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Meine Abenteuer mit der "Futurologie"


Stanislaw Lem 24.04.1997

Im ersten Essay der Reihe, die Telepolis von Stanislaw Lem veröffentlicht, berichtet der bekannte polnische Futurologe und Science Fiction
Autor von den Anfängen und Motiven seines Schaffens. Gerade die intellektuelle Isolation während des kommunistischen Regimes führte für ihn
zu einer kreativen Explosion, die sich in zwei Bahnen niederschlug - in futurologische und wissenschaftliche Arbeiten und in grotesken,
surrealistischen Erzählungen.

Meine Abenteuer mit der "Futurologie"

I - Die Kindheit

Ein sogenannter Zukunftsforscher bin ich unabsichtlich und sogar unbewußt geworden. Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich ungefähr, wie es
dazu gekommen ist. Als ich mich mit dem zu beschäftigen begann, "was noch möglich ist", wußte ich nichts über irgendeine "Futurologie". Ich
kannte diesen Begriff nicht und folglich wurde mir nicht bewußt, daß Ossip K. Flechtheim diese Bezeichnung 1943 geprägt hat.

Um Gewißheit über dieses Datum zu erhalten, schlug ich im Meyer-Lexikon nach und erfuhr, daß Flechtheim seine "Futurologie" in drei Zweige
teilte: die Prognostik, die Planungstheorie und die Zukunftsphilosophie. Wie mir scheint, habe ich meine Kräfte allmählich in allen diesen Zweigen
gleichzeitig ausprobiert. Es ist, wie ich zugebe, schon eine seltsame Sache, sich eine ziemlich lange Zeit, ziemlich genau und ziemlich ignorant
mit etwas zu beschäftigen, wovon man überhaupt nicht weiß, was es ist. Ich vermute, daß der erste Urmensch auch nicht wußte, was der
Gesang ist, als er zu singen begann. Aber gerade so war es. Da sich gegenwärtig vieles von dem, was ich mir als künftige Errungenschaften (und
als künftige Mißgeschicke) der Menschheit vorgestellt habe, bereits für mich ganz unerwartet erfüllt hat, kann ich jetzt auch über mich, einen
Vorwand des Eigenlobs vermeidend, weniger schmeichelhafte Sachen erzählen.

Den sogenannten "Antrieb" hatte ich seit meiner Schulbank am Gymnasium. In dem Buch "Das hohe Schloß", das meiner Kindheit gewidmet ist,
beschrieb ich z.B. meine "Erfindertätigkeit", als ich das Alter von dreizehn Jahren fast erreicht hatte. Ich füllte Hefte mit Zeichnungen von
kriechenden oder fliegenden Maschinen - eine diente sogar zur einfacheren Zubereitung von gekochtem Mais, da mich alles interessierte. In
dieser Zeit habe ich mich auch mit noch phantastischeren Dingen beschäftigt: Ich habe nämlich während der langweiligen Unterrichtsstunden
fleißig aus dem ausgeschnittenen Papier der Schulhefte, Ausweise für Kaiser oder Könige sowie Verleihungen von verschiedenen Schätzen
oder Juwelen und vielerlei Passierscheine, die zum Eintritt in das Innere von Sehr-Geheimen-Burgen berechtigten, angefertigt. Davon hatte ich
einen ganzen Haufen. Es war vielleicht ein Keim meines späteren literarischen Schaffens. Aber ich weiß es nicht.

Mit meiner eigenen Person habe ich mich sehr wenig beschäftigt. Es haben mich eher Antworten auf die Frage Warum? interessiert, und ich
habe mit solcher Fragerei meine Onkels und meinen Vater gequält, seitdem ich mich daran erinnern kann. Und über die Schule, über die Klasse
hinaus habe ich in das am weitesten entfernt Liegende geblickt. Zuerst in die Vergangenheit, aber nicht in die aus den Geschichtshandbüchern,
sonder in die Vorzeit, in der es von Dinosauriern gewimmelt hat (ich besaß Bücher über sie, denn ich war ein Bücherwurm und las alles -sogar
das Brockhaus-Lexikon aus dem Jahre 1890. Ich zeichnete darüber hinaus auch solche Monster, die es nicht gab, die es aber offensichtlich
meiner Ansicht nach gegeben haben sollte. Ich bin also mit meiner Phantasie in andere Zeiten und andere Welten geflüchtet, und obwohl ich
verstanden habe, daß dies nur scheinbar ist, ein Spiel, hütete ich meine Geheimnisse.

