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5.5 Vorweg der Zeit

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Vorweg der Zeit. Nicht also, daß sich das Zeit-Bild auf solche Milieus, auf die Italiens, Frankreichs oder Deutschlands einfach zurückführen ließe. Kein Bild ist einfach "Ausdruck" seiner Umstände. So sehr es sich in bestimmten Milieus ankündigt, so wenig erschöpft es sich darin, diese Milieus bloß wiederzugeben. Aber ebenso wenig umschreiben der Nationalsozialismus, die Vernichtung, der zweite Weltkrieg einfach ein "Milieu". Der Nationalsozialismus und sein Krieg werden zur namenlosen Katastrophe, weil sich in ihm Bewegung und Bilder ins Entsetzlichste kehren konnten. So müßte man die verbürgten Äußerungen, in denen sich Hitler als Konkurrent Hollywoods zu erkennen gibt, über ein Studium individueller Psychopathologien hinaus ins Innere eines Systems hinein verfolgen, das den Film unmittelbar in Krieg, Terror und Vernichtung übergehen läßt. In bestimmter Hinsicht ging es darum, des Unendlichen der Zeit habhaft zu werden, sie in einer Bewegung zu absorbieren – oder in Abbildern und Leitbildern zu inszenieren, die zu beherrschen das Geheimnis der Herrschaft selbst darstellt. Und deshalb tritt an den äußeren Rändern dieser "politischen" Katastrophe, in der Bewegung, Zeit und Bilder vor allem selbst zerstört werden sollten, die Frage nach der Zeitlichkeit um so virulenter hervor. Es gibt keine Unschuld der Bilder, denn sie könnte immer nur darin bestehen, der Zeit habhaft zu werden, anstatt sie sich ereignen zu lassen. Um auf die äußersten Gewalten zu antworten, die hier ins Spiel kommen, wird es deshalb auch nicht ausreichen, sie "anti-faschistisch" instrumentalisieren, und schon gar nicht, sie in der Moralität eines "Autoren-Subjekts" begründen zu wollen. Entscheidend wird, ob die Zeit dazu verhalten ist, bloßes Moment der Bewegung zu bleiben, oder ob sie sich als Virtualität einführen wird, die mit der Bewegung bricht. Und dies definiert, über die "Milieus" hinaus, die Immanenz eines Problems, vor dem das Kino als Frage des Zeit-Bildes nach 1945 seinem Wesen nach steht. Dies betrifft keine politische, sondern vor allem eine "ontologische" Frage. Sie zielt auf die Zeitlichkeit einer Zeit, die sich einer einfachen Bewegungslogik entwunden hätte. Wie also ist dieses Bild der Zeit zu denken? Wie stellt es sich dar? Und vor allem: wie ergibt oder gibt sich in ihm jenes "Vorweg" der Zeit, in dem sich die Gegenwart "von Anfang an" als gespalten oder als "ur-sprünglich" im Wortsinn erweist? Um es deshalb erneut zu wiederholen: ebenso wie Bergson faßt Deleuze dieses "Vorweg" als Funktion des Gedächtnisses oder einer reinen Virtualität, die aus einer unvordenklichen Vergangenheit "im allgemeinen" auftaucht. Sie setzt jene Virtualitäten frei, die auch die Zukunft öffnen und als unvorhersehbares Spiel von Möglichkeiten freigeben. Doch um welches Paradox des Gedächtnisses handelt es sich hier? Wie Deleuze in seiner Auseinandersetzung mit den Filmen Mankiewicz' schreibt, hat man es "keineswegs mit einem konstituierten Gedächtnis als einer Funktion der Vergangenheit zu tun, die in Wiedergabe und Erzählung besteht; vielmehr sind wir Zeugen der Entstehung des Gedächtnisses als Funktion des Zukünftigen, welches das Sich-Ereignende behält, um daraus den zukünftigen Gegenstand des anderen Gedächtnisses zu machen" 73. Zunächst bleibt diese Wendung rätselhaft. Denn wie "behält" das Gedächtnis das Ereignis, um es zur Funktion des Zukünftigen zu machen? Denn gewiß, das Gedächtnis behält, wie Deleuze sagt, auch das Sich Ereignende, das die Gegenwart ur-sprünglich in sich gespalten hat und ein Vergehen der Zeit ermöglicht. Doch worin besteht jenes "Ereignis selbst", das diese Spaltung wie eine Spur hinterläßt, und zwar vor allem Behalten?

Uploaded Image: pfeil.gif 5.6 Fragen an Deleuze III

  73 Deleuze II, S.74.






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