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Mitschnitt vom 08.01.11

Autor: Mitschnitt und Fotos Antje Eske

08.01.2011. Konversation 15: Kybernetik. Soziale Bewegungen. Social Web.

Beteiligte: Kurd Alsleben, Alexandre Bouriant (Besucher), Wolfgang Coy, Antje Eske, Torsten Juckel, Tilo Kremer, Roland Schröder-Kroll, 1 Besucherin, 1 Besucher

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Antje (Mitte) eröffnet die konversationelle Runde: wir werden einfach mal da weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben.
Das Thema war: Mensch -Computer-Interaktion und Mensch-Mensch-Kommunikation. Jeder von uns hatte aufgeschrieben, was dabei wichtig oder auch diskutierenswert ist. Wir hatten das dort an die Wand geklebt und angefangen, darüber zu reden. Dann machte das ZKM aber zu und wir mussten aufhören. Jetzt haben wir hier die Karten, auf dem Tisch und könnten gucken, ob das Eine oder Andere noch besprechenswert ist.
Torsten liest eine der Karten vor: Mut zur Ehrlichkeit miteinander ist der Schlüssel zu beidseitiger Entwicklung, die für alle wohlwirkend ist. Alexandre: also ich kann es ein bisschen erläutern, weil ich es geschrieben habe. Es geht um Internet und ich stelle fest, es wird immer mehr möglich. Jeder Einzelne kann sein Eigenes auspacken und ´reinfüttern. Das ist ... Antje: rauskotzen. Alexandre: rauskotzen sozusagen. Zumindest hat er die volle Freiheit, sich so zu geben, wie er ist. Scheißegal, wie der Rest darauf reagiert. Danach kann eine Art Verdichtung stattfinden, wo sich mehrere Menschen um dieses ´Ausgekotzte´ wieder zusammenfinden. Und dann kann was geschehen. Da entsteht fast so etwas, wie ein Ereignis. Kurd: ich finde das ´auskotzen´ nicht gut. Alexandre: sagen wir mal, eine ungebremste Ausdrucksmöglichkeit. Kurd: aber du kannst dich doch nicht in einer Runde ungebremst ausdrücken. Antje: aber im Netz kannst du das. Roland: warum? Da habe ich doch genau so ein Publikum wie hier auch und ich bin so erzogen worden, nicht einfach alles zu sagen. Warum wäre denn das im Netz anders. Torsten: weil die Anonymität da ist. Alexandre: ja, ich habe den Eindruck, dass da mehr möglich ist. Und mein Satz sollte uns auf die Überlegung bringen, ob man diese Art Ehrlichkeit vielleicht auch in die Mensch-Mensch-Kommunikation bringen könnte. Weil es letztendlich so ist: je ehrlicher wir uns ausdrücken, desto selbstgetreuer sind wir. Und ob ich mich weiterentwickele, was ja eine positive Folge ist, passiert dann dadurch, dass das, was ich sage, durch die Reaktion der Umwelt eine gewisse Verdichtung erhält. Und dann werden die Dinge plötzlich stimmig. Das ist ein bisschen das Gefühl, das ich habe. Kurd: ja, das finde ich auch so. Roland: die Chance ist größer, - weil das Publikum größer ist - dass man auch Gleichgesinnte findet, als vielleicht in dem Umfeld, wo man sonst d´rin steckt. Alexandre: genau!

Antje: ich habe jetzt nicht so übermäßig viele Erfahrungen im Netz, habe aber den Eindruck, dass dieses Reinkippen ins Netz für mich nicht so unbedingt was mit Ehrlichkeit zu tun hat. Wenn ich alles reinhaue, ganz egal was kommt, muss es ja auch nicht immer passieren, dass sich das verdichtet. Ich habe von Studierenden gehört: wir machen das alles so nebenbei, packen mal schnell wieder was auf Facebook oder in Twitter, aber die Hauptsachen passieren eigentlich neben dem Netz. Es muss auch nicht sein, dass sich Andere mit den Netzbeiträgen so auseinandersetzen, dass sich das verdichtet. Deswegen finde ich das Beispiel für mich noch nicht überzeugend. Torsten: ich glaube auch, eine wirkliche Auseinandersetzung passiert relativ wenig im Netz. Wenn man früher gesagt hat: ich kaufe mir ein wissenschaftliches Buch und was da drin ist, ist eine gesetzte Meinung, kann ich das für voll nehmen. Das ist was, was sich irgendjemand überlegt hat. Im Netz ist das mehr ein: ich schreibe mal, was mir so gefällt und lass die Allgemeinheit entscheiden, ob das überhaupt wichtig ist. Und du merkst dadurch, dass überall Kommentare dazu geschrieben werden können, ob dein geistiger Müll, den du da fabriziert hast und was so im Fluge mal über dich kam, ob das dann auch von der Allgemeinheit angenommen wird. Also dass man sich nicht mehr vorher die Überlegung macht, was bringe ich zu Papier, sondern dass erst danach, über ´ne positive oder negative Feedback-Schleife, gesagt wird: o.k., das ist in Ordnung, was du geschrieben hast oder: das ist nicht in Ordnung. Roland: der Aufwand wächst ja dadurch, dass man aus dem ganzen Müll die interessanten und relevanten Informationen rausfiltern muss. Torsten: deswegen ist Twitter ein wahnsinnig gutes Beispiel dafür, dass man gar nicht mehr so viel filtern kann. Da wird so viel produziert, dass man eigentlich gar nicht mehr damit umgehen kann. Davon wird man wahnsinnig. Vor allen Dingen - selbst wenn man seine Freunde dort gelistet hat - man bekommt das in einer chronologischen Reihenfolge geliefert. Und diese thematische Zuordnung: wer hat was jetzt zu wem gesagt, zu welchem Thema - alleine diese Organisationszeit, die da reininvestiert werden muss, um da überhaupt eine Konversation ´rauszulesen -, das ist mir zu viel.

