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Die photographische Funktion bei Bergson

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  aus: MG


Die ganze Schwierigkeit des Problems, mit dem wir uns beschäftigen, rührt daher, daß man sich die Wahrnehmung als eine Art photographischer Ansicht der Dinge vorstellt, welche von einem bestimmten Punkte mit einem besonderen Apparat - unserem Wahrnehmungsorgan - aufgenommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz durch einen unbekannten chemischen und psychischen Vorgang entwickelt zu werden. Aber warum will man nicht sehen, daß die Photographie, wenn es überhaupt eine Photographie ist, von allen Punkten des Raumes aus im Innern der Dinge schon auf genommen und schon entwickelt ist? Keine Metaphysik, nicht einmal die Physik kann sich dieser Schlußfolgerung entziehen. Baut man das Universum aus Atomen auf: in jedem Atom machen sich, qualitativ und quantitativ mit der Entfernung variierend, die Wirkungen bemerkbar, die alle materiellen Atome ausüben. Baut man es aus Kraftzentren auf: die Kraftlinien, die von jedem einzelnen Zentrum nach allen Richtungen ausgesendet werden, leiten die Einflüsse der gesamten materiellen Welt auf jedes einzelne Zentrum hin. Und baut man endlich aus Monaden: jede Monade ist nach Leibniz ein Spiegel des Universums. Man ist sich also über diesen Punkt völlig einig. Nur liegt, wenn man einen beliebigen
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Punkt im Weltall betrachtet, die Sache so, daß die Wirkung der gesamten Materie ohne Widerstand und ohne Verlust hindurchgeht; dann bleibt die Photographie des Ganzen Licht, denn es fehlt die Platte, auf der das Bild aufgefangen wird. Unsere Zonen der Indeterminiertheit übernehmen sozusagen die Rolle dieser Platte. Sie fügen dem Vorhandenen nichts hinzu; sie bewirken nur, daß die reelle Wirkung durchgeht und die virtuelle bleibt. Das ist keine Hypothese. [...]



Siehe aber auch:


Netzhaut in den Punkten a, b und c treffen. In diesem Punkte lokalisiert die Wissenschaft Schwingungen von einer gewissen Amplitude und einer gewissen Dauer. In diesem selben Punkte P nimmt das Bewußtsein Licht wahr. Wir
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wollen nun im Verlauf dieser Untersuchung zeigen, daß beide Recht haben und daß kein wesentlicher Unterschied zwischen diesem Licht und jenen Bewegungen besteht, vorausgesetzt daß man der Bewegung die Einheitlichkeit, Unteilbarkeit und qualitative Heterogenität wiedergibt, welche eine abstrakte Mechanik ihr abspricht, und weiter vorausgesetzt, daß man die Empfindungsqualitäten als Kontraktionen auffaßt, die von ,unserem Gedächtnis geleistet werden: Wissenschaft und Bewußtsein würden so für den reinen Moment zusammenfallen. Sagen wir vorläufig ganz schlicht, ohne den Sinn der Worte zu tief zu fassen, daß der Punkt P der Netzhaut Lichterschütterungen zusendet. Was wird geschehen? Wenn das visuelle Bild des Punktes P nicht gegeben wäre, dann müßten wir zu erforschen suchen, wie es sich bildet, und dann ständen wir sehr bald vor einem unlösbaren Problem. Aber wie man auch vorgehen will, man kommt nicht darum herum, das visuelle Bild von Anfang an zu setzen: die einzige Frage ist also, warum und wieso gerade dieses Bild ausgewählt und in meine Wahrnehmung einbezogen wurde, da doch unendlich viele andre Bilder ausgeschlossen bleiben. Nun sehe ich, daß die Erschütterungen, welche vom Punkte P auf die verschiedenen Zellen der Netzhaut ausgehen, den subkortikalen und kortikalen Sehzentren, zuweilen auch anderen Zentren zugeleitet werden und daß diese Zentren sie manchmal an motorische Mechanismen weitergeben und manchmal sie fürs erste festhalten. Welche Wirksamkeit die empfangene Erschütterung bekommt, wird also davon abhängen, welche Elemente des Nervensystems beteiligt sind; in ihnen symbolisiert sich die Indeterminiertheit des Willens; von ihrer Integrität hängt diese Indeterminiertheit ab, und folglich muß jede Verletzung dieser Elemente, in dem sie unsere Aktivität verringert, in gleichem Maße unsere Wahrnehmung verringern. Mit anderen Worten, wenn es in der materiellen Welt Punkte gibt, wo die empfangenen Erschütterungen nicht mechanisch weitergeführt werden, wenn es Zonen der Indeterminiertheit, wie wir sie nannten, gibt, müssen diese Zonen auf dem Wege des sensorisch- motorischen Prozesses genau wie Trajekte fungieren; und des-
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halb wird alles so vor sich gehen, als ob die Strahlen Pa, Pb, Pc an dieser Stelle des Weges wahrgenommen und dann in den Punkt P projiziert würden. Ja noch mehr: während diese Indeterminiertheit sich ihrer Natur nach dem Experiment und der Berechnung entzieht, so ist dies nicht mit den Elementen des Nervensystems der Fall, von denen der Eindruck aufgenommen und weitergeführt wird. Diese Elemente sind es also, mit denen sich die Physiologen und Psychologen werden beschäftigen müssen, nach ihnen richten und aus ihnen erklären sich alle Einzelheiten der äußeren Wahrnehmung. Man kann dann, wenn man will, sagen, daß der Reiz, nachdem er diese Elemente durchlaufen und das Zentrum erreicht hat, sich hier in ein bewußtes Bild umsetzt, das alsdann nach außen in den Punkt P verlegt wird. Aber wenn man so formuliert, tut man es nur, weil man unter dem Zwange der wissenschaftlichen Methode steht; der wirkliche Vorgang wird damit in keiner Weise beschrieben. In Wirklichkeit gibt es kein unausgedehntes Bild, daß sich im Bewußtsein bildet und dann in den Punkt P projiziert wird. Die Wahrheit ist die, daß der Punkt P, die Strahlen, die er aussendet, die Netzhaut und die beteiligten Elemente des Nervensystems ein solidarisches Ganzes bilden, in dem der Punkt P ein Teil ist, und daß im Punkte P, und nirgends anders, das Bild von P gebildet und wahrgenommen wird.



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