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Castiglione, Baldassare



Castiglione, Baldassare, Dialogizität in der Renaissance. Zwanzig Jahre lang hat der lombardische Humanist aus Casatico (bei Mantua), Baldassare Castiglione, an seinem opus magnum gearbeitet. Sein Libro del Cortegiano (kurz: Cortegiano; dt. Das Buch vom Hofmann q2) entstand zwischen 1508 und 1516, erschien aber erst 1528 in mehrfach überarbeiteter Fassung in Venedig, nachdem in Neapel gefälschte Abschriften dieses narrativen Porträts vom Hof in Urbino gegen seinen Willen in Umlauf gekommen waren. Das in vier ?Bücher? (?libri?) unterteilte Werk gibt die Gespräche einer gut zwanzigköpfigen, illustren Abendgesellschaft wieder, die im Frühjahr 1507 in der atmosphärischen ?Sala delle veglie? (?Saal der Nachtwachen?) im Herzogspalast von Urbino vier Tage lang darüber diskutiert haben soll, wie ein idealer Hofmann beschaffen sein müsste, über welche Kenntnisse und Fähigkeiten er zu verfügen, wie er sich auszudrücken und sich den Frauen sowie seinem Fürsten gegenüber zu verhalten habe.

Obwohl die sich so entfaltenden, im Cortegiano fixierten Dialoge fiktiver Natur sind (der auktoriale Ich-Erzähler des Werks gibt an, sie der Nachwelt wegen kurzfristiger Abwesenheit vom Palazzo Ducale ? an dem sich Castiglione tatsächlich 1504-1513 aufgehalten hat ? an just diesen vier Abenden nur aus zweiter Hand überliefern zu können), reflektieren sie doch exemplarisch, wie sich Geselligkeit am Hofe zu Beginn der Neuzeit abspielte. Eine ? freilich elitäre, aber dadurch auch intime ? Gemeinschaft prominenter Vertreter des italienischen Humanismus tauscht sich in kultivierter, an der antiken Rhethorik eines Cicero orientierter Manier über die Verhaltensnormen der Elite, über das normative Standesideal, also darüber aus, wonach ein "guter Mensch" ihresgleichen streben soll. In Weiterführung der sokratisch-platonischen Dialogführung praktizieren die Gesprächsteilnehmer demokratisch anmutende, prinzipiell anti-hierarchisch und paritätisch ausgerichtete Ansätze im Umgang miteinander: Sie äußern ihre freie Meinung, die sowohl auf Bildung und Tradition als auch persönlichem Erfahrungswert gründet; sie setzen sich mit Witz und Humor über Meinungsverschiedenheiten hinweg, die sie als divergente Stimmen akzeptieren und respektieren; sie integrieren Frauen, wenngleich nur pro forma, in den philosophischen Disput, indem die Gastgeberin, Herzogin und "Seele" q2 vom Hof in Urbino, Elisabetta Gonzaga (und nicht ihr Mann Guidobaldo da Montefeltro), den Unterredungen mit der Unterstützung ihrer Schwägerin Emilia Pia vorsitzt. Elisabetta wird als der Prototyp einer weiblichen, zwar zurückhaltend agierenden, aber gesellschaftlich meinungsbildenden und dadurch Einfluss nehmenden, kulturell präsenten Figur insbesondere in die Entwicklung der literarischen Salons im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts eingehen. Die Brisanz der Geschlechterthematik verstärkt sich dadurch, dass die letzten beiden Bücher von der Palastdame und der (neuplatonisch interpretierten und staatstragend ausgeweiteten) Liebe zwischen Mann und Frau handeln. Ästhetisch entscheidend ist das Resultat der auf Offenheit bedachten Kommunikationsform im Cortegiano: Sie bringt die humanistische Überzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch die Welt (durch Sprache) formen kann. Es ist das selbstverantwortliche Individuum, das autonome, aktive Subjekt, das in seiner Würde und Freiheit erstarkende Ich, welches sich im Gespräch produziert. Jedes der vier Bücher vom Cortegiano hat einen hauptamtlichen Wortführer, der sich durch seine Reden selbst charakterisiert und dabei schöpferisch tätig ist. Die interlocutores prägen neue, zentrale, ethisch wertende Begriffe wie "sprezzatura" (etwa: "entspannte Lässigkeit" oder "scheinbare Mühelosigkeit"), "grazia" ("Anmut", "Eleganz"), "mediocrità" ("Ausgeglichenheit" bzw. das Prinzip der "goldenen Mitt") oder "affettazione" (etwa: "Ziererei" oder "Gekünsteltheit") q1 I, XXVII u. XXVIII. Sie verlangen, dass der ideale Hofmann auch Kunstverstand besitzen solle, in der Musik, Zeichenkunst und Malerei ebenso bewandert sei wie in der "umanità" q1 I, XLIV], den humanae litterae, und realisieren selbst diesen Anspruch, indem sie sich so mitteilsam, gewählt, schlagfertig und kultiviert wie möglich präsentieren. Auf der Metaebene des Diskurses, der formalen Produktionsebene des Cortegiano, verfährt Castiglione analog: Er knüpft mit seinem Text an die Tradition der Dialogliteratur an, die in der Renaissance sehr beliebt war, und weiß alle Vorteile zu nutzen, die ihm diese Gattung im Sinne ihrer Dialogizität (nach Bachtin) konzeptuell bietet: freie Formwahl, Möglichkeit der Abhandlung verschiedenster Themen durch die lebendig wiedergegebene zwischenmenschliche Kommunikation, die Polyphonie oder Vielstimmigkeit des Diskurses, die damit einhergehende Orchestrierung des Sinnkonstituierungsprozesses sowie die in der Renaissance sehr hoch angesehene Eigenschaft der lockeren Unterhaltsamkeit, die durch Imitation der sprunghaften Struktur eines Gesprächs ebenso entsteht wie etwa dadurch, dass die Beteiligten ihr Anekdotenwissen wirksam zum Besten geben. Der Cortegiano stellt damit formal gesehen das unter Beweis, was er inhaltlich propagiert: eine neue Humanitas, die sowohl (moralisch) einen vorbildlichen Lebenswandel und die vornehmste Eigenschaft, die ein Mensch erwerben konnte, impliziert als auch (künstlerisch) eine außerordentliche Bereitschaft zum Experiment ? so engagiert die Suche nach verbindlichen Normen in der Literaturtheorie der Renaissance auch gewesen ist. Zwischen intertextueller Rückbesinnung auf die Antike und der dem Text inhärenten Multiperspektivität, zwischen der idealisierenden Abbildung eines tatsächlichen Hofes und jenen erdachten Gesprächen, die der Erzähler als "gioco" ("Spiel") beschreibt, erfindet Castiglione die höfische Sprache als literarisch taugliches Modell.

