Fuer eine politische Verstaendigung mit Rousseau als hypothetischem Ausgangspunkt (c)taureck

Rousseau widerspricht folgenden Annahmen:
1. Die Menschen sind von Natur bösartig.
2. Sie neigen von Natur aus zur Vergesellschaftung.
3. Künste und Wissenschaften verbessern die Menschen moralisch.
4. Luxus verschafft den Armen Arbeit.
5. Der Gesellschaftsvertrag ist ein Unterwerfungsvertrag.
6. Knappheit lässt sich durch Arbeit beseitigen, die Reichtum und Werte schafft.
7. Volkssouveränität wird in einer durch Wahlen erzeugten Repräsentation des Volkswillens praktiziert.

Diese sieben Annahmen gelten nicht nur noch heute, sie dürften in variierter Formulierung nahezu Basis aller öffentlichen Entscheidungen sein, etwa in folgender Weise:

1. Außerhalb von Gesellschaften ohne Sanktionen ihrer Ordnungen herrscht gewalttätige Anarchie. Ebenso waren idyllische Verhältnisse der Naturvölker (Samoa laut Magret Mead) Folge mangelnder empirischer Befunde. (Rousseau: All dies gilt heute, für die relativ kürzeste Periode der Menschen, nicht jedoch notwendig für die längste Zeit der Menschengeschichte: hier bestand ein Gleichgewicht zwischen Selbst- und Fremdzuwendung, das später um die Fremdzuwendung gekürzt wurde.)

2. Die Menschen mit ihrer Anlage zur Sprache und ihrer Abhängigkeit voneinander sind von Natur aus vergesellschaftet. (Gilt auch nur für die kürzere Zeit, nicht für noch sprachlose Menschen in der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte).

3. Wissenschaften sichern das Überleben, andere Kulturleistungen schärfen das moralische Bewusstsein. (Wissenschaften und Künste bieten von sich aus keine Verbesserung des Menschen, sondern sie müssen eigens an melioristische Ziele gebunden werden wie einst im Programm eines Francis Bacon.)

4. Bedürfnisvervielfältigung ist Arbeitsbeschaffung. (Ohne Luxusbedürfnis gäbe es keine Armut.)

5. Wir werden in legitime Gesellschaftsordnungen hineingeboren und sind ihnen unterworfen. (Als Kinder verstehen wir überhaupt nichts vom Gesellschaftsvertrag. Sobald wir davon etwas verstehen, können wir einsehen, dass es nur zwei Arten der Vergesellschaftung gibt: als (offene oder versteckte) "Herde" oder als Befolgung einer selbst gegebenen Ordnung).

6. Ohne Arbeit und ohne Entdeckung bisher unbekannter Arbeitsarten würde Knappheit, Armut und Not herrschen. (Die Steigerung der bisherigen Produktivität führt zu einem offenbar immer radikaleren Ausschluss der Mehrheit vom Reichtum und zu einer immer geringer werdenden Zahl von Reichen.)

7. Indirekte, repräsentative Demokratie sichert uns auf demokratische Weise vor anarchischer oder diktatorischer Volksherrschaft. (Das Volk einer repräsentativen Demokratie ist nur für den Akt der Wahl politisch tätig, um für den Rest der Zeit sich von Oligarchien regieren zu lassen bzw. diese nicht verhindern zu können.)

Generell scheint vergessen, dass Rousseau, eine vollständige Disjunktion formulierte, die die Grundlage seines Du contrat social bildet, und ohne welche keine seiner dortigen Ausführungen verstanden werden kann. Diese Disjunktion lautet:
Eine Zivilgesellschaft ist entweder eine "Herde", das heißt Unterwerfung entmündigter Menschen (Sklaven) unter die Führung einer mündigen Leitung, oder sie ist Volkssouveränität der volonté générale, das heißt eine Selbstgesetzhebung aller Bürger in Verbindung mit allen, in der jeder, indem er sich mit den anderen verbindet, nur sich selbst gehorcht und genau so frei bleibt wie vor dem Eintritt in die die unveräußerliche, unteilbare und das Gemeinwohl konstituierende Souveränität aller des Sozialpaktes.