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Besucherin: (zweite von links) da geht etwas von diesem Dialog verloren, nicht? Diesem Mensch-zu-Mensch-Dialog.
Und einen Dialog braucht man, um Gedanken zu bilden und weiterzuführen. Dort ist es alles ein Haufen hin und ein Haufen zurück, und ich weiß nicht, ob es so produktiv für die Gedankenbildung ist. Besucher: ist doch manchmal auch nur eine dumme Selbstdarstellung, finde ich. Torsten: für viele Leute, ja. Wolfgang: aber es gibt sehr unterschiedliche Foren. Also Twitter ist nicht das spannendste. Es gibt spezialisiertere Foren, wo die Leute schon interessante Diskussionen anfangen, thematisch orientiert. In diesen thematisch orientierten Foren gibt es dann wieder Abteilungen wie ´Generell´ oder ´ Abseitiges´ z.B. und da entstehen manchmal ganz interessante Diskussionen. Torsten: ich glaube, wenn das ein wirklich spezialisiertes Forum ist, wo die Leute nicht nur drüber stolpern, kann man es lesen. Aber man muss sich ja, wenn man beitragen will, erstmal anmelden. Also da ist eine Schwelle, um überhaupt einen ersten Beitrag zu leisten. Das ist zwar bei Twitter genau so, aber danach braucht man nichts wirklich Geistiges mehr zu machen. Tilo: also für mich ist das so: ich gucke auch gerne mal von einer anderen Seite, wenn ich mir Inhalte ansehe: wieviel Zeit verbrate ich, wieviel halbwegs wichtige Information kann ich da für mich finden. Für mich werden Foren - im Vergleich zu Twitter -, an ganz vielen Stellen benutzt, wo sie keinen Sinn machen. Als Negativbeispiel: ich habe irgendein technisches Problem und suche dazu eine Lösung. Wenn ich in Foren nachsuche, werde ich unglaublich viele Leute finden, die auch dieses Problem hatten, aber keiner hat eine Lösung. Das heißt, ich lese seitenweise und finde nichts. Andersrum, special Interests: ein Freund von mir schraubt gerne an italienischen Motorrädern ´rum. Da treffen sich dann ganz viele Leute im Netz, die sagen, was habt ihr jetzt grade gebastelt, macht doch mal ein Foto und stellt das ´rein. Und dann hat man auf einmal 20, 30 Seiten von Projekten einzelner Leute, die irgendwie thematisch zusammenpassen. Und wenn einen das interessiert, ist das ´ne total schöne Fundgrube. Die gleiche Software, die gleiche Struktur, gleiche Dialogform, aber inhaltlich in einem Fall für mich total unwichtig und in dem anderen Fall vielleicht interessant. Bei Twitter ist es ja sozusagen kein wirklicher Dialog, das heißt, jeder plätschert vor sich hin in den großen Niagara-Fall und ich kann mir meine Rosinen per Vorbestellung ´rauspicken. Antje: wieso per Vorbestellung? Tilo: ich abonniere den, den, den, usw. Alexandre: aus der Erfahrung solcher Foren - ich habe das praktiziert – stellt sich das Problem, dass der eine deiner Meinung ist und eine Lösung gibt und der nächste gibt die Gegenlösung. Welcher hat recht? Und was mache ich daraus? Tilo: das ist doch das Leben. Alexandre: und es gibt keinen, der wirklich fachlich etwas sagen kann. Der eine erzählt nur Quatsch, der andere hat wirklich Erfahrung, er hat es praktiziert und das stimmt, was er sagt. Roland: mich stört aber vor allem auch die Form. Weil ich viele Seiten erstmal durchlesen muss, bis ich sehe: aha. das ist jetzt ´ne Antwort, die mir wirklich weiterhilft und nicht nur jemand, der sagt, das Problem habe ich auch. Da müsste man sagen, dass ein Wiki angemessener wäre, aber das fordert dann wieder mehr Disziplin von den Autoren. Wolfgang: es gibt Foren, in denen ich seit Jahren drin bin, und die habe ich für mich aufgegeben. Aber es gibt welche, da kenne ich die Leute. Ich weiß zwar nicht was die arbeiten, wie alt sie sind, ob sie Männlein oder Weiblein sind. Ich kenne nur ihren Namen und einige ihrer Beiträge. Aber ich weiß, wenn der das sagt, dann stimmt das und wenn der das sagt, dann ist es wie immer daneben. Also es entsteht mit der Zeit eine andere Situation. Wenn man neu reinkommt, hat man natürlich das Problem. Antje: das hat man ja im echten Leben auch ... Wolfgang: ja, das ist dasselbe. Wenn ich in eine Kneipe gehe, habe ich dasselbe Problem, wenn ich mich an die Theke stelle. Also im Ruhrgebiet ist das so üblich. Man stellt sich an die Theke, dann hat man ganz schnell Leute, mit denen man reden kann. Aber ob das Dummköpfe sind oder ob die was wissen, das kommt eben erst mit der Zeit ´raus. Ich muss auch als Fußnote sagen: mir fällt immer wieder auf, wenn man technische Probleme lösen will, dass deutsche Blogs oft sehr viel mehr von Dummköpfen durchsetzt sind, als internationale. Es ist einfach so. Warum, weiß ich nicht. Es gibt solche Blogs wie ´wer weiß was´ - sind die von Yahoo? - da kann man sagen: wer antwortet, weiß meistens nichts! Und das Schlimmste sind die “das wollte ich auch schon immer mal wissen“. Torsten: es gibt inzwischen interessante Varianten dazu. Für Programmierer sind das diese ´Stack overflow´-Geschichten, die ich inzwischen wahnsinnig spannend finde. Wenn man selber ein Problem hat, dann hat man ja eine gewisse Fragestellung. Und mit dieser Fragestellung kommt man bei Google relativ häufig bei ´Stack overflow´ auf genau diese Frage und da drunter findet man dann verschiedene Antworten auf ein Programmierproblem z.B. und die Möglichkeit, dies zu bewerten. Sowas fehlt bei Foren oder bei Twitter komplett. Da hat man nur die Möglichkeit, den aus der Freundesliste, Zuhörerliste, rauszuschmeißen.

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Tilo: (rechts) ich meine, es geht ja nicht immer um den hehren Ansatz tatsächlich echte Antworten zu brennenden Fragen zu finden. Manchmal geht es ja auch um das Gegenteil.
Also als schönes Beispiel in diesem ganzen Wasserfall: es gibt Fortran, das sind so genannte Imageboards. Die werden im Wesentlichen von Kindern benutzt. Das ist eine moderne Version von dem, was Antje früher schon gemacht hat, den so genannten Bilderchats. Das heißt, man postet ein Bild, ein bisschen Text, vielleicht auch ´ne URL dazu. Alles in sehr kurzer Form. Und andere Leute antworten. Das ist dann auch so ´ne ´Fret-Form´ wie im Forum, aber viel, viel kürzer. Es sei denn, den Leuten gefällt das, dann wird es plötzlich wirklich lang und aufgebauscht. Da geht es dann aber tatsächlich nicht wirklich darum ´ne total tolle Antwort auf ´ne brennende Frage zu finden, sondern eher um genau das Gegenteil. Jemand hat ein technisches Problem und ihm wird sozusagen mit ´ner gelogenen Antwort auf 100 verschiedene Arten erklärt, wie er beim Versuch, das zu reparieren, seinen Rechner kaputt machen kann. Besucherin: das ist ja böswillig. Tilo: ja, aber das ist auch mit mehr als nur ´ner Prise Salz zu genießen. Torsten: aber woher weiß der unachtsame Besucher, dass dies so ist? Tilo: er weiß es erstmal nicht und dann lernt er, was die Hölle ist und lernt auch, sich darin zu bewegen. Antje: aus Erfahrung klug! Torsten: viele Leute filtern ja auch nicht mehr. Die lesen und nehmen alles, was geschrieben ist, für bare Münze. Die sehen: erster Lösungsansatz, ja, probiere ich aus. Bevor man überhaupt weiter liest. Wolfgang: aber danach sind sie nicht mehr im Netz. Alle lachen.