Man kann diese Kindheitsschrulle sicher nicht als Anfang meiner "futurologischen Tätigkeit" bezeichnen. Dennoch war das, was ich während
meines Medizinstudium zu schreiben begann, als ich nach dem Krieg mit meiner Familie in Krakau landete, nicht nur schlechte Science Fiction.

II - Die Chancen der Isolation

Für meine Ausflüge in die Zukunft kam mir eine beträchtliche Hilfe seitens der kommunistischen Obrigkeit zugute, weil ich ihr (zusammen mit
ganz Polen) eine vollständige Abtrennung vom Westen und also auch von deren Literatur zu verdanken hatte. Ich hatte bis 1956 weder ein
SF-Buch gelesen (außer Jules Verne und Orson Welles, die ich schon vor dem Krieg in Lemberg kennenlernte), noch hatte ich einen Zugang zu
wissenschaftlichen Werken - mit einer Ausnahme.

Der Psychologe Dr. Choynowski hatte im Jahre 1946 ein Seminar für Wissenschaftslehre gegründet und ich wurde irgendwie zu seinem
wissenschaftlichen Angestellten. Choynowski wandte sich an wissenschaftliche Stellen in den USA und Kanada mit der Bitte um
wissenschaftliche Literatur für die durch die deutsche Besatzung ausgehungerte polnische Wissenschaft. Diese Bücher kamen in großen
Mengen an, und meine Aufgabe war es, sie auszupacken und mit der Post an die Universitäten des ganzen Landes zu versenden. Ich habe das,
was mich faszinierte, einfach nach Hause mitgenommen, in den Nächten gelesen und am nächsten Tag dann erst zur Post gebracht. Auf diese
Weise habe ich mich mit der Kybernetik von Norbert Wiener, der Informationstheorie von Claude Shannon, den Arbeiten von John von
Neumann, die auf mich einen ungeheuer großen Eindruck hinterlassen hatten, der Spieltheorie und vielem anderen vertraut gemacht, und da
ich des Englischen nicht mächtig war, mußte ich mit einem Wörterbuch in der Hand lesen.

Aber die Lektüre befriedigte mich bald nicht mehr. Auf den durch sie gelegten Grundlagen habe ich begonnen, eigene Gedanken aufzubauen.
Zuerst habe ich mir eine "atomare Wiederauferstehung des Menschen" ausgedacht, die mir "im Prinzip" möglich erschien. Weil ein jeder von uns
aus Atomen besteht, sollte man sie nach dem Tod sammeln und so den Organismus wiederherstellen können. Vom Bischof Berkeley lieh ich mir
dazu die Dialogpartner Hylas und Hylonous aus und veranlaßte sie, diese Resurrektion zu untersuchen. Herr Oswiecimski, einer der
Seminarassistenten, dem ich zeigte, was ich geschrieben hatte, versuchte meine Schlußfolgerung anzufechten, daß der aus Atomen gebaute
Mensch nicht derselbe sein kann wie der Verstorbene, sondern nur - wie ein Zwilling - dessen Kopie. Er kam jeden Tag mit einem neuen
Gegenargument, das ich widerlegte, und auf diese Weise wurde unabsichtlich und planlos das erste Kapitel meines Buches Dialoge
ausgearbeitet.

Ich habe das Buch 1953 geschrieben, als Stalin noch lebte, und von einer Veröffentlichung konnte keine Rede sein, weil ich eine Menge von
zukünftigen neuen Chancen aus der Kybernetik abgeleitet habe, die offiziell als eine "bürgerliche lügnerische Wissenschaft" galt. Man sprach
über Zukunftsprognosen schon aus dem einfachen Grund nicht, weil die Zukunft bereits mit größter Genauigkeit in Gestalt eines
kommunistischen Paradieses vorgesehen war, in das uns die kommunistische Partei führte, wie einst Moses die Juden in das Gelobte Land.
Das aber hat mich weder zufriedengestellt noch interessiert. Ich schrieb meine eigenen Sachen.

