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5.2 Erinnerung, Traum, Gedächtnis

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Erinnerung, Traum, Gedächtnis. Wie immer es darum zunächst stehen mag: entscheidend ist, daß die Analyse des Zeit-Bilds den Bestimmungen des Bewegungs- Bilds nicht etwa nur neue Bestimmungen "hinzufügt". Vielmehr werden alle Bestimmungen, die für das Bewegungs-Bild gelten, in sich tiefgreifend verschoben. Sie kehren anders wieder, sobald sie einer Analyse der Zeit ausgesetzt werden.

Man könnte das zunächst für die Indeterminations-Zone des Gehirns festhalten. Sie teilte das Bewegungs-Bild in Wahrnehmung und zurückgehaltene Reize, verteilte sie also einerseits in eine Sensomotorik der Aktionen und schob sie andererseits als Virtualität möglicher Erinnerung auf. Bereits für die Sensomotorik gilt deshalb, daß sie einer Auswahl von Bewegungen entspricht und insofern vom Virtuellen gezeichnet war. – Noch mehr aber gilt für die Erinnerung, daß sie sich niemals darin wird erschöpfen können, etwas Vergangenes einfach in die Gegenwart zurückzurufen. Um etwas "vergehen" zu lassen, das sich erinnern ließe, muß "vorweg" eine dieser Gegenwart "gleichursprüngliche" Vergangenheit angesetzt werden, die Gegenwart überhaupt "vergehen" läßt und damit Erinnerung möglich macht. Anders gesagt: die Virtualität der Erinnerung muß bereits von einer "reinen Virtualität" gebahnt worden sein, und insofern ist es nicht in erster Linie das Erinnerungsbild, das "virtuell" ist. Vielmehr aktualisiert sich in ihm eine "reine Virtualität" der Zeit, ohne die es Erinnerungsbild nicht einmal sein könnte. Deshalb kann Deleuze, gestützt etwa auf Analysen der Filme Mankiewicz' und anderer, sagen, "daß das Erinnerungsbild nicht von selbst ein Vergangenheitszeichen besitzt, sozusagen eine von ihm repräsentierte und verkörperte 'Virtualität', durch die es sich von anderen Bildtypen unterschiede. Wenn das Bild zum 'Erinnerungsbild' wird, dann geschieht dies nur insoweit, als es nach einer 'reinen Erinnerung' dort suchte, wo sie war: eine Erinnerung als reine, in den Bereichen der verborgenen Vergangenheit wie in sich selbst enthaltene Virtualität..." 63
Zunächst könnte man die Erinnerung als "Kreislauf" mißverstehen, der darin bestünde, sich zu vergegenwärtigen oder "vorzustellen", was einmal gegenwärtig war und "dann" verging. Doch der "Kreislauf" der Erinnerung ist nur möglich, weil es keine Gegenwart gibt, die nicht in sich schon Vergangenheit und damit "Zeit" gewesen wäre, die deshalb Gegenwart vergehen ließ. Deshalb besitzt das Erinnerungsbild auch nicht von sich aus ein Vergangenheitszeichen. Der "Kreislauf" der Erinnerung wird aus der Differenz jeder Gegenwart zu sich selbst geöffnet. "Am Anfang" steht nicht die Erinnerung, sondern das Gedächtnis, das dem "Kreislauf" ebenso wenig angehört wie die Zeit-Differenz, die dem Vergehen der Zeit vorausgeht. Und deshalb versetzt man sich stets "mit einem Schlag" in die Vergangenheit, wie Bergson sagt, sucht man die Zeit selbst auf, bevor man sich an "etwas" erinnert. – Diese Unterbrechung eines "Kreislaufs" läßt sich auch für die Traumbilder festhalten; Deleuze verweist auf Abel oder Fellini, auf Renè Clair oder Keaton, auf Laughton, Louis Malle und andere. Zwar gibt es Unterschiede zwischen der Erinnerung und dem Traum. Der Traum ist von der Außen- und Innenwelt nicht völlig abgeschlossen, in ihm mischen sich virtuelle Bilder mit aktuellen Wahrnehmungen. Das Virtuelle manifestiert sich in ihm nicht unmittelbar, sondern in einem anderen Traumbild, das seinerseits virtuelle Züge annimmt, um sich erneut in anderen virtuellen Bildern darzustellen usw... Dies weitet den "Kreislauf" der Traumbilder zwar bis ins äußerste. Doch setzt es diesen Bildern ebenso enge Grenzen, denn gerade die Ausweitung des Traum-"Kreislaufs" bringt ihn der Zeit nicht näher. Zwar hat der Traum mit Bildern zu tun, die vom senso-motorischen Apparat abgeschnitten sind. Doch gehen sie von sich aus in eine bestimmte, ihnen eigene Bewegung über, vergrößern sie die Umwege, die das Zeit-Bild nimmt, und insofern stehen sie sogar selbst noch im Horizont seiner Rückkehr zum Bewegungs-Bild.

Uploaded Image: pfeil.gif 5.3 "Rosebud"

  63 Deleuze II, S.76f.






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