Besucher: also ich habe überhaupt keine Ahnung von dieser Art von Kommunikation, weil ich sowas noch nie gemacht habe. Ich kenne das vielleicht von den Kindern, die das praktiziert haben. Aber ich stelle mir vor, dass das auch mit einem unheimlichen Zeitfaktor verbunden ist. – Zustimmung von der Gruppe - Besucher: man hat überhaupt nicht die Gelegenheit, akut auf ein Argument einzugehen. Die Kommunikation ist mir ein bisschen fremd. Ich habe gerne Kontakt, ich möchte den Menschen sehen. Wolfgang: es ist eher ein Briefnetz. Sie schreiben und gucken dann. Bei manchen weiß ich, dass ich ´ne Stunde später eine Reaktion habe, bei anderen kann es drei Tage dauern. Da kann man sich drauf einstellen. Das ist nicht das große Problem. Außerdem haben gute Foren auch noch die Möglichkeiten, meine Threads gezeigt zu kriegen, also: wo ist mein Beitrag und hat jemand geantwortet. Aber ich würde es eher mit Fernsehen vergleichen. Da geht die Zeit auch rum und Sie haben nichts gelernt. Der Abend ist vorbei und nächste Woche gibt´s die Fortsetzung dieser Sendung. So ein Medium ist das. Also wenn ich sofort eine Antwort haben will, dann schreibe ich in meiner privilegierten Situation einigen meiner Studenten oder meiner Assistenten und sage: hör mal zu, ich muss sofort wissen, wie das geht. Und dann kriege ich in drei Tagen ´ne Antwort. Alle lachen. Torsten: weil die nämlich erstmal ins Forum gehen ... Wolfgang: na ja, für diese Art Fragen haben wir schon welche, die ganz viel wissen. Besucherin: ich benutze nach wie vor sehr gerne Telefon. Wolfgang: ich hasse das Telefon. Besucherin: erstens habe ich einen Dialog, zweitens weiß ich, wie die Person ungefähr drauf ist, weil ich durch die Stimme irgendwas erfahre und dann habe ich gleich eine Antwort. Wolfgang: eben nicht. Sie rufen an und niemand ist da. Besucherin: aber dann weiß ich, es ist nein oder ja. Diese Anrufbeantworter bespreche ich grundsätzlich fast nicht, weil es mir nichts bringt. Wolfgang: aber warum sind die Leute nie da, wenn ich sie anrufe? Besucherin: das ist dann was anderes. Ja, gut. Dann schickt man eine mail. Tilo: warum stören die Leute immer total, wenn sie mich anrufen? Wolfgang: das scheint zusammenzuhängen. Roland: natürlich ist es eine viel direktere Verbindung. Oder auch wenn ich jemandem gegenüber sitze, habe ich einen viel besseren Austausch, als textlich. Natürlich! Es kann aber auch Vorteile haben. Wenn mir gegenüber jemand was sagt und ich krieg es in den falschen Hals, dann rege ich mich erstmal auf und reagiere ganz anders. Sonst würde ich vielleicht nochmal d´rüber nachdenken. Zu der ursprünglichen Sache mit der Ehrlichkeit: ich sehe eigentlich oft das andere Phänomen, nämlich dass viele Leute noch viel stärker eine Rolle spielen, als sie das sowieso schon in der Realität tun. Alexandre: besonders in solchen Anwendungen wie Facebook. Roland: ganz genau! Was mir selber suspekt ist, sind diese öffentlichen, relativ intimen Unterhaltungen. Beste Freunde oder Freundinnen, die dann die Geheimnisse auf schwarzen Brettern gegenseitig austauschen. Völlig öffentlich, aber auch überzogen. Und diese Darstellungs- und Rollenspiele noch viel stärker machen, als normalerweise. Also das Gegenteil von der Ehrlichkeit. Tilo: es gibt ja auch mehrere verschiedene Sachen: eine Stelle, wo man vielleicht halbwegs ehrlich ist, eine Stelle, wo man komplett eine Rolle spielt, eine Stelle, wo man einfach nur immer am schimpfen ist. Das ist ja alles möglich. Antje: was mich wundert ist, dass man was davon hat, wenn man sich 1000 Freunde irgendwie zusammensammelt. Du, Tilo, hast ja gestern als Beispiel gesagt: Freunde sind nicht die, die zu meiner Beerdigung kommen würden. Was hat man davon? Torsten: Status! Antje: echt? Mehrere Ja-Stimmen aus der konversationellen Runde. Antje: aber bei wem wirkt das? Wenn du mir jetzt erzählen würdest, du hast 1000 Freunde, würde ich mich kaputtlachen. Torsten: in Deutschland speziell hat sich das noch nicht so durchgesetzt, aber in den USA ist das ein ganz krasses Statussymbol. Schon in den Schulen wird sich darüber ausgetauscht: ich habe so und soviel Freunde! Das kann man noch nicht mal Bekanntschaften nennen. Das sind vielleicht sogar wirklich nur Leute, damit man bei diesen komischen sozialen Spielen, die es dort ja auch bei Facebook gibt, weiterkommt. Damit man dort weiterkommt, muss man weitere Leute in den Freundeskreis aufnehmen, damit man z.B. mit seiner Farm expandieren kann, oder was weiß ich. Da kann man Farmen bewirtschaften und Sachen anpflanzen. Da geht viel Zeit d´rauf. Roland: das ist auch ´ne Inflation. Der Freundschaftswert ist weg. Torsten: natürlich, Freundschaftswert ist da nicht. Das Wort ist im Eimer. Wolfgang: das ist aber auch so wie der amerikanische Satz: great to meet you. Wenn sich Leute, die sich überhaupt nicht kennen, begrüßen: das ist ja großartig, dass ich sie treffe. Das ist eine andere Art des Umgangs.

Besucherin: es gibt ja konstruktive Lügen. Torsten: die sind vielleicht aus der individuellen Sicht notwendig, damit die Leute, die die Macht haben, sie auch behalten. Aber Lügen sind wirklich in den seltensten Fällen wirklich konstruktiv. Das widerspricht sich selbst, alleine vom Wort her. Lüge hat für mich nie was Konstruktives. Wolfgang: also ich hatte einen Kollegen, der bildnerische Arbeiten mit den Studenten gemacht hat. Der kam aus der Kunst und ist in der Informatik gelandet. Wenn jemand in der Frühzeit des Webs Entwürfe machte, sagen wir mal microsoftartig, schön dunkelblau und orange mit grüner Schrift drauf, bei denen wir gesagt haben, ahh, wegrennen, das ist ja unglaublich, sagte er: mhh, das ist schon ganz gut. Aber du nimmst jetzt das Blau weg und das Orange ersetzt du durch Schwarz und das Grün durch Weiß und dann kommst du wieder. Dann gingen die Studenten weg und waren stolz auf ihr Konzept und sagten: das ist schon ganz gut. Ich muss jetzt nur noch die Farben ändern. Man hätte es auch als Lüge bezeichnen können. Besucherin: das ist es, was ich meine: Eine Lüge, wenn die Wahrheit weh tut. Antje: aber das ist doch das, was Tilo von den Japanern erzählt hat. Dass die nicht ´nein´ sagen mögen, sondern die umschreiben das. Besucherin: ja, das ist ganz typisch von den Japanern. Die kennen es nicht anders. Die werden so erzogen. Man kann ja schwer deren Kultur verstehen. Tilo: es gibt tatsächlich auch ein Wort für nein, aber das ist so hart, dass derjenige, der dann gefragt hat, sein Gesicht verloren hat. Wolfgang: ja, das ist ´ne Kriegserklärung. Tilo: das heißt, man muss wirklich zwischen den Zeilen lesen und das wird dann auch respektiert. Antje: ich meine, wenn man so aufwächst, ist das sicher auch kein Problem. Tilo: bestimmt. Es ist natürlich maschinell viel, viel schwerer auszuwerten. - Alle lachen. - Besucherin: ja, man will als Europäer ja wissen, wie man dran ist und andererseits versteht man, dass der andere das nicht gleich sagen kann. Roland: das müsste doch in internationalen Foren auch zu Problemen führen.

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Wolfgang: (rechts) es gibt eine große Tendenz, zu Amerikanern zu werden, als Maske.
Also in den Foren, in denen ich bin und die international sind, werden auch Briten zu Amerikanern, in ihrer Art und Weise wie sie argumentieren. Ich entdecke dann an einzelnen Wörtern, dass sie offensichtlich keine Amerikaner sind, aber sie benehmen sich wie Amerikaner. Das ist der vorgegebene Gestus. Das mag sich aber ändern. Ich halte das nicht für naturgegeben, sondern das ist jetzt eine Phase des Internets, wo die amerikanische Kultur immer noch ´ne gewisse Dominanz hat. Oder ich krieg´ die Änderung nicht mehr mit, weil ich chinesische Seiten nicht lesen kann. Torsten: das ist eher so ein allgemeines Problem, dass ein Großteil des Netzes einem verschlossen bleibt. Antje: ich meine, so einen Paradigmenwechsel, wenn man das mal so nennen will, den kriegt man als Prozess nicht mit, sondern man merkt es erst, wenn es schon anders ist. Und dann ist das Alte, was einem grade noch selbstverständlich war, auch schon völlig weg. Ja klar, jetzt ist es eben so! Das finde ich verrückt, dass man die Entwicklung eigentlich nicht mit vollzieht, sondern bong! Jetzt sind wir woanders. Und dann hält man das auch wieder für selbstverständlich. Besucherin; ja, das ist Entwicklung. Dass man es anders sehen muss. Kurd: woher kommt eigentlich diese Beeilung. Wenn das Paradigma sich geändert hat, dann gibt es ein rücksichtsloses Beeilen, dem neuen Paradigma zu genügen. Was ist das eigentlich? Seinen Freunden gegenüber versucht man, sie zu überholen. Das ist komisch. Das habe ich an mir erlebt. Was ist das eigentlich? Antje: ist das nicht auch Status, ´in sein´ und so´n Kram? Kurd: ja, ja. Aber genügt das als Antwort? Torsten: die Frage ist doch, was passiert, wenn so ein Paradigmenwechsel stattfindet. Wir unterhalten uns ja im Netz völlig anders, als wenn wir uns jetzt hier unterhalten. Die ultimative Konsequenz ist ja, dass wir, wenn wir viel Zeit im Netz verbringen, die Art und Weise der Konversation aus dem Netz mitnehmen ins richtige Leben. Und wenn dann in einem Forum geschrieben wird: that´s bullshit, dann ist es viel leichter für die nächste Generation, das jemandem auch Face to Face zu sagen. Das wird ja auch schon getan. Also wir haben eine gröbere Umgangsform als vielleicht noch von fünf oder zehn Jahren. Und das ist dann auch so eine Kulturveränderung. Tilo: das gibt´s aber auch an vielen anderen Stellen. Speziell, wenn man mit irgendjemand normal spricht, dann hat man sofort irgend eine Einschätzung vom Alter. Ich würde mich jetzt mit euch anders unterhalten, als mit einem vierjährigen Kind. Wie auch immer das dann aussieht. Wenn ich aber im Netz eine Kommunikation habe, dann kann mir ein zehnjähriges Kind sagen, dass es 75 ist und ich habe eigentlich keine Möglichkeit, erstmal was anderes zu glauben. Ich merke das dann vielleicht irgendwann, an der Wortwahl, an Sachen zwischendrin, an Reaktionen, usw. Aber im Prinzip ist da alles möglich und die Kinder sind für mich welche, die tatsächlich sehr aktiv an diesen Kommunikationsformen rumschrauben und Sachen ausprobieren. Und es passieren Sachen, wo ich denke, o.k., das habe ich mit Erwachsenen bislang nicht gemacht, aber das ist eigentlich ganz interessant. Besucherin: dann ist es doch nicht unbedingt notwendig, dass man das Alter erfährt. Sie müssen ja drauf reagieren. Tilo: das stimmt, aber an manchen Stellen finde ich das dann auch ganz angenehm, wenn ich nicht die ganze Zeit schreien muss. Ich war da neulich irgendwo im Netz unterwegs und da waren ein paar Tausend Kinder, die irgendwie genervt haben. Die haben sich auch erstmal als Leute über 70 ausgegeben und haben dann, in ihrem Spielchen, auch noch zensiert. Das hat mich am meisten gestört. Es gab keinen wirklichen Diskurs, bis ich dann angefangen habe, sie Nazis zu nennen. Dann bin ich halt nicht mehr ständig ´rausgeflogen, irgendwann dann auch.