Dank dem "Tauwetter" konnte man im Jahre 1956 die Dialoge veröffentlichen. Da aber niemand beim Verlag wußte, wovon das Buch handelte
und was es bedeutete, malte ein Grafiker auf dem Umschlag eine Bühne, und auf dieser eine Leiter und zwei aufgegebene Halbschuhe. (Parallel
schrieb ich auch SF, die bereits einen gewissen Erfolg hatte, aber vorläufig schweige ich über ihre Rolle in meiner "futurologischen Arbeit"). Mein
Gedankengang war merkwürdig gespalten. Es kommt schon vor, daß sich jemand unabsichtlich verliebt, aber daß jemand unabsichtlich heiratet
und dies gar nicht bemerkt, ist schon eine Seltenheit. Jetzt schreibt man also über mich, daß ich mich mit der Futurologie, die irgendwann in den
Sechzigern aufkam und die Lesermärkte eroberte, überhaupt nicht beschäftigt habe. Ich habe aber bereits über die Zukunft zu schreiben
begonnen, bevor diese Mode den Westen eroberte, und ich konnte vor allem nicht wissen, was im Westen geschah. Trotz der Störsender hörte
ich "Free Europe", aber bei diesem Sender gab es nichts über die Zukunft. Warum ich 1962 mit dem Schreiben meines opus magnum, mit der
Summa technologiae begonnen habe, kann ich auch nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Die kürzeste Erklärung lautet: Ich war einfach
neugierig, überaus neugierig, was in der Zukunft passieren kann.

Ich habe mich nicht mit der politischen Zukunft der Welt, nicht mit zukünftigen Krisen und auch nicht mit der Bevölkerungsexplosion beschäftigt,
sondern vor allem mit den möglichen technischen Errungenschaften. Francis Bacon schrieb schon vor ein paar hundert Jahren, daß Maschinen
entstehen werden, die auf dem Meeresgrund gehen und fliegen können. Weil ich nicht wußte, daß der Philosoph Karl Popper alle Voraussagen
für "unmöglich" hielt, habe ich mich gerade an solche Voraussagen gemacht. Und weil ich keinen Zugang zu irgendwelchen Quellen der
Futurologie hatte, mußte ich mir selbst ein Muster, einen Leitstern, irgendein Schlagwort für eine weit entfernte Zukunft ausdenken. Ich habe,
wie die Deutschen sagen, aus einer Not eine Tugend gemacht. Ich wollte, um Gottes willen, nicht mehr wie im Gymnasium phantasieren,
sondern ich sehnte mich nach einem sicheren Rückhalt, also nach etwas, das es bereits gibt und das die Menschen als Technologie
irgendwann imstande sein werden zu übernehmen.

Wenn man darüber nachdenkt, wird man sehen, wie einfach das war. Es gibt Pflanzen und Tiere, und auch wir existieren mit Sicherheit. Die
ganze lebende Welt ist aus der natürlichen darwinistischen Evolution entstanden. Falls die Natur es konnte, dann werden auch wir, so war meine
Hoffnung, imstande sein, sie als einen Lehrer zu betrachten. Wir werden beginnen, wie die Natur oder sogar besser als sie zu schaffen, weil wir
dies zum eigenen Gebrauch machen. Meine ganze Mühe richtete ich beim Schreiben der Summa technologiae auf die Ausführlichkeit, also
was sich daraus ergibt, falls man das erreichen sollte, und wie man "die Natur einholen und überholen kann". Als ich schrieb, hörte man noch
kaum etwas von einer Biotechnologie, von der Gentechnologie, von der Entdeckung der "menschlichen Vererbung" (Human Genome Project).
Um mich herum herrschte der Marxismus-Leninismus, und ich verfügte ausschließlich über in Moskau herausgegebene Werke in russischer
Sprache aus dem Bereich der exakten Wissenschaften wie der Astrophysik und der darwinistischen Biologie. Darwin hatten die Kommunisten
ziemlich gern. Es gab auch, wie beispielsweise die Physik von Feynman, "gestohlene" Bücher, weil Moskau das beste übersetzte und den
Autoren natürlich nichts zahlte. Aber über Prognosen durfte man kein Wort sagen.

Ich hatte also große Schwierigkeiten mit der Terminologie. Sie glichen denen eines Menschen um 1800, dem es einfallen würde, über die
Eisenbahn zu schreiben. Wie sollte man, da es sie nicht gab, dann die Kessel, Zylinder, Kolben, Sicherheitsbremsen und so weiter nennen? Ich
mußte mir daher alles so ausdenken und benennen, wie Robinson Crusoe erst lernen mußte, wie man aus Ton einen Topf kneten und ihn
glasieren kann. Ich war gewissermaßen ein Robinson der Futurologie und ich verdanke dieser Einsamkeit, dieser Isolation viel.

