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kurzer Text zu G. Nagel


Gustav Nagel

(1874 – 1952)

Der Kohlrabi-Apostel

Er fasziniert und belustigt gleichermaßen seine Zeitgenossen: Gustav Nagel (1874 – 1952) ist der berühmteste Wanderprediger der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Viele tausend Menschen hat der Prediger im Lendenschurz in seinen Bann gezogen, viele hat er geheilt und getröstet. Doch alle Welt hält ihn für verrückt, und so ist es kein Wunder, daß dieser Mann im Jahr 1900 vom Amtsgericht Arendsee entmündigt wurde. Stets hat er für sich reklamiert ernst genommen zu werden: ein Aussteiger mit missionarischen Ambitionen. Insofern ist er durchaus kein Einzelfall in seiner Zeit. Daß er scheitern mußte im wilhelminischen Zeitalter, war keine Frage. Ordnung herrscht im Lande, und da haben Außenseiter keinen Platz.
1888 hat er eine Lehre als Kaufmann begonnen, doch starke körperliche Beschwerden lassen den jungen Mann die Ausbildung abbrechen: Ein chronischer Katharr und verschiedene Allergien machen ihm zu schaffen. Er baut sich eine Erdhöhle in der Nähe der Stadt und widmet sich der Naturheilkunde, fährt deshalb im Jahr 1892 zu Pfarrer Kneipp nach Wörrishofen und bekommt dort Kaltwasserkuren verordnet. Er ist von der Wirksamkeit dieser Anwendungen überzeugt und krempelt sei Leben radikal um, wird Vegetarier und kleidet sich „wie Jesus“. Bilder zeigen ihn barfüßig und mit freiem Oberkörper.

1897 ist er zurück in Arendsee, baut sich dort erneut eine Erdhöhle – und wird 1900 entmündigt. In Lendenschurz und Überwurf erscheint er vor Gericht. Der Urteilsspruch hindert ihn nicht daran, ab 1902 zu Vortragsveranstaltungen durch Norddeutschland zu ziehen. In Berlin kommen zu seiner Vortragsreihe Abend für Abend bis zu 1500 Zuhörer – ein Phänomen!

Nein, Gustav Nagel sucht nicht den Applaus dieser Welt, ist vielmehr um sein Seelenheil besorgt, und so unternimmt er eine Wanderschaft nach Jerusalem, von der er 1904 über Konstantinopel zurückkehrt. Er heiratet, doch die Ehe geht in die Brüche. Das gestörte Verhältnis zum Magistrat der Stadt Arendsee führt zu Nagels Umzug nach Mardorf am Steinhuder Meer. Dort findet er gesellschaftliche Anerkennung, wird sogar Ehrenmitglied im Luft- und Wasserclub Niendorf.

Aber es zieht ihn in seine Heimatstadt zurück. Aus der Ferne wendet sich Nagel mit einer Anzeige im „Arendseer Wochenblatt“ an seine früheren Mitbürger: „edle bürger fon arendse, grüße euch got, durch di gnade gottes sol unsere stat eine heilende erkwikkende weltstat werden, so bitte ich euch fon herzen, edle bürger, unterstüze meine arbeit, ich werde in disen tagen boten fon haus zu haus senden um zum bezug meiner sontagsblätter einzuladen, bitte bitte bitte legt denselben den beitrag in di hände, got wird es euch segnen, sendet dan bitte die blätter stets an bekante in der ferne weiter, wen auch euer glaube schwach ist, mein glaube ist stark, mein gotfertrauen gros, meine schaffenskraft in got sich ganz für obige darlegungen hingebend, wie ein samenkorn darin aufgeende; dem liben got befolen, arendse i altm 10.11.06 gustaf nagel.“

Nach einem unsteten Leben als Wanderprediger kauft er 1910 ein Seegrundstück bei Arendsee und richtet dort ein Sonnen- und Brausebad in einer Holzbaracke ein. Später baut er auf diesem Grundstück auch einen Tempel und andere Kunstwerke. Er wird zu einem der wichtigsten Steuerzahler der Stadt, denn jährlich besuchen um die 10.000 Menschen diesen wundersamen Heiligen in seinem schönen Naturgarten mit dem eigenwilligen Tempel direkt am Arendsee.

Im Jahr 1920 sendet Nagel seine erste Tempelbotschaft aus, Gedanken über die Bildung. Er benutzt seine eigene Rechtschreibung und verspricht: „ich kome in friden!“ Die Friedensbotschaft wird begündet durch einen ganzheitlichen Ansatz des Lebens in der Nachfolge Christi. Darüber hinaus verfasst auch Gedichte, beispielsweise über seinen geliebten Arendsee. Die sehr inviduelle Schreibweise erinnert an die Lautschrift:

 

o du schöner Arendse,

du auge meiner liebe,

nimmer gern ich fon dir ge,

wu wekst mir fromme tribe.