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Besucher: (rechts) ein Nachteil dieser Diskussionsform im Internet ist auch, dass von der Mimik und von der Gestik überhaupt nichts rüberkommen kann. Das ist in einem Gespräch sehr wichtig.
Tilo: ein bisschen Mimik geht. Kann ich kurz den Schreiber haben? ; -) Wolfgang: Emoticon. Besucherin: ah ja, wenn man mit Bild arbeitet. Torsten: oder diese typische Groß-, Kleinschreibe oder der wahnsinnige Überfluss an Ausrufezeichen. Das verstehe ich nicht. Besucher: ich bin jetzt nur vom Text ausgegangen. Antwort aus der Runde: das ist Text! Tilo: ein Semikolon, Bindestrich und Klammer zu. Besucher: ach so. Wolfgang: entweder dreht man´s im Kopf rum, oder bei manchen Systemen wird es automatisch in so ein gelbes Bildchen umgewandelt, was genau das ausdrückt. Alexandre: wobei man auch sagen kann, Gestik ist sicherlich eine Ebene der Kommunikation und dann gibt es auch nichtsichtbare Schichten. Je nachdem, wie offen man für so schöne Dinge ist, wie die Aura. Wolfgang: das ist auch beim Telefon schon weg. Torsten; da ist zumindest noch das Timbre in der Stimme. Besucherin; ja, das meinte ich. Eigentlich ist die Stimme noch ziemlich bedeutend. Torsten: aber ich habe auch am Telefon wahnsinnige Probleme, weil ich das Gegenüber nicht sehen kann. Ich weiß nicht, was das für eine Person ist, wenn ich jemanden Fremdes anrufen muss. Ich weiß nicht, was das für eine Person ist und wie sie reagieren könnte. Das finde ich wahnsinnig schwierig, so einen Erstkontakt aufzubauen. Besucherin: da muss man länger sprechen, dann kommt man schon dahinter. Torsten: aber im geschäftlichen Umfeld ist es nicht so. Da möchte man schnell mal irgendwas wissen. Kurd: ist das nicht ein bisschen übertrieben, dieses Problem. Denn man hört doch an der Stimme viel. Aber genauso sieht man es an der Schrift, bei der Syntax und so, da merkt man doch unheimlich viel. Ich finde das ist so ein Totschlag-Argument, wenn man sagt: da kommt nichts rüber, sondern nur die Wörter. Ich merke doch unheimlich viel an der Wortwahl, an der Stimme, usw. Also ich finde, das Argument bringt nicht so viel, obwohl es natürlich stimmt. Roland: der Umgangston ist schon teilweise ein anderer. Hauptsächlich durch die Anonymität, oder die gefühlte Anonymität. Dass dann doch jemand schneller mal in ein Forum ´reinschreibt, was er in der Öffentlichkeit nicht sagt, das ist Blödsinn. Torsten: was natürlich an einem schwarzen Brett schnell mal dazu geschrieben werden kann. Aber unter Umständen gehst du auch das kalkulierte Risiko ein, wenn du “das ist Blödsinn“ schreibst, dass dich irgendjemand schon unterstützen wird bei den Leuten, die das Forum lesen. Vielleicht werden sich andere Leute zusammentun und sagen: “ach nee, ist gar kein Blödsinn!“ Aber die Chance ist relativ hoch, bei tausend Lesern oder so, dass da mit Sicherheit ein paar ihren Senf dazu geben und dich unterstützen. Und das willst du ja. Du willst ja bestätigt werden in dem, was du schreibst. Tilo: bestätigt, korrigiert oder total verworfen. Es ist auch o.k. einen Diskurs zu haben, wo man gegeneinander spricht. Aber was du, Kurd, grade meintest. Die Schrift hat ja auch noch diese historische Konnotation von: dass man da total viel Zeit reinsenkt, bis man mal was zu Papier gebracht hat, was man dann freiwillig ´rausgibt. Und im Netz geht die Tendenz dahin, alles immer möglichst kurz zu machen. Auch möglichst schnell konsumierbar zu machen. Und wenn ich mir Mühe gebe, sprachlich Sachen einzubauen, werden die von 90 % der Leute einfach überlesen werden. Ich mache das trotzdem, gehe aber nicht davon aus, dass allzuviele Leute mitkriegen, dass ich mir für diese zwei Absätze wirklich Mühe gegeben habe. Kurd: kannst du nicht auch glauben, dass es nicht das ist, sich auf die Formulierung einzulassen, sondern man will gar nicht wissen, was der Andere meint. Dann kann man es so interpretieren, wie man es selber meint. Auch grade im schnellen Antworten, da steht unheimlich viel von dir drin. Da steht gefährlich viel d´rin. Besucherin: vielleicht steht sogar mehr drin. Weil das andere ja formuliert und überlegt ist. Wolfgang: doch, da sollen schon mal Freundschaften für alle Zeiten kaputtgegangen sein, weil jemand ganz schnell geantwortet hat, und das dann auch noch an alle geschickt hat. - Lachen - Antje: oh, da stand er plötzlich allein auf der Welt. Kurd: wie wir alle.