Als die Summa herauskam, ist nicht einmal eine Rezension erschienen. Nur ein bekannter polnischer Philosoph schrieb, daß ich eine Utopie mit
Information verwechselt habe und alles nur Märchen seien. Wenn ich nämlich erfahren hätte, daß im Westen schon Institute wie die Rand
Corporation, das Hudson Institute oder die französische Futuribles Gruppe entstanden sind, hätte ich angesichts dieser Flut von Wissen und
dieser Größen der Weisheit, die durch ganze Brigaden von Computern, durch den Zugang zur gesamten Weltliteratur und durch die Freiheit der
Teilnahme an allen wissenschaftlichen Konferenzen und Kongressen unterstützt wurden, mich wohl nicht zu schreiben gewagt. Kann man sich
vorstellen, daß ich alleine, fast auf dem Land, am südlichen Stadtrand von Krakau lebend, mit meinen Voraussagen mit solchen Experten hätte
in Konkurrenz treten sollen, die wie Herman Kahn oder Alvin Toffler einen Bestseller nach dem anderen auf den Buchmarkt lancierten?

Zu meinem Glück hatte ich keinen blassen Schimmer von ihnen noch von ihrem Ruhm, den sie genossen. Die Isolation kann also auch förderlich
sein. Damals sind ganze Scharen von Futurologen entstanden, und als ich endlich ( nach irgendeiner Ausgabe der Summa) die aus dem
Westen kommenden Bände in die Hand bekam, konnte ich genaue Diagramme sehen (Herman Kahn sagte im Hinblick auf das Wachstum des
Nationaleinkommens der DDR, also den Ostdeutschen, den zweiten Platz in Europa, gleich hinter der Bundesrepublik Deutschland, vorher).
Doch wenn ich mir diese Statistiken und Extrapolationen anschaute, habe ich sehr wohl den Vorteil meiner Einsamkeit begriffen.

Nachdem die Sowjetunion in kürzester Zeit zerfallen ist und die DDR aufhörte zu existieren, verschwand Futurologie aus den Schaufenstern der
Buchhandlungen. Stattdessen erschienen neue Artikel und Bücher, die nicht davon handelten, was es irgendwann geben wird, sondern die
darüber berichteten, was es hier und jetzt gibt und was sich bereits jetzt entwickelt.

III - Was ich nicht vorhergesehen habe

Was war geschehen? Es vollzog sich eine allgemeine Zuwendung zur Biologie, zur Biotechnologie, zur Erforschung des biologischen Erbes des
Menschen und der für unterschiedlichste Merkmale und Erkrankungen verantwortlichen Gene. Mächtige Firmen wie Genetech und viele andere,
deren Namen ich nicht mehr weiß, begannen zu entstehen. Man fing an, verschiedene neue Bakterien zu patentieren und in die
chemosynthetische Produktion einzuspannen. Ich war von all dem sehr überrascht, weil ich in einer Überzeugung schrieb, die der Gewißheit
gleichkam, daß ich nichts von der Verwirklichung meiner Prognosen erleben werde, daß das, worüber ich schreibe, höchstens irgendwann im
dritten, vielleicht erst im vierten Jahrtausend entstehen wird. Aber es kam alles anders. Ich kann mit der Lektüre über neue Erkenntnissen der
Biotechnik nicht mehr zu einem Ende kommen, doch die neue Terminologie ist selbstverständlich völlig anders, als die, die ich mir wie ein
Robinson Crusoe in meiner Summa ausgedacht hatte.

Beispielsweise gibt es bereits meine "Phantomologie" und "Phantomatik", aber sie heißt Virtuelle Realität. Immer mehr solche neue
Bezeichnungen entstehen jede Woche. Man kann die allgemeine Entwicklungsrichtung vorausahnen, dafür habe ich bereits Beweise, aber die
Namen für konkrete Produkte, Techniken oder Instrumente vorauszuahnen, wäre schon nicht mehr eine Prophezeiung, sondern ein Wunder.
Ich glaube nicht an Wunder.

