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Sophie Calle

SOPHIE CALLE

SOPHIE CALLE

Referat von Cornelia Schatte

Dezember 2002

 

 

Inhalt

Wie alles begann... "Die Schläfer" (1979);Paul Auster: "Leviathan"

Was folgte...

Worum geht es... "Double Game"

Autobiographische Geschichten... No Sex Last Night (1992)

Wie es weiter geht... u.a. "Der Detektiv", "Stechende Schmerzen", das Verschwinden

Ab- und Anwesenheit The Detachment - Die Entfernung (1996)

Public Spaces - Privat Spaces

ANHANG (Literaturverweise)

 

Wie alles begann...

Es begann alles nach einer mehrjährigen Weltreise, von der Sophie Calle 1979 - siebenundzwanzigjährig - in ihre Heimatstadt Paris zurückkehrte.

"Als ich zurückkam, fühlte ich mich in meiner eigenen Stadt verloren. Ich hatte alles über Paris vergessen. Ich hatte keine Gewohnheiten, ich kannte niemanden. Ich konnte nirgends hingehen, also beschloß ich Menschen zu folgen - irgendeinem."

"Ich begann, Fremden auf der Straße zu folgen, weil ich mich wieder an Paris gewöhnen wollte. Ich sagte mir, wenn sie mich in einen Stadtteil mitnehmen, den ich nicht kenne, dann kann ich diesen Stadtteil entdecken, oder ein Café, ein Restaurant. Auf diese Weise bräuchte ich nicht zu entscheiden, was ich mit meinen Tagen anfangen sollte." Sophie Calle

Sie tat es verdeckt (mit Perücke und Regenmantel) ohne daß ihre "Opfer" etwas davon wußten. Sie ging dabei vor wie eine Detektivin; mit einer 35mm Kamera und einem Notizbuch. So verfolgte sie ihre unbekannten Stadtführer; durch eine Stadt, in der sie sich einsam und fremd fühlte...

Bis sie schließlich 45 Menschen (Freunde, Bekannte, Unbekannte) einlädt, in ihrem Bett zu schlafen, und sich dabei von ihr fotografieren zu lassen. So entsteht ihre erste Arbeit "Die Schläfer" (1979). Die erste Veröffentlichung ihrer "unglaublich anmutenden, abenteuerlichen Einbrüche in eigene und fremde Privatsphären." 1

Maria war Künstlerin, auch wenn ihre Arbeit nichts mit der Hervorbringung von Gegenständen zu tun hatte, die man gemeinhin als Kunst bezeichnet. Manche nannten sie eine Fotografin, andere sahen in ihr eine Vertreterin der Concept Art, wieder andere hielten sie für eine Schriftstellerin, aber keine dieser Bezeichnungen war zutreffend, und ich denke, sie läßt sich eben nicht einfach so in irgendeine Schublade stecken. Ihre Arbeiten waren zu verrückt, zu eigenbrötlerisch, zu persönlich, als daß man sie einem speziellen Medium oder einer bestimmten Richtung hätte zuordnen können. Irgendwelche Ideen schlugen sie in ihren Bann, sie arbeitete an Projekten, es gab konkrete Ergebnisse, die in Galerien gezeigt werden konnten; aber derlei Aktivitäten entsprangen weniger dem Drang, Kunstwerke zu schaffen, als vielmehr dem Bedürfnis, den eigenen Obsessionen zu frönen: sie wollte ihr Leben exakt so führen, wie sie es sich wünschte. Das Leben stand immer an erster Stelle, und eine Reihe ihrer zeitaufwendigsten Projekte hat sie ausschließlich für sich selber realisiert und niemals irgend jemandem gezeigt.2

 

Was folgte...

Nein, sie ist keine Fotografin, auch keine Konzeptkünstlerin und keine Schriftstellerin. Und doch ist sie all dies in einer Person: Denn sie dokumentiert ihre künstlerischen Aktionen, die sie zugleich als Orientierungshilfen fürs Leben versteht, mit Fotografien und Texten: Was geschieht, wenn man Fremde auf der Straße verfolgt? Was erfährt man über Menschen, die ein paar Nächte in einem Hotel verbringen? Wie leben Leute, deren Angehörige als vermißt gelten? Wie erinnern sich Ost-Berliner an die inzwischen entfernten DDR-Denkmäler? Wie beschreibt man das schmerzhafteste Erlebnis seines Lebens? Um solche Fragen zu beantworten, beschattet Sophie Calle zufällige Passanten, durchsucht als Zimmermädchen die Koffer von Hotelgästen, läßt sich selbst von einem Detektiv überwachen, tanzt nackt vor anonymen Gaffern in einer Striptease-Bar am Pigalle, verfolgt einen Mann von Paris bis Venedig und porträtiert einen anderen Mann in der französischen Tageszeitung "Libération" anhand von Interviews, die sie ohne sein Wissen mit seinen Freunden und Bekannten geführt hat. 3

