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5.3 "Rosebud"

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"Rosebud". Deshalb muß durch die "indirekten Bilder" hindurch das "direkte Bild" der Zeit gesucht werden. Es nimmt keine Umwege über abgeleitete Virtualitäten wie Erinnerung oder Traum. Es stellt sich nicht im Aufschub und einer Wiederkehr des Aufgeschobenen dar, sondern als das, was aufschiebt und wiederkehren läßt. Zwar entspricht auch das Zeit-Bild einer Bewegung, doch nur, indem es sich in Bewegungen freisetzt, die keiner konsekutiven Bewegungs-Anordnung mehr folgen. Im Zeit- Bild hat man es mit einem "Vorweg" der Vergangenheit zu tun, das die Gegenwart spaltet, sie in viele Vergangenheitsschichten übergehen läßt, und insofern mit auch einer Aktualität, in der sich diese Differenz zur "Gegenwart" zugespitzt hat. Alles in allem geht es um eine a-chronologische Zeit: "Dies sind die paradoxen Eigenschaften einer achronologischen Zeit: die Präexistenz einer Vergangenheit im allgemeinen, die Koexistenz aller Vergangenheitsschichten, die Existenz einer am meisten zusammengezogenen Stufe. Es ist dies eine Konzeption, die man in dem ersten großen Zeit-Film wiederfinden wird, in Welles' Citizen Kane." 64 Präexistenz, Koexistenz, Existenz: tatsächlich könnte man meinen, daß sich in dieser Trias die gesamte Ordnung des Bewegungs-Bilds umgekehrt hat. Schien im Bewegungs-Film alles in einer Gegenwart einzusetzen, die vergeht, um in einer diffusen "Vergangenheit" zu versinken, so hat das Zeit-Bild mit dieser Bewegungslogik gebrochen. Es taucht aus einer "Vergangenheit im allgemeinen" auf, die sich an keinen Namen binden läßt, und laute er auch "Rosebud". Denn so privilegiert er sein mag: dieser Name wird, um das Zeit-Bild in Szene zu setzen, als nichtig zerfallen; der Kinder- Schlitten, der den Aufdruck "Rosebud" trägt, wird in Rauch aufgehen, ohne Kane's Geheimnis preisgegeben zu haben; und ganz so entgleitet die Kristallkugel dem Sterbenden, um zu zersplittern und seine Schneeflocken wie in einem Gestöber aus Anfang und Ende zu zerstreuen. Das Zeit-Bild ist das Nichtige, und ebenso wie der Tod steht es deshalb nicht im Dienst einer Dialektik der Negation, die ein Resultat erarbeiten würde. Das Zeit-Bild "ist" das Zerbrechen jedes Resultats. Hegels Flug der Eule Minervas, die sich im Gewesenen des Wesens versichern will, wird gestrichen; oder das Aktionsbild der Dialektik war immer schon in sich geborsten. All dies kündigt sich in den Erinnerungen und Träumen erst an an. Weil auch sie einen "Kreislauf" beschreiben, vollziehen sie noch keinen definitiven Bruch mit einer Logik der Bewegung und der Aktion. Vielmehr stehen sie selbst noch an der Grenze einer Rückkehr zum Bewegungs-Bild, das sie gegebenenfalls mit neuen Reserven und Kräften ausstatten werden. Zwar hat sich der europäische Film deshalb, wie Deleuze sagt, sehr früh mit der Amnesie, der Hypnose, der Halluzination, dem Delirium, den Visionen Sterbender oder den Träumen und Alpträumen auseinandergesetzt: "Für den europäischen Film bildete all dies ein Mittel, mit den 'amerikanischen' Beschränkungen des Aktionsbildes zu brechen, an ein Mysterium der Zeit zu rühren und schließlich Bild, Denken und Kamera – ganz im Gegensatz zu der allzu objektiven Konzeption der Amerikaner – in ein und derselben 'automatischen Subjektivität' zu vereinen." 65 Aber weil der Kreislauf dieser Bilder nur indirekt an das Mysterium der Zeit rührt, konnte sich in ihnen noch nicht einholen, was sich im Problemtitel einer "automatischen Subjektivität" erst ankündigt – die reine Virtualität" einer "kristallinen" Zeit. Das Kristallbild. Vielleicht versteht man von hier aus besser, weshalb Erinnerung und Traum am Bewegungs-Bild zwar rütteln, seiner Logik aber nicht ohne weiteres entkommen können. Ihre "Kreisläufe" zeichnen ein indirektes Bild der Zeit, und auf deren direktes Bild treffen sie um so weniger, je größer diese Kreisläufe werden. Wahrnehmung, Sensomotorik, Erinnerung und Traum verfehlen ihre eigene Zeitlichkeit, indem sie ihre Kreisläufe ausweiten. Muß man, fragt Deleuze deshalb, "nicht eine entgegengesetzte Richtung einschlagen? Den kleinsten Kreislauf suchen, der als innere Grenze aller anderen Kreisläufe funktioniert und das aktuelle Bild an ein unmittelbares, symmetrisches, an ein Nachbild oder sogar ein Double bindet? Die größten Kreisläufe der Erinnerung oder des Traums setzen dieses enge Fundament, diese äußerste Spitze voraus, und nicht umgekehrt (...) Es entsteht dabei ein zweiseitiges Bild: ein aktuelles und ein virtuelles. Es ist, als ob ein Spiegelbild, ein Photo oder eine Postkarte ein Eigenleben gewönne, unabhängig würde und ins Aktuelle überginge, dann aber, sobald das aktuelle Bild im Spiegel wiederkehrte, wieder seinen Platz auf der Postkarte oder dem Photo annähme, also einer doppelten Bewegung von Befreiung und Verhaftung folgte." 66 Erst als diese "inneren Grenze" zeichnet sich das Kristallbild ab. Zwar scheint es gleichfalls einer Bewegung zu folgen, die einen unausgesetzten Platzwechsel zwischen Aktualität und Virtualität vollzieht. Doch tatsächlich handelt es sich hier um bloße Bewegung ebenso wenig, wie die "Gleichursprünglichkeit" von Gegenwart und "Vergangenheit im allgemeinen" eine solche Bewegung darstellte. Ganz anders zeigt sich im Kristallbild ein Differieren der Zeit, eine "Zeitlichkeit", die jede Bewegungswahrnehmung ebenso aufsteigen läßt und skandiert wie die Bilder der Erinnerung oder des Traums.

