenen Gegenwart" zu werden. Unaufhörlich scheint es sich bei der Zeit also um eine "Sukzession von Gegenwarten" zu handeln. Tatsächlich aber erklärt diese Vorstellung gar nichts, denn sie rührt nicht einmal an das "Phänomen" der Zeit. Im Grunde entspringt sie lediglich einer bestimmten Gewohnheit (die sich denn im landläufigen Geschwätz von den "zeitbasierten Medien" auch Ausdruck verschafft). Wie Deleuze mit Bergson erklärt, sind wir "einfach zu sehr gewohnt, in Termen des 'Gegenwärtigen' zu denken. Wir glauben, ein Gegenwärtiges sei erst dann vergangen, wenn es von einer anderen Gegenwart ersetzt worden ist. Aber bedenken wir doch einmal: Wie sollte eine neue Gegenwart auftauchen, wenn nicht die alte Gegenwart, die aber gegenwärtig ist, im gleichen Atemzug verginge. Das Vergangene könnte sich niemals konstituieren, wenn es sich nicht schon vorweg, zu dem Zeitpunkt, an dem es gegenwärtig war, konstituiert hätte. Dies ist gleichsam das Grundverhältnis der Zeit und das größte Paradox des Gedächtnisses: Die Vergangenheit ist eine Zeitgenossin der Gegenwart, die gewesen ist." 60

In dieser "Zeitgenossenschaft" von Vergangenheit und Gegenwart zeigen sich alle Schwierigkeiten, vor die Deleuze in seiner Analyse des Zeit-Bilds stellt. Die Gegenwart erweist sich als "gleichursprünglich" mit der Vergangenheit oder als in sich gespalten. Die Gegenwart "ist" bereits Vergangenheit, könnte sie doch anders nie einer anderen Gegenwart Platz machen und Zeit "vergehen" lassen. Die Gegenwart muß sich bereits in ihrer eigenen Vergangenheit verdoppelt haben, um Gegenwart sein zu können: anders wäre nicht einmal erklärbar, daß Zeit "vergeht". Und dies kehrt die Beziehungen von Vergangenheit und Gegenwart bereits um. Damit Gegenwart "möglich" ist, muß es Vergangenheit geben, und zwar vor jeder Aktualität einer Gegenwart. "Mithin gibt es eine 'Vergangenheit im allgemeinen', die nicht die besondere Vergangenheit dieser oder jener Vergangenheit, sondern gleichsam ein ontologisches Element ist, eine ewige, allzeitige Vergangenheit, die Bedingung, daß jede besondere Gegenwart den 'Durchgang' zum Vergehen finden kann. Dies ist die Vergangenheit, die alle Vergangenheiten ermöglicht. Wir versetzen uns, sagt Bergson, erst einmal in die Vergangenheit im allgemeinen, und damit beschreibt er nichts anderes als den Sprung in die Ontologie. Wir springen wirklich ins Sein, ins Sein an sich, ins Sein an sich des Vergangenen." 61 Auch bei Bergson, nicht erst bei Heidegger, erscheint das Sein deshalb im Ausgang von der Zeitlichkeit. Zeit geht nicht mehr aus der Bewegung hervor, sie ist nicht mehr deren abgeleitetes Moment und deshalb auch keine Sukzession der Bewegung. Sie geht der Bewegung voraus und damit auch der Zeit, insofern sie ihr eigenes Vergehen ist. Und dies wird weit reichende Konsequenzen für die Bewegung der Erinnerung oder den Status der Erinnerungsbilder haben.

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  60 Deleuze: Bergson zur Einführung, ebd., S.78.
61 ebd., S.75f.






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