 

heilig ist mir deine stat,

die frömmigkeit einst zirte,

wer dich je gelibet hat,

bringt ob dem preis gebürte;

 

deine wunderbare pracht,

die sich im grunde spigelt,

ist mit farben reich bedacht,

die got dir hat fersigelt.

 

zauberhaft wird uns enthült

Der reichtum deiner schöne,

das dich herlichkeit erfült

und dich der schöpfer kröne.

 

o du schöner arendse,

erneuerst meine Kräfte,

das ich mich zu weihen ge

für got und sein geschäfte.

 

o du schöner Arendse,

du bist gesundheitskwelle,

freudig ich zu dir stets ge,

machst blut und geist mir helle;

 

o du schöner arendse

ir waldumkränzten fluten,

bin entzükt wen ich dich s,

entfacht der libe gluten;

 

schau ich zum himmelszelt,

se ich di schönste bläue,

mir zu füßen deine welt,

erält fon gottes treue;

 

wen di sonne unterget,

ferklärst du ihre züge,

goldig dan geschriben stet,

was dir und mir genüge;

 

dise stange gold in dir,

di uns di sonne spigelt,

kündet unsern werken hir,

das got auch si fersigelt;

 

scheiden dan auch wir fon

o arendse gen wider,

was dan got ferklärte mir,

auch got se auf dich nider;

 

heilge, got o fater mir,

des arendses stätte,

das die liebe waltet hir,

und jeder lib dich hätte;

 

o du schöner arendse,

du auge meine liebe,

bin enzükt wen ich dich se,

o wekke fromme tribe.

 

 

Die Schriftsprache ist holprig, ohne jedes System, chaotisch. Nagel schreibt seinen Vornamen inzwischen als Gustaf, die heutige Gaststätte an seinem Naturgarten heißt „birlokal zum alten gustaf“.

Vier Jahre nach seiner ersten „Tempelbotschaft“ gründet Nagel die „Deutsche kristliche Folkspartei“ und tritt zur Reichstagswahl an. 6.448 Bürger geben dem „Kohlrabi-Apostel“ ihre Stimme. Nach Hitlers Machtergreifung 1933 predigt der seltsame Heilige gegen die Judenverfolgung und gegen den Krieg. Er wird ausgelacht. Im Jahre 1940 ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ gegen Nagel, und 1943 wird er verhaftet. Er wird ins Konzentrationslager Dachau gebracht und kommt 1944 in die Nervenheilanstalt Uchtspringe bei Stendal. Nach seiner Entlassung 1945 kehrt er nach Arendsee zurück und schreibt von dort aus 1948 seine Friedensbotschaft an alle Alliierten Kommandeure in Berlin. 1949 plant er die Krönung des Herzogs von Cumberland zum deutschen König, doch daraus ist bekanntlich nichts geworden. Zu den neuen Machthabern der Deutschen Demokratischen Republik faßt der Querdenker kein Vertrauen, er wird von dem Regime belächelt und mundtot gemacht. 1952 stirbt Nagel.

Der Querdenker steht historisch „in der Tradition eines individuell kauzigen Protestes gegen bürgerliche Lebensformen und spießerisches Lebensverständnis“, schreibt Professor Dr. habil. Helmut Obst von der Theologischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg über diesen Mann. Eine Art neuer Mystik läßt ihn die bürgerliche Zivilisation ablehnen. Nagel provoziert nicht nur mit seiner eigenwilligen Orthographie, mit spöttischen Gedichten und politischen Spinnereien. Seine ganze Lebensform ist ein einziger Protest. Er will Beispiel geben für die Erneuerung aller menschlichen Lebensbereiche, für ganzheitliche Lebensfreude. Das ist dem Nonkonformisten bestens gelungen.

Mit seinem Protest steht der „Kohlrabi-Apostel“ durchaus nicht allein. Missionarischen Eifer, der bis zum Sektierertum führte, hat auch der Maurer Heinrich Timm in der Lüneburger Heide entwickelt. 1861 in Marschkamp bei Bremerhaven geboren, hält er sich nach seiner Jugend im Elternhaus längere Zeit in Hermannsburg auf, wird dort wegen seines exzentrischen Wesens mehrfach in die dortige Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen, insgesamt für zwölf Jahre. 1903 gelingt es ihm, die gerichtliche Aufhebung seiner Enmündigung zu erwirken.

Danach zieht der nach Stelle im Landkreis Harburg, zieht über die Dörfer, verkauft eigene Schriften und ruft zu religiösen Versammlungen auf. Er sieht sich als „einen der großen Zeugen, die nach der Offenbarung Johannis vor dem Jüngsten Tag kommen sollen, um die Strafgerichte Gottes zu verkünden“. Sich selbst nennt – wie auch Nagel – einen Apostel. Er vermeidet Begrüßungen per Handschlag, weil er nicht „unrein“ werden will, der benutzt zum Essen und Trinken nur eigene Gefäße.