Die Authentizität, die der Cortegiano bei aller dichterischen Freiheit und künstlerischen Geschicklichkeit wahrt, resultiert zum einen daraus, dass er im Volgare abgefasst ist: Castiglione schreibt nicht im gelehrten Latein und auch nicht reinen Toskanischen, sondern so, wie die mobilen, italienischen Intellektuellen damals sprachen und es der bei Hofe verlangten Mündlichkeit entsprach. Er setzt damit ein bedeutendes Zeichen in der damals vieldiskutierten Problematik einer allgemein verbindlichen literarischen Hochsprache in Italien. Zum anderen stellt er die Wortwechsel und Exkurse, Erörterungen und erzählten Begebenheiten in einen Wirklichkeit suggerierenden Rahmen, indem er real existierende Zeitgenossen auftreten lässt und diverse quasi-autobiographische Elemente in das Werk einflicht. Castigliones summa des aristokratischen Renaissancelebens avanciert von einer hyperbolischen Porträtierung der tatsächlichen Wirklichkeit in der Rahmenerzählung zur imaginären Ausmalung eines erstrebenswerten Leitbildes auf der Dialog- und Gesprächsebene. Urbino wird in diesem idealistisch-positiven Gegenstück zu Machiavellis zeitgleich entstandenem Principe (von dem ungewiss ist, ob ihn Castiglione gekannt hat) zu einem symbolischen Ort der Tugend, zum räumlichen Paradigma des tätigen Humanismus. Durch die Verbindung verschiedener Genera wie Fürstenspiegel, Hoftraktat und Lehrgespräch, mittels Verwendung zweier rhetorischer Register, nämlich der Oralität und der Literarizität, sowie durch das Nebeneinander von universal-philosophischen Themen wie der Liebe oder dem Tod und spezifisch-praktischen wie der Reit- oder Fechtkunst, deklariert der Cortegiano das Bewahren der Erinnerung, die memorialistische Erzählweise und literarische Mnemotechnik (ganz im Sinne Platons) zur Quelle der Motivation für das Kunstschaffen bzw. Schreiben. Auf diese Weise legte der adlige Kriegsmann, gewandte Diplomat, designierte Bischof vom spanischen Avila und kunstliebende poeta doctus Castiglione, der selber ein vollendeter Kavalier und Höfling war, den Grundstein für die bürgerliche Konversation. Sein Kunstwerk wird zum nachhaltigen Vorbild nicht nur des französischen "honnête homme" oder englischen "gentleman" im 17. Jahrhundert, sondern für eine Reihe von Hoftraktaten und Anstandsbüchern in Italien und ganz Europa, also für höfische Gesprächsliteratur überhaupt. Über seine historische Wirkungsgeschichte hinaus fordert das ?uvre noch heute als ein "Mikrokosmos der Redevielfalt", der ein bewusst gesteuertes Spektrum von "sozioideologischen Stimmen der Epoche" q3 / S. 290 auffächert, eine Komplementärlektüre durch den Leser heraus, die auf Grund seines Dialogismus in ihrer poetologischen Produktivität (für die Literatur) wie auch in ihrem Rezeptionsprozess (seitens eines wie auch immer gearteten, aufgeschlossenen Publikums) auf intersubjektives Verstehen hin angelegt und für alle Epochen jenseits des Cinquecento interpretatorisch offen ist.

Dagmar Reichardt

q1 B. Castiglione, Il libro del Cortegiano, Hg. E. Bonora, Mailand, 1972 ?
q2 B. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, Ü.: F. Baumgart, Bremen, 1967.
q3 M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes (Hg. R. Grübel), FfM. 1993 [1979]
q4 P. Burke, Die Renaissance in Italien, Berlin, 1996 ?
q5 ders., Die Geschicke des Hofmann. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin, 1996.
q6 E. Loos, Literatur und Formung eines Menschenideales. Das "Libro del Cortegiano? von Baldassare Castiglione. In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 5, 1980, S. 3-20)
q7 Mayers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 5. Mannheim 1972


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