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kairós



Autor: Bernhard H.F. Taureck
Latinisierung und Latenz

Für Antje Eske und für Kurd Alsleben zum Geburtstag
Von ihrem Freund Bernhard H.F.Taureck


Liebe Antje, lieber Kurd,

ihr beide habt das Zwischen, das Inter als Ort der bedeutungsstiftenden Wechselseitigkeit sprachlicher° Begegnungen neu entdeckt, neu bedacht, neu bearbeitet, neu kultiviert. So fanden wir zueinander, so kooperierten wir, so werden und so wollen wir beisammen bleiben!

Ich will kurz sein in meinem Grußwort und eigentlich nur zweierlei andeuten. Das Erste ist die heute zu beobachtende semantische Latinisierung unserer Welt und Bezüge. Das Zweite, ja, was ist das Zweite? Im Unterschied zur überall erkennbaren Latinisierung handelt es sich um etwas Unsichtbares, vielleicht Geheimnisvolles, in jedem Fall um etwas Latentes. Ich werde gleich versuchen, darauf einzugehen.

Zunächst zur Latinisierung unserer Welt. Latein ist eine kaum noch bekannte Sprache. Daher wird verkündet, das Englische sei die Weltsprache. Derrida weist jedoch darauf hin, dass eine umfassende Latinisierung vollzogen wird (Foi et Savoir, Seuoil, 2000, 47f.). Mit Recht, denn wie wollten wir uns verständigen, ohne Signifikanten zu benutzen wie die folgenden: Globalisierung, Information Digitalisierung, Imperium, Kommunikation, Kooperation, Produktion, Konsum, Operation, Intervention, Religion, Humanität, Bestialität, Brutalität, Faktum, Aktion, Konferenz, Sozialismus, Kapitalismus, Terrorismus, Militär, Potenzial, Passivität, Revolte, Revolution, Evolution, Kultur, Zivilisation, Rationalität, Emotionalität, Intelligenz - um bloß eine zufällige Auswahl zu treffen? In allen Fällen handelt es sich um lateinische Wörter mit lateinischen und sie weiterführenden Bedeutungen. Das Englische ist die Sprache, in der wir kommunizieren, seine Ressource ist das Lateinische. Es geht nicht darum, dass wir uns mit unserem Vokabular nicht mit Cicero oder Seneca unterhalten könnten und dass diese sich in unserer Welt nicht zurechtfänden.
Es geht darum, dass die sprachliche Haut des Planeten aus dem Material einer Sprache stammt, deren Verlöschen bereits im Italien der Renaissance festgestellt wurde. Die Sprachhaut der Erde ist nicht Latein, sondern sie besteht aus unserer Latinisierung im Zeitalter von Information, Kommunikation und Globalisierung. Je weiter die Humangeschichte sich vorwagt, je mehr sie die Existenzvoraussetzungen des genus humanum meint in Frage stellen zu müssen, desto mehr scheint sie dabei einer Gemeinsamkeit zu bedürfen, dessen sicherer Fundus (schon wieder Lateinisch!) die Sprache einer seit 2000 Jahren untergegangen Zivilisation bildet.
Niemand kann mehr Latein, aber der Weltbezug ist und wird weiter latinisiert. Englisch ist Weltsprache und seine Bezeichnungsgrundlage ist lateinisch. Nicht nur unsere Schrift ist Lateinisch, sondern unsere Semantik, und wir aktivieren sie immer weiter.
Man wende nicht ein, dass, wie die Bezeichnungen Geopolitik, Strategie, Basis und andere zeigen, das Griechische uns ebenso bestimmt wie das Lateinische. Die Gegenwart des Griechischen wird, wie bereits im römischen Reich, über das Lateinische geregelt. Das Lateinische bedient sich des Griechischen. Man wende auch nicht ein, dass Latein nicht tiefer eindringt. Sensibilität und Sensitivität sind ebenfalls lateinische Wörter.

Dennoch gilt, dass in dieser Allgegenwart des Lateinischen nicht alles zur Geltung kommt. Was aber kommt in unserem Globallatein nicht zur Geltung? Diese Frage führt auf jenes rätselhafte Zweite, von dem ich eingangs sprach. Es wird immer schwer sein es anzusprechen. Ohne das Zutun von Antje und Kurd hätte ich es wohl auch wieder verloren und vergessen. Das Zweite hängt nämlich zusammen mit einem Begriff und Wort, das nur im Alt-Griechischen besteht. Wenn man in dieser Sprache einen rechten Ort oder eine günstige Zeit bezeichnen wollte, so konnte man das Wort kairós verwenden. Das Adjektiv kaírios hieß dementsprechend "günstig", "rechtzeitig", aber auch "tödlich" im Sinn von "tödlich treffend". Wir wissen nicht genau, was kairós bedeutete. Sicher ist, dass es sich nicht im Lateinischen ausdrücken lässt. Auch die Etymologie ist unsicher: entweder gehört kairós zu k_ro, ich treffe oder zu keíro, ich schneide ab (kairós dann als Zeitabschnitt). Antje, Kurd und ich glauben – zumindest glaube ich, dass wir das glauben - dass es auch jene Konstellation meint, in welcher Bedeutung lustvoll in ihrer Überindividualität für die Individuen erscheint. Wenn wir nie wissen, ob wir dasselbe mit denselben Ausdrücken meinen und dies auch niemals objektiv prüfen können, so kann es gleichwohl geschehen, dass wir plötzlich irgendwie erleben, dass zu einer Zeit von verschiedenen Menschen dasselbe vorgestellt wird. Dies ist vielleicht das, was der Kunst zugrunde liegt: kairós als Zeit der gemeinsam geteilten Bedeutung. Vielleicht kannten die Sophisten diesen Moment. Das lateinische Wort communicatio dagegen bezeichnet die Weise der Mitteilung. In ihr kann der kairós auftreten oder ausbleiben. Keine Kommunikation ist Kairos-Garantie. Doch wo kairós ist, muss zuvor Kommunikation gewesen sein.
Kultur ist immer auch die Ermöglichung und die Möglichkeit des kairós. Ein kairós ist jedoch nicht beherrschbar und nicht planmäßig herstellbar. Weder ideologische Propaganda von oben noch auf kleinste gemeinsame Nenner aller zielende Medien im Besitz von wenigen erzielt gemeinsame Bedeutung. Was hier erreicht wird, ist nicht erfüllte gemeinsame Bedeutung, sondern etwas, was die Alten als kenón oder vacuum bezeichnet hätten. Propagierte Gemeinsamkeit von Bedeutung ist Vakuum und Parodie des kairós.

Ich schließe mit dem Wunsch, dass euer Kairos-Bewusstsein euch weiterhin empfänglich stimmt für das Glück des Kairos selbst!

°[bitte, synaesthetisch verstehen K.A.]



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