Ja, das ist gewiß das gewagteste all meiner Projekte. Es ist das Porträt jenes Mannes, dessen Adreßbuch ich gefunden hatte - die Beschreibungen seiner Freunde, die gewillt waren, über ihn zu sprechen. Ich habe alles, was ich über diesen Mann, dem ich nie begegnet bin, erfuhr, zu einem Porträt zusammengesetzt, das wie ein Puzzle wirkte. Ein Elektriker wußte, daß es so und so viele Lampen bei ihm gab, ein anderer kannte seine Kindheit, ein dritter hatte berufliche Beziehungen zu ihm. Das war meine Art, in sein Leben einzudringen. Es hat mir immer gefallen, in das Leben von Leuten auf marginale Weise einzudringen – nicht frontal. Sophie Calle

 

Der Mann mit dem Adressbuch (1983)

Meine Untersuchung dauerte 28 Tage und ergab 28 Feuilleton-Folgen. Schon die ersten Beschreibungen seiner Freunde fesselten mich. Sophie Calle

"Ich könnte fast sagen, daß ich ihn gut gekannt habe. (...) Ich hatte aufgehört, meine Freunde zu sehen, um seine zu treffen, um die ich ihn übrigens beneide. Ich ging in seinem Stadtteil spazieren. Ich hatte Glück, nicht nur, weil mir dieser Mann gefiel, sondern weil ich keine Angst mehr haben mußte, ihn vorzeitig zu treffen, was das Ende meiner Untersuchung gewesen wäre: Ich hatte sehr früh erfahren, daß er für zwei Monate ans äußerste Ende Norwegens gefahren war." 4

Und als Sophie Calle das erste Mal bei ihm anruft, sagt sein Anrufbeantworter: Ich bin abwesend. Ich bin nicht da. Die Fotos zeigen Orte, an denen er sich aufhielt und Dinge, die er gerne mochte. Sie sind, deutlicher als die Texte, Signaturen seiner Abwesenheit. Seine wahre Identität wird förmlich ausgelöscht und von der Künstlerin vereinnahmt. Die Entrüstung von Pierre D. zielte genau auf diese imaginäre Bedrohung des Ich.5

Der Besitzer des Adreßbuchs erfährt von dem Projekt erst, als er von einer längeren Reise nach Paris zurückkehrt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Fortsetzungsgeschichte seines Lebens bereits der Hit des Feuilletons. Er beschließt, Sophie Calle mit ihren eigenen Waffen zu besiegen.

Ja, er hat das gleiche getan wie ich: Er hat etwas über mich herauszufinden versucht, indem er Leute, die mich kennen, besucht hat. Schließlich hat er ein Akt-Foto von mir gefunden und "Libération" gebeten, es zu veröffentlichen. Ich war damals Striptease-Tänzerin am Pigalle. Also, mich nackt zu zeigen, war wirklich kein Problem. Und ich war eigentlich sehr zufrieden mit seiner Antwort - zumal bezüglich der "Wahrheit": Bei "Libération", die keine Klatsch-Zeitung ist, sondern vor allem damals sehr politisch und sehr seriös war, hatten Journalisten nicht das Recht, under cover zu arbeiten. Es war also für einige Journalisten unerträglich, daß ich als Künstlerin etwas machen durfte, was ihnen die Journalisten-Ethik verweigerte - nämlich in das Leben eines anderen eindringen, ihn auszuspionieren, ihn auszustellen. Aber komisch ist, daß viele dachten, es wäre fiktiv, und es mochten in der Annahme, es wäre eine Fiktion. Andere wiederum mochten es, weil sie dachten, es wäre wahr – dann gab es welche, die es haßten, weil sie dachten, es wäre eine Fiktion. Und als der Mann plötzlich klarstellte, daß alles wahr war, indem er seinen Namen und so weiter angab, mochten die das Projekt nicht mehr, die es vorher gemocht hatten und umgekehrt. Die Vorstellung bezüglich Fiktion und Realität hatte starken Einfluß auf die Art und Weise, wie die Leute auf das Projekt reagierten. Das heißt: Hat man das Recht, so etwas zu machen? Wenn es eine Fiktion ist, ja! Wenn nicht, nein! Also, "Libération" war ziemlich zwiegespalten. Sophie Calle