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Roland: (rechts) wenn du sagst, dass es gar nicht mehr so ausführlich gelesen wird, das ist dann aber auch eine andere Form der Kommunikation. Wenn es nicht mehr um den Inhalt geht, sondern nur um´s Reden.
Das gibt´s ja und ist auch eine Art von Redekultur, wenn Leute sich treffen ... Tilo: Twitter! Roland: das gibt´s aber auch in Zweiergesprächen. Das hört man oft, dass sich Leute sehr intensiv und angeregt unterhalten, aber sich nicht zuhören. Wolfgang: Montagsbesprechungen in Betrieben. Alle wissen, was alle sagen. Alle wiederholen, was alle sagen. Antje: oder wenn sich Leute in der Bahn oder in der U-Bahn unterhalten. Unheimlich laut pfeffern die alles in die Runde und eigentlich ist es völlig uninteressant. Die daneben sitzen und gemeint sind, finden es auch nicht interessant. Dieses ´Sich produzieren´ finde ich wahnsinnig. Kurd: Künstler, produzieren die sich auch? Oder haben wir als Künstler, oder künstlerisch Arbeitende, eine andere Verantwortung? Torsten: das ist doch die Jobbeschreibung: man muss sich doch als Künstler produzieren. Das ist der Beruf, den der Künstler hat, oder nicht? Das Innere nach außen kehren. Kurd: komm, wir sitzen jetzt hier in der Konversation zusammen, also stimmt es nicht. Alexandre: aber der Künstler produziert sich, um eine Reaktion hervorzurufen. Torsten: es muss ja nicht die Reaktion sein. Man kann auch Künstler für sich selber sein. Aber irgendwie möchte man das, was einem am Herzen liegt, oder was in einem drin ist, nach außen bringen. Ob das nun von der Öffentlichkeit angenommen wird, ist für den Künstler an sich erstmal egal. Besucherin: der Künstler braucht einen Betrachter. Torsten: nee, finde ich nicht. Viele machen das auch zur Selbstfindung. Besucherin: dann sind sie aber keine offiziellen Künstler. Dann ist man für sich selber ein Künstler. Kurd: darf ich mal unterbrechen. Hat einer einen schönen Bleistift? Alle unterschreiben ein Terpsichore-Heft für Wolfgang, der die konversationelle Runde verlassen muss, um seinen Zug nach Berlin zu erreichen. Wir anderen machen eine kleine Pause.

Besucherin: wir machen noch ein bisschen mit, wollen nicht einfach so spurlos verschwinden. Kurd: wir haben beim Kaffeetrinken gesagt, wir müssten vielleicht noch über den fabrizierten Commonsense sprechen. Torsten: vielleicht müsstest du das kurz mal erklären. Kurd: also kurz oder lang? Roland: erstmal kurz, und dann fragen wir nach. Alle lachen. Kurd: also Commonsense ist was Wichtiges. Wenn man ihm sich nicht annähert, kommt man in die Klinik. Tilo: oder in die Ausstellung! Lachen von den Beteiligten. Kurd: wir sind ja Künstler, oder arbeiten künstlerisch. Was können wir tun? Da dachten wir, der Künstler arbeitet ja am Commonsense. Alexandre: oder gegen ihn? Kurd: am Commonsense! Na ja, gut, dagegen oder dafür. Was sonst. Das tut er doch. Deshalb müssen wir uns darum kümmern. Wenn da steht: fabrizierter Commonsense. Gibt es den fabrizierten Commonsense? Was ist der fabrizierte Commonsense? Alexandre: mir scheint ein Commonsense ist zurzeit durch Wirtschaft und Firmen gefördert. Man möchte Dinge haben, die sie produzieren lassen. Wenn ich sage - wenn alle sagen - ich brauche kein Handy mit Facebook, Speicher, mit Video und Kamera, dann gibt es keinen Markt dafür. Wenn ich aber als Firma das fördere, so dass die Leute denken, sie brauchen das, dann wird das auch verkauft. Und das erstaunt mich wirklich im Moment, wie wenig Urteilsvermögen die Jugendlichen haben, um sagen zu können: das bräuchte ich eigentlich gar nicht. Sondern sie lassen sich tragen von diesem oberflächlichen “Ich muss das haben“. Torsten: das ist eine Marktmacht, die Apple im Moment wahnsinnig vorantreibt. Also wenn Apple im Moment ein neues Produkt auf den Markt bringt und scheinbar die Bevölkerung überhaupt nicht überlegt, wozu brauche ich das, sondern: haben! Dass die Leute sich ein Produkt kaufen, was eigentlich sinnlos ist. Roland: das haben wir eben schon gesagt. Es ist im Grunde so´ne Art Mode, bei der gesagt wird: “das ist jetzt angesagt!“ und alle rennen hinterher. Bei Mode fällt mir selber das sehr stark auf, dass ich das nicht will. Dass mir nicht einfällt, mir was vorschreiben zu lassen. Wir haben eben auch schon gesagt, dass man das in manchen anderen Bereichen vielleicht gar nicht so wahrnimmt. Und dann doch wieder die aktuellen Begriffe benutzt und sich plötzlich anders ausdrückt. Torsten: du verschließt dich ja jetzt vor der Kleidungsmode-Vorschrift, aber anderen Moden, würde ich sagen, geht man trotzdem hinterher. Also Technologie-Moden z.B. Man will ja auch immer die neuesten Computer haben. Alexandre: nee! Antje: oder auch Umgangs-Verhalten. Man möchte ja nicht aus der Rolle fallen, sondern verhält sich so, wie es erwartet wird. Ohne dass man darüber nachdenkt. Das kommt automatisch. Wenn bestimmte Wörter in sind, dann wird man die auch immer mal einstreuen. Kurd: sonst wirst du nicht verstanden. Antje: und auch nicht akzeptiert. Sonst denkt man, was ist denn mit der los? Torsten: das ist das Erstaunliche. Wenn man wirklich sagt - ich verstehe es jetzt bewusst auf Facebook bezogen - ich kenne es, ich weiß was es ist, aber ich brauche es nicht und ich will es auch nicht. Dann gucken einen die Leute komisch an. Antje: als hättest du einen an der Waffel. Torsten: weil man nicht mit der Zeit geht. Aber wenn man dann erzählt, was man beruflich macht und sagt: hallo, ich bin euch eigentlich noch einen Schritt voraus und kann die Konsequenzen absehen, die so ein Umgang mit Technologie hat, dann habe ich das Gefühl, dass das so ´ne Sache ist, die bei vielen Leuten überhaupt nicht durchsickert.