Meine Ideen wurden, auch wenn nicht gänzlich, schon durch den immer stürmischer vorangetriebenen Fortschritt des theoretischen Wissens
und seiner praktischer Umsetzung überholt. Ich kann hier natürlich nicht die gesamte Summa zusammenfassen, aber ich kann in einigen
Worten den Hauptfaktor oder das Grundprinzip erklären, das meiner Meinung nach aus der von der natürlichen Evolution des Lebens
übernommenen Technologie ein völlig neues Gebiet eröffnete, das sich grundlegend von der Ingenieurspraxis, dem Know-how und dem
"hypothesenschaffenden" Denken der Menschen unterscheidet, wie sie in den letzten Jahrhunderten entstanden sind.

Wir hatten immer mit der Werkzeugmaschine und mit dem, was bearbeitet wird, mit einem Instrument und mit dem Rohstoff, mit dem Meißel und
mit dem Stein, mit einer Erfindung und den gebauten Prototypen und - im Bereich der höchsten Abstraktion - mit den Hypothesen und Theorien
zu tun, die wir den Falsifikationstests unterziehen. Diesen Test hat Popper als entscheidenden Faktor für die Legitimation von Theorien
bezeichnet. Was dem Falsifikationstest überhaupt nicht unterzogen werden kann, ist aus der Sicht der wissenschaftlichen Wahrheit äußerst
zweifelhaft. So gehen wir vor, seitdem der erste Urmensch mit dem mit einem Flint bearbeiteten Feuerstein begann, ein Feuer zu schlagen,
wobei er zuvor einen Hammer aus Stein verfertigt hatte, bis hin zur Discovery, zu Satelliten oder zu Atomkraftwerken - die Methode blieb im Kern
stets die gleiche.

Die Evolution hingegen, die sich selbst aus dem molekularen Chaos und Gewimmel entwickeln mußte, schafft keine theoretischen Konzeptionen
und kennt keine Trennung zwischen dem Bearbeitenden und dem Bearbeiteten. Der "Plan" in ihr ist die aus den Molekülen zusammengesetzte
DNA-Spirale - auch wenn wir immer noch nicht wissen, wie ihr dies gelungen ist -, die innerhalb von vier Milliarden Jahren der
Lebensentwicklung auf der Erde entstanden ist. Übrigens hat sich die Evolution nicht allzusehr verausgabt, wenn sie innerhalb von drei
Milliarden Jahren nichts außer verschiedenen Bakterien erschaffen hat. Mehrzellige Wesen, Pflanzen und Tiere sind "erst" vor achthundert
Millionen Jahren und der Mensch ist auf dieser Skala erst "vor einem Augenblick" entstanden, etwa vor zwei bis vier Millionen Jahren. Meine
größte Sorge und mein größtes Problem bestanden mithin darin, wobei ich auf meine Futurologie zurückkomme, ob die Menschen imstande
sein werden, die Technologieentwicklung so außergewöhnlich zu beschleunigen, daß sie das, was die Evolution in Milliarden von Jahren
gestaltet hat, einholen und in ein paar Jahrhunderten diese Kunst erwerben und beherrschen können.

Zwei Dinge habe ich nicht vorausgesehen. Erstens, daß wir diesen Wettlauf gewinnen können, daß wir aus der Konkurrenz bereits zum Ende
des 20. Jahrhunderts als Gewinner hervorzugehen beginnen und daß dies so schnell, so stürmisch und auf so vielen Abschnitten der
biotechnologischen Front geschieht. Ich war offensichtlich in diesem Sinne ein Pessimist.

Dagegen habe ich mich als Optimist in einem anderen Sinne und in einem anderen Bereich erwiesen, denn ich habe zweitens auf den
prometheischen Geist der Menschheit gezählt. Ich ahnte nicht, daß die wunderbarsten Errungenschaften der Menschheit für niederträchtige,
gemeine, schuftige und unerhört dumme Zwecke mißbraucht werden, daß etwa die Computernetze, über die ich schon im Jahre 1954 schrieb,
Pornographie übertragen werden.