In keinem Fall trägt die Differenz der Gegenwart, ihre Spaltung in aktuelles und virtuelles Bild deshalb den Charakter eines "Imaginären", von dem die Psychoanalyse spricht. Bekanntlich zielt deren Verfahren darauf, im Spiegelbild verschiedene Stadien eines Narzißmus aufzusuchen, der sich im Spiegel zur Gänze eines Ego fügen will. Und immer besteht die analytische Aufgabe deshalb darin, das Imaginäre des Doppelgängers auf einen Signifikanten hin zu übersteigen: er spaltet das Imaginäre im "großen Anderen" des Symbolischen, um das "Subjekt" in die Ordnung des Begehrens einzusetzen und zugleich als "Subjekt" zu streichen. Zwar mag es von hier aus Affinitäten zwischen psychoanalytischen Begriffen und einer Logik des Action- Films geben, der solchen Begriffen mitunter sogar zu folgen scheint 67. Eine Taxonomie des Films, wie Deleuze sie vorschlägt, wird sich damit aber nicht begnügen können. Das Bewegungs- und Zeit-Bild einer Psychoanalyse zu unterziehen, wird stets darauf hinauslaufen, zur Semiologie eines Signifikanten und seiner Narrationen zurückzukehren – und handle es sich dabei auch um den "transzendentalen Signifikanten des Phallus" oder die Narrationen eines "Unbewußten" im Freud'schen Sinne. Die entscheidende Frage wird damit nämlich umgangen: was trennt Signifikanten und Signifikat selbst? Oder was setzt den Signifikanten ein? Was läßt ihn prozessieren, indem es ihn als Differenz von Signifikant und Signifikant iteriert?

Wenn Deleuze am "Imaginären" zweifelt, dann deshalb, weil eine Taxonomie des Films keinen Überschritt auf den Signifikanten, sondern auf die Zeit hin darstellt. Noch der "Signifikant" erweist sich als von ihrem Ereignis gezeichnet, und deshalb beschreibt er keine in sich geschlossene Ordnung des Symbolischen, so sehr sich die Psychoanalyse diese Vorstellung zu nutze macht. Auch der "Signifikant" resultiert aus einer Niederschrift der Zeit und, um noch genauer zu sein: aus deren Unterwerfung. Und wenn der einzige Beitrag der Psychoanalyse zum Kino, wie Deleuze sagt, "das alte, abgegriffene Thema der Urszene" ist, so läßt sich hinzusetzen: "Aber es gibt kein anderes Verbrechen als die Zeit selbst." 68

Uploaded Image: pfeil.gif 5.4 Einschub: Der Faschismus der Bilder

  66 Deleuze II, S.95f.
67 Vgl. etwa Hans-Joachim Lenger: Holografische Kriege. Zur 'Echtzeit' des Objekts. (Über Arnold Schwarzeneggers 'Predator'), Hamburg: material-Verlag 2003.
68 Deleuze II, S.56.






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