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Alexandre: (links) es fordert Mut, zu sagen, ich bin gegen den Trend.
Das ist das Problem. Besucherin: das ist es. Und die Werbung ist so mächtig. Das was auffällt ist, man muss das kaufen, was vorhanden ist. Wenn ich was Anderes haben will, kriege ich es nicht. Es wird nur das angeboten. Besucher: in der Mode ist es ja so. Da gibt es einen bestimmten Trend und dann kriegt man nur das. Torsten: ein Superbeispiel ist Milch. Ich weiß nicht, ob das mal aufgefallen ist. Es gibt keine ordentliche Milch mehr. Besucherin: alles ist übermäßig haltbar. Die Frischmilch ist länger haltbar als normale. Torsten: es gibt kaum noch Unternehmen, außer diesen Bioläden, die frische Vollmilch im Angebot haben. Es gibt nur noch diese länger frische Milch, weil der Markt oder die Unternehmen gesagt haben: wir brauchen Milch länger frisch. Aber die schmeckt nicht! Man muss dann wirklich speziell diese alten Produkte kaufen, um den Firmen zu sagen: nein, wir wollen nicht akzeptieren, wie mit uns umgegangen wird. Alexandre: ich habe vor drei Wochen versucht, einen Verstärker zu kaufen. Mein Verstärker war 25 Jahre alt und ich konnte den nicht mehr reparieren. Dann habe ich gedacht, ich muss was Neues konsumieren. Aber es war schwierig, einen zu finden. Ich habe nur einen ganz normalen Verstärker gebraucht, kein Heimkino mit Dolby 5.1, 5.2 . Ich habe doch einen gefunden. Von Hunderten Erzeugnissen waren es noch 3 Modelle in dem Laden, die dem entsprachen, was ich suchte. Das hat mich wirklich schockiert. Besucherin: Aber was heißt das? Dass wir eigentlich abhängig sind vom Angebot. Wir können gar nichts anderes kaufen, weil wir nur das kriegen, was uns angeboten wird. Torsten: ja, das ist ja auch normal. Man kann ja nur das kaufen, was produziert wird. Besucherin: und das was angeboten wird, wird von den Firmen und von der Werbung unterstützt. Wir sind da machtlos. Torsten: was ich schade finde ist, dass das Angebot so schnell wechselt. Ich weiß, meine Mutter hat einen Fernseher gekauft, 1980, 1985, das war so ein Nordmende-Teil. Das Ding hat 25 Jahre gehalten. Ich habe mir vor 2 Jahren einen Fernseher gekauft und gehe davon aus, dass das Ding nächstes Jahr kaputt ist. Besucher: das wird ja bewusst so produziert. Torsten: drei, vier Jahre ist maximale Lebensdauer heutzutage für ein elektrisches Gerät. Roland: früher gab es ja am Fernseher noch eine Wartungsklappe. Da konntest du verschiedene Sachen austauschen. Torsten: es gab Schaltpläne mit dabei. Tilo: ganz viele Sachen fallen mir grade ein. Erstmal zur Milchtüte. Es gibt keine Milchtüten mehr ohne Plastik. Ich habe früher einfach ´ne Milchtüte genommen, sie an einer Seite aufgeklappt und mit der Schere eingeschnitten. So konnte ich mir den ´Ausgießer´ ausklappen. Ich konnte ihn aber auch zurückklappen und dann den übrig gebliebenen Schnipsel oben d´rüber stülpen. Damit hatte ich eine wieder verschließbare Milchtüte. Inzwischen gibt´s diesen ganzen Kram immer nur mit Pappe und Plastik. D.h. eigentlich würde ich das gerne ins Altpapier schmeißen, aber es muss woanders hin. Das ist das eine. Dann der Verstärker. Man kann ins Profi-Segment wechseln. Das ist gar nicht mal teurer. Dann hat man sozusagen diesen Wahnsinn nicht mehr, wo man für möglichst wenig Geld möglichst viele Drehknöpfe kriegt, sondern man hat die minimale Anzahl von Drehknöpfen, für ungefähr den gleichen Preis mit einer viel, viel besseren Leistung. Das erfordert natürlich, dass man sich damit auseinandersetzt, um zu wissen, was man denn eigentlich möchte. Es ist auf jeden Fall erstmal eine mentale Hürde, wenn man sich damit neu auseinandersetzen muss. Alexandre: also aus dem Commonsense ´rauszukommen? Tilo: ja, auch von der Mode sozusagen wegzukommen. Das IPhone ist ein anderes, ganz gutes Beispiel. Man hat diese IPhones und die sind eigentlich unglaublich teuer. Also das ist ein Modespielzeug, aber es kostet irrsinnig viel Geld. Jetzt zu sagen: ich möchte was anderes, das wird total schwierig. Ich kann mir natürlich ein Telefon, wie meins, für 19 Euro kaufen. Das kann gar nichts, außer telefonieren. Das ist auch total super. Aber wenn man ein bisschen was möchte und dann auch noch anfängt nachzugucken: o.k. so´n IPhone, das telefoniert erstmal immer, wenn ich das anschmeiße, über ´ne SMS zu der und der Firma und das wird mir irgendwo in meiner Telefonrechnung versteckt, Dann hole ich mir ein Androit-Telefon, wenn ich kein IPhone will, und irgendwie werden meine Daten alle zu Google geschickt, was ich vielleicht auch gar nicht möchte. Eigentlich wollte ich aber vielleicht schon so´ne Kiste haben, bei der ich ein GPS habe und zur Not auch telefonieren kann und dann bin ich schon auf eine gewisse Bandbreite eingeschränkt. Und da komme ich dann total schwer ´raus. Ich kann mir natürlich so ein Blackberry holen, damit mich dann alle Geheimdienste abhören können. Antje: es gibt ja noch ein praktisches Beispiel: Damenschuhe. Wenn man Frauenschuhe kaufen will, findet man überall nur Schuhe mit solchen Riesenabsätzen. Man muss richtig suchen, um flache Absätze zu finden. Dann sieht man auch immer viele Frauen, die auf diesen hohen Absätzen laufen. Dabei verschiebt sich die Hüfte und man muss hinterher wahrscheinlich seine Hüften operieren lassen. Dann haben die Ärzte wieder zu tun. Ich finde das verrückt. Torsten: ja, das ist ´ne Verschwörung. Besucherin: ja, Umsatz ist wichtig. Es geht ja um die Wirtschaft. Antje: ja, aber dass man auch dabei kaputt gemacht wird. Besucherin: die Moden leben nicht lange. Es kommt immer was Neues und wir sind eigentlich dazu verführt, immer zu kaufen und wegzuwerfen. Zu kaufen und wegzuwerfen, um die Wirtschaft zu unterstützen. Man müsste eine ganz andere Ideologie einsetzen. Aber das können wir ja nicht ändern. Besucher: die Qualität wird ja auch schlechter. Alexandre: Ich kann mal eine Anekdote einbringen, aber ich fand die absolut aussagekräftig. Ich habe Weihnachten zwei Patenkinder besucht. Ich komme rein ins Haus, stelle meinen Rucksack auf den Boden. Das erste Patenkind kommt ´runter aus seinem Zimmer, läuft an dem Rucksack vorbei, grüßt mich und sagt: ach, du hast noch den gleichen Rucksack wie letztes Jahr. Dann kommt das zweite Patenkind runter aus seinem Zimmer, läuft an dem Rucksack vorbei, grüßt mich und sagt: ach, du hast ja den gleichen Rucksack wie letztes Jahr. Zwei Patenkinder, 18 und 20 Jahre alt. Das Allerwichtigste, was sie zuerst mitkriegen sind Gegenstände. Was hat er? Das hat mich wirklich umgehauen, was sie da für einen Scanner, für einen Fokus haben. Ich habe gesagt: selbstverständlich habe ich den gleichen Rucksack. Wieso sollte ich denn einen anderen haben, der ist noch nicht kaputt. Antje: und was haben die da gesagt? Alexandre: die finden das komisch. Genau so wie sie das komisch finden, dass ich mit meinem Gehalt immer noch ein ganz doofes, billiges Handy habe oder seit 10 Jahren den gleichen PC. Das können sie nicht nachvollziehen.

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Kurd: (Mitte) was du gesagt hast, das war doch das Treffende. Das ist eine Ideologie der Wirtschaft und die macht den Commonsense.
Sie hat die Möglichkeit dazu. Aber was du für Vorstellungen hast, daran sind sie nicht interessiert. Deine Vorstellungen sind da nicht drin. Ja, was nun? Sind wir zufrieden? Oder wie? Antje: du hattest vorhin gesagt, es gehört schon Mut dazu, sich gegen den Commonsense zu stellen, aber das Problem ist, man merkt es unter Umständen gar nicht. Das heißt, man macht es und es nützt einem der Mut nichts, weil man da so reinschliddert. Man ist drin und denkt, das wäre das, was man will. Alexandre: und grade bei Internetkommunikation ist es das Bedenkliche, dass diejenigen, die die Technologie um das Internet organisieren, die Gleichen sind, die die Verkaufsinteressen haben. Wie soll ein Kind vor seinem Bildschirm erzogen werden, um sich Gedanken zu machen, ob etwas Sinn macht oder nicht. Das ist doch schon an der Wurzel gefälscht. Roland: ja, das muss eben erzogen werden. Antje: aber von wem? Besucherin: das wäre eine Aufgabe der älteren Generation. Bei den zweien mit dem Rucksack, da hätte ich zum Beispiel gesagt: willst du meinen Rucksack geschenkt bekommen? Dann hätten sie vielleicht reagiert, hätten gesagt: nein, der ist mir zu alt. Oder ich will ihn dir nicht wegnehmen oder es ist ein Teil von dir. Dann wäre man vielleicht einen Schritt weiter. Kurd: oder: der Rucksack ist geil! Torsten: ja, alt ist ja auch in, habe ich mal gehört. Besucherin: vielleicht akzeptieren wir es einfach zu sehr und provozieren auch die Jüngeren nicht so, dass sie ein bisschen denken. Alexandre: ich denke schon, dass wir was tun können, dass sie ihre Werte in Frage stellen. Ich habe schon mit den gleichen Patenkindern über die PC-Anschaffung oder Handy-Anschaffung gesprochen und habe versucht, ihnen rüberzubringen, dass im Grunde jede Sache, die man kauft, ärmer macht. Und dass man dadurch in eine Zwickmühle gerät, wo man mehr arbeiten oder leisten muss. Dass das aber nicht unbedingt mehr Glück bringt. Also diese Zwickmühle muss man deutlicher machen, glaube ich. Besucherin: und dass es auch entsorgt werden muss und dass durch die Entsorgung auch die Umwelt kaputt geht. Antje: und dass man dabei selber mit seinen Vorstellungen und Wünschen verschwindet. Man kauft das alles, aber es hat vielleicht gar nichts mit mir zu tun. Will ich das oder will ich das nicht. Besucherin: die Tendenz ist, dass man sich angleicht. Es kommt eine Nivellierung der Wünsche und der Menschen. Das ist so erschreckend. Die Persönlichkeit, also der Mensch alleine, wird immer weniger berücksichtigt. Tilo: es gibt ja auch noch die verschiedenen Apps, die man sich dann runterladen kann. Torsten: aber auch dort, genauso wie bei den Freunden bei Facebook, gibt es diese Machtsituation, diese Statusgeschichte: ich habe mehr Apps als du. Als ob das irgendeine Aussage ist. Tilo: das heißt nur, dass man nicht wirklich weiß, was man damit macht. Besucher: als ich den Begriff gelesen habe, habe ich als erstes gedacht, gibt es einen fabrizierten Commonsense in der Kunst? Dass sich die Künstler bewusst einer Mode aussetzen.