Mich interessierte nicht allein die Vorhersage der biotechnischen Geschöpfe, sondern ich wollte immer erraten, wie Menschen das von ihnen
Geschaffene gebrauchen werden. Beim Nachdenken über diesen Aspekt der zukünftigen Dingen stieß ich auf die menschliche Natur, die leider
non est naturaliter christiana. Gleichzeitig habe ich versucht, mich den dunkeln, vor allem den dummen, aber auch mörderischen Seiten der
menschlichen Natur irgendwie entgegenzusetzen. Ich nahm in der Summa und in den Dialogen keine Kapitel über die "schwarze" Zukunft der
grandiosen Technologien auf. Aber ich mußte erkennen, als ich mich in die "Zukunftsphilosophie" (von Flechtheim) eingelassen habe, daß fast
jeder Typus einer hochentwickelten Technologie notwendigerweise mit unserer ganzen Kulturtradition, mit der historisch entstandenen Ethik
des Religionsglaubens, mit unseren durch die Rechts- und Sozialbremsen geschützten Umgangsnormen kollidieren wird, und daß sich aus
diesen immer heftigeren Zusammenstößen bedrohliche Phänomene ergeben, die auf die Zivilisation selbstzerstörerisch wirken.

Ich habe mich nicht an die Beschreibung solcher bedrohlicher Veränderungen gemacht. Ich weiß nicht, ob ich dies absichtlich nicht wollte,
jedenfalls habe ich weder eine "permissive Gesellschaft" noch die Triumphe der von der Lebensevolution übernommenen Technologien
behandelt. Mein Ausgangspunkt wurde die Science Fiction. Ich beschrieb auch das Düstere, aber in einer grotesken und närrischen
Verkleidung. So ist der Futurologische Kongreß entstanden (und wurde in vielen Übersetzungen in der Welt herausgegeben). Er schildert
eine Welt, in der man allgemein nicht einfache Drogen verwendete, sondern psychotrope Mittel, die die Persönlichkeit eines Menschen
verändern, die ihn wie eine Marionette steuern können. Ich habe dies aber unter Lachen geschrieben, und so wurde es auch empfunden. Leider
findet man derartiges jetzt bereits auf den Seiten der Tageszeitungen. Eine solche "psychemische Zivilisation" oder "Psyvilisation" scheint schon
vor der Tür zu stehen. Ich habe sie mit Ironie, Hohn und Humor versüßt, und auch in vielen anderen Büchern immer in einer
satirisch-surrealistischen Tonart geschrieben, da es andernfalls wie ein Requiem für die Technologie klingen würde, wie ein pompe fûnèbre, wie
ein MENETEKEL.

IV - Die zwei Hälften der Zukunft

Zum Schluß muß ich noch etwas bekennen. Ich war keineswegs ein allwissender Prophet der kreativen technischen Explosion mit einem
wunderbar sonnigen Avers und einem schwarzen und düsteren Revers. Ich habe mich keineswegs vor fast fünfzig Jahren hingesetzt und
überlegt, wie ich der Menschheit sage, was sie im Guten und im Bösen in den unvermeidlich kommenden Zeiten erwartet. Ich habe nicht das
Gute vom Bösen schlau so getrennt, daß die guten Nachrichten seriös, mit vollem Ernst, in den sogenannten Sachbüchern mitgeteilt werden,
während ich die schlechten, fatalen Prognosen dagegen mit dem Zuckerguß der Spielerei überzog, sie mit einem Zwinkern so erzählte, wie man
verrückte Witze erzählt. So war es überhaupt nicht. Als ich mit dem Schreiben begann, gab es in meinem Kopf keine bewußt auf die Zweiteilung
meines Schreibens gerichteten Gedanken - in meinem Bewußtsein, sage ich vorsichtig.

Diese Aufteilung ergab sich irgendwie von selbst, und erst jetzt, am Ende meiner schriftstellerischen Arbeit, kann ich dieses aus zwei Hälften
zusammengesetztes Ganzes erkennen, das beinahe zufällig, fast instinktiv, als ob mich etwas geführt hätte, woran ich gleichzeitig nicht glaube,
entstanden ist. Es war vielleicht ein genius temporis. Ganz einfach, ICH WEISS ES NICHT. Fragen Sie mich nicht mehr nach diesen Ursprüngen
meines gesamten Schreibens. Wenn ich noch etwas dazu als Erklärung bemerken könnte, würde ich dies bereits jetzt gern tun, aber ich kann es
nicht.

Lesen Sie auch das Gespräch mit Stanislaw Lem Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir graut [0] in Telepolis.

Aus dem Polnischen übersetzt von Ryszard Krolicki

Links

[0] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2048/1.html

Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/kolumnen/lem/2078/1.html

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