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5.9.5 "Kunst"

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"Kunst". Aber deshalb muß dieser Blick, der zunächst und "von außen" auf die Automaten fällt, vor allem ins Innerste des Bewegungs- und Zeit-Bildes geleitet werden. Denn worin besteht die "deleuzianische" Intervention? Zunächst darin, im Innern des Bewegungs-Bilds das reine Außen eines Zeit-Bilds freizulegen, das den Sackgassen der Aktion und den Finalisierungen der Erzählhandlung entkommt. Dazu bedarf es des einschneidenden Bruchs mit jeder Semiologie des Films, die immer in einem "Autor" kulminieren wird. Dieser Bruch besteht in einer Konzeption, in der die Zeichen nicht etwa die Bilder organisieren, sondern unauflösbar mit ihnen verbunden sind – sei es, daß sie sich auf ihre Intervalle beziehen, sei es, daß sie aus dem Intervall hervorgehen, von selbst, also automatisch oder spontan. Und das trifft die Faschismen der Führer und die Automaten der Überwachung gleichermaßen. Immer operieren sie mit Bewegungsformen aus Absichten, Vorhersehungen oder Vorsichten. Auf der Höhe des Zeit-Bilds, auf der Spitze einer reinen Differenz des Kristalls, in der sich die Zeit niederschreibt und die Bewegungen moduliert, wird sich jedoch etwas anderes als diese Perspektivität von Bewegungen entscheiden: ob oder wie ein Hervortreten der Zeitlichkeit – und damit die eines irreduziblen Moments der Freiheit von Bewegung und Wahrnehmung – die Diktatur auch über die Bewegungen brechen kann. Und dies betrifft das Kino in elementarer Weise, denn es ist seine innerste Frage. "Das Zeit-Bild erfordert eine neuartige Ordnung der Bilder und Zeichen, noch bevor es die Elektronik zunichte macht oder, im Gegensatz dazu, wiederbelebt." 91

Tatsächlich steht mit den digitalen Bildern auf dem Spiel, ob der Tod des Kinos definitiv sein wird. Und dies ist nicht an Besucherzahlen und Einspielergebnissen abzulesen; ganz im Gegenteil. Heute spielt sich der Tod des Kinos in Techniken der Bilderzeugung ab, die das Action-Kino durch die Mobilisierung digitaler special effects über seinen eigenen Tod hinwegretten sollen, um ihn desto definitiver zu machen. Darin besteht, über alle Differenzen hinaus, was Hitler mit Hollywood verbindet. Um so mehr verlangt dies aber nach einer neuartigen Ordnung der Bilder und der Zeichen. Beim Digitalen geht es also nicht darum, einen "neuen Autorenfilm" zu initiieren, der am Tod des Kinos nicht nur partizipieren, sondern ihn nur auf seine Weise herbeiführen würde. Wenn hier vom Digitalen die Rede ist, dann nicht nur, weil im Kristallbild der Zeit, wie im winzigen Moment eines Mißverständnisses, auch der Name "des Autors" aufblitzen konnte, und auch nicht, weil dieses Mißverständnis am Digitalen bereits zerfiel. Wie jedes Zeichen, so ist auch das digitale unlösbar an Bilder gebunden. Auf der Höhe des Zeit-Bilds aber oder eines Außen, das kein Außen mehr hat, an dem es sich zu einem Innen machen könnte, verweist dieses Zeichen auf jene Kristalle der Zeit, in denen sich andere Bilder als die der Bewegung hervorbringen. Dies nicht von sich aus oder qua technologischer Verfaßtheit; wollte man hier technizistisch argumentieren, verbliebe man noch im Rahmen einer Semiologie oder einer Medienapparatur. Vielmehr, weil es sich aus dem Denken und den Praktiken des Kinos selbst, von selbst oder automatisch in dessen "Modulen" ergibt oder ereignet. Zumindest könnte dies einige der bisher unbekannten Aspekte des Zeit-Bilds berühren, auf die Deleuze zum Schluß seiner Taxonomie der Bilder verweist. Keine künstlerische Frage nämlich, die sich aus einem Kino-Denken der Zeit und des Digitalen entlassen könnte, ohne sich damit selbst zu hintergehen; doch ebenso: kein Automatismus, der irgendeinen Wert hätte, ohne sich jenem Denken der Zeit ausgesetzt zu haben, von der das Eintreffen des Zeit-Bilds zeugt. Man mag das "künstlerische" Forschung nennen oder, vielleicht treffender, die Unaufschiebbarkeit einer Auseinandersetzung, in der sich eine andere "Politik der Bilder" ankündigen wird. In jedem Fall gilt: "Der neue Automatismus hat für sich keinen Wert, wenn er nicht im Dienste eines mächtigen Willens zur Kunst steht, eines dunklen und gedrängten Willens, der darauf aus ist, sich in unfreiwilligen Bewegungen auszudrücken, die ihn nicht einengen. Diesen ursprünglichen Willen zur Kunst hatten wir bereits in dem Wandel erkannt, der die intelligible Materie des Kinos selbst betrifft: die Ersetzung des Bewegungs-Bildes durch das Zeit-Bild. Was freilich zur Folge hatte, daß die elektronischen Bilder in einem anderen Willen zur Kunst oder in bislang unbekannten Aspekten des Zeit-Bildes gründeten." 92

Uploaded Image: pfeil.gif 6.0 Ein Gespräch mit Wim Wenders

  91 Deleuze II, S.342.
92 Deleuze II, S.340.






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