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Torsten: (links) es gibt bestimmt Kunstrichtungen, die genau auf eine Mode aufspringen.
Antje: ja, also auf das, was sich verkauft. Bekloppt ist ja, dass Kunst ein Geschäft ist. Es muss richtig über die Museen ´in´ gemacht werden, damit es einen höheren Preis erzielt und besser verkauft werden kann. Also es ist eine richtige Mode. Torsten: Keith Haring ist eigentlich die Perversion der Kunst. Dass der wirklich überall mit seinen blöden Strichmännchen ist. Das sind nicht nur Poster, der hat Shops. In San Francisco und New York gibt´s, glaube ich, richtige Shops, wo man nur seine Sachen kaufen kann. Es gibt, glaube ich, von Al Gige (?) gebrandete Handys, wo Keith Haring immer als Startlogo auftaucht. Ich schätze mal, dass er für jedes Mal schön die Tasche aufhält. Besucher: die Frage ist, ob ein Künstler, wenn er anfängt, bewusst damit anfängt? Eigentlich will er doch was sagen, will sich ausdrücken. Aber wenn er dann gleich daran denk, ich will damit Geld verdienen? Torsten: aber Andy Warhol hat bewusst mit der Reproduktion gearbeitet. Antje: man muss auch mal sagen, dass das Problem ist, dass Künstler überhaupt nicht bezahlt werden. Wo kriegen die Geld her? Das heißt, die müssen ja sehen, wie sie überleben. Und dann geht das in diese Richtung. Besucherin: Reproduktion war die Möglichkeit, dass viele von ihm ein Bild haben konnten. Das war, glaube ich, primär bei Andy Warhol. Torsten: ich glaube auch, bei den wenigsten Künstlern geht es am Anfang - bitte unterbrecht mich - wirklich darum, die Kohle zu scheffeln. Antje: das denke ich auch. Bloß, die müssen ja sehen, wie sie überleben können und dann kommen sie in diese Zwickmühle. Torsten: aber es muss nicht sein, dass ein Bild für Millionen bei Sotheby's versteigert wird, so dass quasi ´ne ganz kleine Gruppe sich den Raum mit irgendwelchen Werken voll stellen kann. Das kann nicht Sinn der Kunst sein. Roland: Commonsense, damit verbinde ich sowas wie Sinnhaftigkeit. Sense ist Sinnhaftigkeit. Dann würde das in meinem Verständnis Mode auch schon nicht mehr treffen. Kurd: Commonsense ist in den 1700er Jahren im schottischen Begriffswörterbuch zu finden - ich habe auch mit Wolfgang drüber gesprochen. Der warnte mich vor dem Begriff Commonsense und verstand ihn so, d.h. er übersetzte ihn mit ´gesunder Menschenverstand´. Und sagte, man kann sich überhaupt nicht mehr mit anderen, aus England z.B., unterhalten, denn die sehen sofort: ah, das ist eure Nazi-Vergangenheit. Was ja nicht stimmt! Ich kenne das auch, dieses Argument. Die Nazis sprachen nicht vom ´gesunden Menschenverstand´ sondern vom ´gesunden Volksempfinden´. Das ist wieder was anderes. Antje: ach so, wenn das ´gesund´ auftaucht, dann ist man gleich bei den Nazis gelandet. Kurd: der ´gesunde Menschenverstand´ ist ein älterer Begriff. Aber das Wort gesund beinhaltet: es richtet sich schon alles selbst. So wie die ´Unsichtbare Hand´. Die ´Unsichtbare Hand´, der Markt, der sorgt schon dafür, dass alle gut zurechtkommen. Auch die Ärmsten. Antje: aber eigentlich ist auch klar, dass es sie nicht gibt, die ´Unsichtbare Hand´. Dass da auch immer Interessen sind, die das manipulieren und dass sich das nicht unheimlich toll von alleine regelt. Kurd: als ob es möglich wäre, dass es im Denken Gesundes oder Ungesundes gäbe. Torsten: das ist die semantische Übersetzung davon, aber Commonsense hat ja nichts mit ´gesund´ zu tun. Das hat ja mit ´allgemein´ zu tun. Das ist die allgemeine Empfindung. Jeder muss das wissen. Aber es muss ja nicht richtig sein. Im Deutschen ist das Wort ´gesunder Menschenverstand´ ein viel positiver belegtes Wort. Besucherin: außerdem ist er ja noch fabriziert. Also dass die Menschen jetzt etwas kaufen, weil es das Richtige ist. Torsten: und da passt wieder das ´Common´ mehr, als das ´gesund´. Alexandre: aber so ist vielleicht der Stand heute: dass der Mensch krank ist oder nicht mehr Mensch ist. Oder noch nicht Mensch gewesen ist. Antje: meinst du, das war mal anders? Was heißt der Stand heute? Meinst du, das Prinzip war mal anders? Alexandre: ich weiß nicht, aber Philosophen der griechischen Zeit haben sich vielleicht mehr auf essentielle Fragen und Gefühle fokussiert. Sich mit wahreren Sachen befasst, als mit IPhone. Und deshalb stelle ich in Frage, ob wir, statt hin zu einer Entwicklung die zur Verbesserung der Menschheit führen würde, nicht auf einer falschen Bahn sind. Und dass es irgendwann doch zurückkehren muss zu was anderem. Besucher: aber das machen heutige Philosophen ja immer noch. Die konzentrieren sich ja nicht aufs IPhone. Alexandre: aber mit dem Unterschied, dass diese falschen Ideen oder diese Irrwege, eine wahnsinnige Verbreitungskraft durch die Medien oder die Technologie haben. Was früher nicht möglich war. Früher hat ein Philosoph vielleicht eine gewisse Streuung gehabt, indem er gute Ideen hatte, dazu die Aura. Vielleicht konnte er durch seine menschliche Kraft was verbreiten. Antje: aber irgendwann kam die Kirche, alle Leute gingen in die Kirche und dann wurde von der Kanzel aus auch so ´ne Art Commonsense verbreitet. Irgendwelche Medien gab es immer schon, um die Köpfe vollzustopfen. Kurd: in der Antike auch. Torsten: Brot und Spiele. Kurd: Sokrates fand es toll, dass er auch ´Hoplit´, der Fußsoldat, war. Bis zu seinem Lebensende. Alexandre: also die Scala der Verbreitung ist schon so groß wie nie. Heute stellt man eine Nachricht irgendwo ins Web und dann können Millionen Menschen innerhalb von einer Minute diese Information bekommen. Torsten: ja, und am nächsten Tag ist sie wieder vergessen. Kurd: ja, eben. Das, was von der Kirche kam, das hat man vielleicht nicht so schnell vergessen. Antje: weil es jeden Sonntag wieder kam. Besucherin: weniger Information. Da war alles ein bisschen weniger und das haben die Leute auch behalten. Heute leben wir ja mit soviel Information, dass man das alles gar nicht mehr behalten und verarbeiten kann. Kurd: dafür ist es aber schneller. Alexandre: schnell-lebiger. Besucherin: deswegen sind wir ja so anfällig. Wir müssen immer auf dem Laufenden sein. Und dann stehen wir da, um aufzunehmen und das andere wieder zu vergessen und wieder aufzunehmen und so ist dann unser Leben. Tilo: das ist ganz schön. So wird man geistig ein bisschen besser durchgewaschen. Besucher: aber nur im Sparwäschegang. Besucherin: am Ende muss man wissen, auf was man steht, damit man die Füße noch auf dem Boden behält.

