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Das Kino denken - 1.1

H.J.Lenger
 

1.1

  • Keine Analyse eines Mediums kann sich darin erschöpfen, nur seine Grenzen zu nachzuzeichnen. So unverzichtbar diese "kritische" Arbeit ist, so wenig hätte sie einen Wert, ginge sie nicht aus der Untersuchung einer ganz anderen Frage hervor. Aus welchen Differenzen und Virtualitäten generieren sich die Möglichkeiten eines Mediums, und welche Kräfte hindern es daran, diese Möglichkeiten zu verwirklichen? Was also trennt die Kraft dieses Mediums von sich selbst? Erst, wenn die Frage in dieser Weise, also affirmativ gestellt wird, werden sich auch Figuren der Kritik aus ihr ableiten, Begrenzungen analysieren oder Grenzen des Mediums nachzeichnen lassen.
  • Für den Film oder das Kino gilt deshalb wie für jedes andere Medium, daß seine Möglichkeiten zunächst in ihm selbst freigelegt werden müssen. Der Film aber ist die Ordnung des Bewegungs- und Zeit-Bildes: darin bestehen die virtuellen Ensembles medialer Vermögen, die ihn auszeichnen. Und indem er sie beständigen Veränderungen unterzieht, bringt er nicht nur einzelne Begriffe, sondern ein eigenes Kino-Denken hervor, das in sich eine ausgearbeitete Allgemeinheit aufweist. In diesem Sinn folgen die nachstehenden Überlegungen zunächst den beiden Untersuchungen, die der französische Philosoph Gilles Deleuze dem Kino gewidmet hat: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 sowie Das Zeit-Bild. Kino 2 . Wie Deleuze erklärt, sind es nämlich nicht "philosophische" Begriffe, mit denen er das Kino konfrontiert, sondern jene des Kinos selbst. Zwar beruft er sich nicht nur auf Hunderte von Filmen und Regisseuren, sondern ebenso auf Philosophen, namentlich auf Henri Bergson und Charles Sanders Peirce. So entlehnt er Begriffe des "Bewegungs-Bilds", des "Wahrnehmungsbilds", des "Erinnerungsbilds" oder des "Traumbilds" dem Œuvre Bergsons, die Registratur von "Erstheit", "Zweitheit" und "Drittheit", von "Icon", "Index" und "Symbol" der philosophischen Semiotik Peirce'; und genauso stützt er sich, wo es um eine Umkehrung des Verhältnisses von Zeit und Bewegung geht, nicht zuletzt auf das Denken Spinozas, Nietzsches oder Heideggers. All dies plaziert sein Werk über den Film inmitten einer vielstimmigen philosophischen Tradition, und deshalb hätte es leicht auch auf eine "Philosophie des Films" hinauslaufen können. Doch Deleuze zeigt vor allem, daß es sich bei diesen Begriffen bereits um Kino-Begriffe handelt, die von der Praxis des Films selbst "kongenial" hervorgebracht werden. Der Film ist nämlich nicht nur die "Praxis" einer Herstellung von Artefakten. Indem er seine eigenen Produktionsvoraussetzungen unablässig verändert, beschreibt vor allem die Praxis eines Denkens. Es setzt sich den Paradoxien von Zeit und Bewegung aus, um nicht nur neue Praktiken der Bilder, sondern ebenso neue Begriffe ihres Denkens hervorzubringen. Und deshalb bedarf der Film keines philosophischen Kommentars, der ihn "von außen" interpretieren würde. Vielmehr ist der Film in sich schon Philosophie, Denken qua Kino – oder "Kino-Denken".

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