Die Praxis der modernen Demokratien hat das Rousseausche Entweder–Oder ersetzt durch ein schwer durchschaubares und hinsichtlich seiner Begründungen verschachteltes System. In ihm gilt:
(a) eine grundsätzliche Unterscheidung jenes kollektiven Ich (moi commun, Du contrat social I.6) in Gestalt eines ethischen Sollens nach dem Kriterium der widerspruchsfreien Universalisierungsmöglichkeit meiner Handlungsregeln (Kant) von rechtlichen Spezifikationen (Grundrechte und spezielle Rechte) und politischer Entscheidungsfreiheit.
(b) Die Souveränitätsbestimmung changiert zwischen Volks- und Verfassungssouveränität.
(c) Eine Entscheidung für eine, wie man sagen könnte, "Benennungsdemokratie", die teils parlamentarisch, teils konsensuell, teils kompetitiv, teils direkt akzentuiert wird.

Das Bemerkenswerte hierbei ist, dass diese Auflösung des "Entweder Herde oder Volkssouveränität" offenbar als ein "Weder Herde noch Volkssouveränität" verstanden werden soll, ohne dass geklärt wird, ob es sich nicht um ein "Sowohl Herde als auch Volkssouveränität" handelt.
Soweit ersichtlich, kommt diese Zweideutigkeit in keiner politischen Theorie, weder in der empirischen, noch in der philosophischen, vor. Daraus folgt, dass man dort keine Beschreibungen noch Vorschläge zur Lösungsstrategie erwarten kann. Wer sich mit dieser Zweideutigkeit beschäftigt, kann daher auch nicht an vorhandene Analysen anknüpfen, außer an implizite.

(Als Beispiel mag die direkte Demokratie genannt werden, die in Deutschland nur auf Länderebene partiell vorgesehen ist, doch auf Bundesebene ebenso fehlt wie in den USA. Den höchsten Anteil von Direktdemokratie (fakultative und obligatorische Referenda) besitzt die Schweiz. Doch auch Frankreich und Italien, Australien, Neuseeland, Dänemark und Irland besitzen einen viel höheren Anteil von Direktdemokratie als Deutschland. Die gesamte Diskussion der Direktdemokratie wird indes nicht so geführt, dass sich damit die Möglichkeit einer Volkssouveränität ergibt. Es besteht gegen die Einrichtung einer reinen Direktdemokratie nach wie vor der aus Platon geschöpfte Vorbehalt: Direktdemokratie führt über Demagogie zu Anarchie und Diktatur. Vielmehr geht es lediglich darum, direktdemokratische Elemente in die Repräsentativdemokratie einzufügen.)

Abkürzend ließe sich von einer demokratischen Zweideutigkeit oder vielleicht passender von einer demokratischen Unentschiedenheit sprechen. Diese Unentschiedenheit besitzt eine paradoxe Struktur. Sie bildet eine entschiedene Unentschiedenheit. Wer Entschiedenheit einführt – wer explizit Herdenwesen oder Volkssouveränität einzuführen erklärt, hat geringe Chancen auf Erfolg. Demokratische Politik lässt sich daher als Praxis der entschiedenen Unentschiedenheit umschreiben. Was bedeutet das? Gleichzeitige Praxis von Subordination und Konformität sowie von Freiheit. Das ist jedoch nur möglich, wenn die Herrschaftspraxis zu keiner Zeit als entweder Begünstigung von Herdenwesen oder von Volkssouveränität identifizierbar ist. Die Praxis demokratisch entschiedener Unentschiedenheit folgt also nicht mehr dem bei Machiavelli präzisierten Paradigma der Täuschung, sondern dem der Nichtidentifizierbarkeit. Das politische Handeln der demokratisch Herrschenden ist unkenntlich geworden. (Pasolini hat dies einmal überpointiert mit dem Bild: Wer den Vertretern der Democrazia Christiana die Maske abnähme, fände darunter kein Gesicht.) Es kann als Verbindung von Herdenwesen und Volkssouveränität, es kann ebenso als keines von beiden dargestellt werden.

Was ist der Effekt? Wahrscheinlich wird man in der Regel antworten: Weiter kann man politisch nicht gelangen. Die moderne Demokratie ist das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama). Wenn Jacques Derrida dem entgegenhält: Es gibt keine erreichte Demokratie, Demokratie ist stets etwas Ausstehendes, so bleibt dies ebenso unbefriedigend wie Fukuyama.
Um hier zunächst einmal eine Verständigung herzustellen, die nicht von vornherein die entschiedene Unentschiedenheit als letzten Horizont der Bedeutung akzeptiert, schlage ich vor, auf Rousseau als einen hypothetischen Ausgangspunkt zurückzugreifen, dessen Disjunktion (Herde oder Volkssouveränität) und dessen sieben Punkte außerhalb dieses Horizontes liegen.

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