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Antje: ich wollte was ganz anderes vorschlagen, wenn ihr dazu Lust habt. Und zwar ist das ja heute das letzte Mal und ich würde ganz gerne nochmal einen Bogen in die Geschichte schlagen.
Dahinten liegt ja ein Buch. Wir hatten uns mit der Geschichte auseinandergesetzt, als wir Konversationskunst machten, weil alle Leute sagten: Was ist denn daran Kunst? Wir dachten daraufhin: ja, was machen wir da eigentlich, guckten in die Geschichte und merkten, das hat´s immer schon gegeben. Also bei den Griechen als ars sermonis. Aber so richtig fing es in der Renaissance an bei Elisabetta Gonzaga, weil sie salonière Strukturen in ihrer Sala delle Veglie entwickelt hat. Und darüber hat Baldassare Castiglione ein Buch geschrieben, das heißt: Il libro del Cortegiano, Das Buch des Hofmannes. Und das liegt dahinten in der Vitrine. Darin werden auch Konversationsspiele beschrieben, die sie damals gemacht haben und eines dreht sich darum: wie kann der ideale Hofmann aussehen. Also es ging darum, bestimmte Umgangsformen zusammenzutragen oder einen Habitus zu beschreiben und dadurch, dass es Worte dafür gab, diesen Hofmann lebbar zu machen. Ich dachte, es wäre ganz schön, wenn wir jetzt hier spielerisch anfangen würden festzustellen, wie der ideale Konversant oder die ideale Konversantin aussehen könnte. Wir können mal kurz das Buch angucken und uns dann hier zusammentun und eine Art Rundum-Geschichte erzählen. JedeR von uns sagt nicht mehr als drei Worte und der Nächste oder die Nächste schließt wieder mit drei Worten an. Wir tragen auf diese Weise ein bisschen zusammen, wie die ideale Konversantin/der ideale Konversant aussehen könnte. Das wäre ein schöner Abschluss. Wollen wir das machen? Alle sind einverstanden. Wir gehen in den hinteren Raum, sehen uns das Buch von Castiglione an und lassen uns von seiner Aura beflügeln. Dann gehen wir zurück an den runden Tisch und das Konversationsspiel beginnt.

Antje: also jeder nur drei Worte. Kurd: das ist aber wenig, nur drei Worte. Soll ein Satz entstehen? Antje: ja klar! Es sollen Sätze entstehen. Alexandre: ich dachte, nur eine Auflistung von Eigenschaften. Antje: nein, es sollen richtige Sätze entstehen. Wir fangen an und der Satz verändert sich natürlich immer mit dem Nächsten. Also man hat eine bestimmte Vorstellung, aber der Nächste auch und dann verändert sich das Gesagte in eine unkonventionelle, poetische Richtung. Wir können es doch mal versuchen. Wenn es nicht geht, lassen wir es wieder. Spiel ist ja immer nur eine Anregung und entweder geht es oder es geht nicht. Alexandre: no risks, no friends. Antje: ich kann ja mal anfangen. Besucherin: also sie sagen drei Wörter? Besucher: und es muss einen Sinn ergeben? Antje: es muss immer nur den jeweiligen Sinn ergeben. Jeder schließt an mit seinem Sinn und irgendwann ist der Satz zuende. Wir müssen es einfach mal probieren. Ich habe es so auch noch nie gespielt. Das habe ich mir heute Nacht ausgedacht. Alle lachen. Alexandre: dann brauchen wir ein großes Blatt. Antje: nein, wir brauchen kein Blatt. Wir sprechen. Geschrieben haben wir so was schon mal gemacht. Mal sehen, wie das ist, wenn jeder hört, was vor sich geht.

Antje: Vorstellbar ist doch Besucher: dass wir dieses Besucherin: gut bewältigen können. Tilo: Erfreulich sind Eigenschaften Roland: die der Konversation Kurd: dienen in dem (falsch geschrieben in zwei Wörtern) Alexandre: die Provokation gefördert wird. Torsten: Doch der Konversationist Antje: sollte jedesmal für Besucher: weitere Diskussionen sorgen Besucherin: Richtig führen und (den - Stop! rufen die Anderen) Tilo: vielleicht auch mäandern Roland: um das Thema Kurd: den fabrizierten Commonsense Alexandre: in Frage zu Torsten: stellen Antje: was aber eigentlich Besucher: nicht immer geht. Besucherin: und sehr schwer (ist - wieder einer zu viel) Tilo: aufgefasst werden kann. Roland: Aber als Ziel Kurd: die Fabriziertheit zu Alexandre: erkennen, schließlich aber Torsten: ein Fazit zu Antje: ziehen, nicht unbedingt Besucher: für alle verständlich. Besucherin: ist und deshalb Tilo: auch nie endet. Roland: In diesem Sinne Kurd: sollten wir Künstler Alexandre: nebenbei gesagt auch Torsten: die Aufgabe haben Antje: die Idee Publikum Besucher: weiter zu verbreiten. Alle lachen, weil es das Gegenteil ist, von dem was Konversationskunst anstrebt. Besucherin: um die Wahrheit Tilo: als nichtexistent zu Roland: widerlegen und zwar Kurd: lasst Publikum los! Alle klatschen. Alexandre: das war ein guter Abschluss.

Besucher: das ist ja erstaunlich, was man da zustande bringt. Antje: es geht! Torsten: ich dachte auch zuerst, dass drei Worte zu wenig sind. Antje: aber ich glaube, es ist prima. Die Anderen finden das auch. Tilo: man kann die Länge bestimmt variieren. Mal nur eins oder auch mal vier. Antje: ja, oder auch mal noch mehr Worte. Besucherin: aber wenn man es auf drei begrenzt, ist es besser. Man muss es schon begrenzen, weil sonst der Nächste ja gar nicht mehr dran kommt. Tilo: drei Worte wären total ideal für Englisch. Antje: wir haben öfter schon mal ´ein Satz reihum´ gespielt. Jeder sagt einen Satz und wer keinen weiß, kann auch gleich an den Nächsten weitergeben. Das geht auch ganz gut. Besucherin: aber wenn es ein Satz ist, ist schon ein Inhalt da. Dann ist schwerer anzuschließen. Alexandre: drei Wörter bringen einen Freiheitsgrad. Antje: und man kann auch immer schön widerlegen. Das fiel mir bei Tilo auf, dass er das unheimlich gut umdrehen konnte. Tilo: wobei ich zwischendurch mal so´n paar Worte wegsägen musste, damit ich den Bogen überhaupt noch kriegen konnte. Antje: ich finde, es ging erstaunlich gut. Alexandre: es war witzig, ja! Auch die Anderen stimmen zu. Besucher: hätte ich nicht gedacht. Antje: nee, ich auch nicht. Ich dachte, mal probieren. Besucherin: das ist ein schöner Schluss. Also wir verabschieden uns. Wir wollten ja eigentlich was ganz anderes machen. Alle lachen. Antje: schön, dass sie geblieben sind. Besucherin: es hat auch Spaß gemacht. Ich bedanke mich. Antje: danke gleichfalls.

Abschließend noch einmal den zusammenhängenden Text des Spiels ´Der ideale Konversant´: Vorstellbar ist doch, dass wir dieses gut bewältigen können. Erfreulich sind Eigenschaften, die der Konversation dienen, indem die Provokation gefördert wird. Doch der Konversationist sollte jedesmal für weitere Diskussionen sorgen. Richtig führen und vielleicht auch mäandern, um das Thema, den fabrizierten Commonsense, in Frage zu stellen. Was aber eigentlich nicht immer geht und sehr schwer aufgefasst werden kann. Aber als Ziel die Fabriziertheit zu erkennen, schließlich aber ein Fazit zu ziehen, (was) nicht unbedingt für alle verständlich ist und deshalb auch nie endet. In diesem Sinne sollten wir Künstler nebenbei gesagt auch die Aufgabe haben, die Idee Publikum weiter zu verbreiten, um die Wahrheit als nichtexistent zu widerlegen und zwar: lasst Publikum los!

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