Seine Botschaft wird vor allem von Frauen begeistert aufgenommen, weil er gegen die Laster der Männer zu Felde zieht: Er warnt vor Schnaps und Tabak sowie vor dem Besuch von Gastwirtschaften. Die Frauen achten nun auch darauf, daß der Lehrer seine Schüler nach dem Unterricht nicht mehr per Handschlag verabschiedet, und sie missionieren ihrerseits in den Gottesdiensten. „Stimmt doch gar nicht“, rufen sie dem Pastor während der Predigt auf der Kanzel zu, wenn er etwas sagt, was den Frauen nicht genehm ist. In der St.-Marien-Kirche zu Winsen (Luhe) drängen sich Frauen vom Kreis der „Heiligen zehn Jungfrauen“ und einige Männer unter die Kanzel des Superintendenten Vogelsang, um Gegenrede zu halten. Sie werden gewaltsam aus dem Gotteshaus entfernt, und die Polizei nimmt Ermittlungen auf. Als Heinrich Timm verhaftet wird, protestieren seine Jünger. Einige werden nach Störungen von Gottesdiensten verhaftet, andere nur vorübergehend ins Spritzenhaus gesperrt.

Sowohl Timm als auch Nagel sind Kinder ihrer Zeit. Zwei Entwicklung laufen einander zuwider: Die politischen Verhältnisse haben sich mit der Gründung des Deutschen Reiches stabilisiert, der Staat entdeckt zunehmend sozialpolitische Aufgaben. Der politischen Stabilisierung steht eine Zerstrittenheit der Kirchen gegenüber, die im übrigen immer weiter in die gesellschaftspolitische Bedeutungslosigkeit abgleiten.  Sie konnten sich nicht in der Kulturkrise behaupten, und überhaupt: Sie sind antiquitiert, seitdem der Philosoph Ernst Haeckel in seinen „Welträtseln“ den sogenannten Monismus verkündet hatte: Die Realität ist materiell, der Geist ein Produkt der Materie oder ihre Funktion. Alle höheren Qualitäten wie Leben, Bewußtsein und Geist lassen sich auf örtliche Bewegungen der Materie zurückführen. Er verkündet einen radikalen Determinismus, einen persönlichen Gott oder eine Offenbarungsreligion gibt es nicht. Die naturwissenschaftliche Weltanschauung ist erdrückend, ist lebensbedrohend für die Kirchen.

Aber auch der Staat greift auf dem kirchlichen Feld ein, als sich Kreise des sogenannten „politischen Katholizismus“ zur Zentrumspartei zuammenschließen. Bismarcks unsensible Reaktionen führen zum „Kulturkampf“ und gipfeln im „Kanzelparagraph“ und im „Jesuitenparagraph“. Die Mai-Gesetze von 1873 stellen das kirchliche Leben unter staatliche Aufsicht, die sich sogar auf die Einstellung von Geistlichen erstreckt. Als 1875 die Zivilehe eingeführt, die vor einem staalichen Standesamt geschlossen wird, kommt es im evangelischen Lager verstärkt zur Bildung von Freikirchen, die den Primat des Staates im Standesrecht nicht anerkennen. Viel zu spät sieht Bismarck ein, dass er sich in der Wahl seiner Mittel vergriffen hat. Er hat die Menschen gesellschaftlich, geistig und geistlich entwurzelt.

Der Dramatiker Frank Wedekind zerstört mit seinen antibürgerlichen Dramen die letzten unechten und echten Ordnungen der Werte der bürgerlichen Kultur. „Was du ererbt hast von den Vätern – erwirb es, um es zu besitzen!“ Dieses einst geflügelte Wort ist zur leeren Hülse verkommen, die Geschichte zählt nicht, sie wird von Zukunftsgläubigkeit überdeckt. Die Generation Wilhelms II. kann den Zwiespalt  zwischen dem Erbe der Vergangenheit und den Keimen des Neuen nicht überwinden. In Deutschland wird viel gearbeitet und geleistet, aber eine organische Erneuerung im Denken gelingt nicht.

Ein Teil der deutschen Jugend geht eigene Wege. Weil sie die desolate Kultur eblehnt und den bürgerlichen Lebensstil als unecht empfindet, sucht sie in der Jugendbewegung einen neuen Lebensstil: Wandern, Entdecken der Natur, Belebung alter Volkslieder, Entdeckung des Volkstanzes und des Laienspiels, Ausbruch aus erstarrten Konventionen in eine schützende Kameradschaft. Doch ihren stillen Protest verbindet diese Bewegung nicht mit einem positiven, realistischen Gegenbild, einer deutlichen Vorstellung von einer besseren Zukunft.

Dieses desolate Umfeld ist ein fruchtbarer Nährboden für Sektierertum. Einer der liebenswürdigsten darunter ist Gustav Nagel. Heute erinnert sein Naturgarten an diesen merkwürdigen Kauz, und ein Förderverein bemüht sich, seine Gedanken, Gedichten und Botschaften dem Vergessen zu entreißen.

 

  © bei Martin Teske

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