Zwiegespalten war auch das Publikum: In der Zeitungsredaktion gingen Waschkörbe voller Leserbriefe ein, die Glückwünsche enthielten, aber auch Beleidigungen und Drohungen. Sophie Calle avancierte zur umstrittensten Künstlerin Frankreichs, weil sie lange vor "Big Brother" die Intimsphäre eines Menschen in ein massenmediales Objekt verwandelt hatte. Aber selbst ihre schärfsten Kritiker mußten bald bemerken, daß Dichtung und Wahrheit einander auf geheimnisvolle Weise durchdringen in ihren Berichten und Fotografien, deren eigentliches Thema die unendliche Vielfalt menschlicher Wahrnehmung ist. Und so nimmt es nicht wunder, daß das Leben selbst der Künstlerin die meisten Projekte zuspielt. Ausdrücklich geplante Kunstwerke wie die Arbeit mit Blinden, deren Vorstellungen von Schönheit Sophie Calle in Texten und Fotografien wiedergibt, sind selten.6

"Libération" hat dann säckeweise Post bekommen, zum Teil sehr sehr freundliche, zum Teil sehr aggressive, und zum ersten Mal hatte ich anonyme Feinde. Ich glaube, die Vorstellung von anonymen Feinden hat mich durcheinandergebracht – das war ganz neu. Das hat mich vielleicht unbewußt dazu gebracht, die Kamera auf mich selbst zu richten, mich ein bißchen auszuruhen, indem ich über mich selbst sprach. Sophie Calle

 

Der Schatten...

1981 entsteht die Arbeit "Der Schatten", die Calle inszeniert, um "den fotografischen Beweis meiner Existenz zu erbringen", wie sie selbst sagt:

Fotografie als Versicherung gegen die ultimative Abwesenheit.7

Auf meine Anweisung hin wandte sich meine Mutter (...) an die Privatdetektei Duluc. Sie bat darum, mich zu beschatten und verlangte eine schriftliche Darstellung meines Tagesplans sowie eine beweisführende Fotoserie. Sophie Calle

Über mehrere Tage hinweg fotografierte der Mann sie auf ihren Runden und zeichnete ihre Bewegungen in einem kleinen Notizbuch auf, ohne irgend etwas auszulassen, nicht einmal die banalsten und flüchtigsten Begebenheiten: Straße überqueren, Zeitung kaufen, irgendwo eine Tasse Kaffee trinken. Das Ganze war absolut künstlich, aber Maria fand es erregend, daß jemand so aktives Interesse an ihr zeigte. Mikroskopische Handlungen nahmen große Bedeutung an, die nüchternsten Alltäglichkeiten wurden zu ungewohnt emotionsgeladenen Ereignissen.8

Die Sachen haben sich oft ineinander verschachtelt. Nachdem ich den Leuten nachgegangen bin, wollte ich selbst verfolgt werden, um dann DAMIT zu spielen.

Sophie Calle

Donnerstag, 16. April (...). Bericht (der Detektei Duluc). Um 10 Uhr beginnen wir mit der Beobachtung vor dem Domizil der zu beobachtenden Person: 22, rue Liancourt im 14. Pariser Arrondissement. Um 10 Uhr 20 verläßt die zu beobachtende Person ihr Domizil. Sie ist bekleidet mit einem grauen Regenmantel, einer grauen Hose und trägt schwarze Schuhe und Strümpfe nämlicher Farbe. *

Das Wetter ist klar, sonnig. Es ist kalt. Ich trage eine graue Lederhose, schwarze Strümpfe, schwarze Schuhe und einen grauen Regenmantel. Eine knallgelbe Tasche umgehängt, einen Fotoapparat.*

Um 10 Uhr 23 kauft die zu beobachtende Person Narzissen im Blumengeschäft, das sich auf der Ecke rue Froidevaux / rue Gassendi befindet, betritt dann den Friedhof von Montparnasse durch das Haus Nummer 5 der rue Emile-Richard. Sie legt die Blumen auf ein Grab, verläßt dann den Friedhof auf der Seite der rue Edgar-Quinet. Um 10 Uhr 37 kauft die zu beobachtende Person eine Zeitung an dem Kiosk, der sich im Haus Nummer 202, boulevard Raspail befindet.*

Das ist zum Teil der Wunsch, zu spielen, zum Teil, der Wunsch, mein Leben zu ritualisieren, zum Teil der Wunsch, Gefühle in meinem Leben hervorzurufen, die ich kontrollieren kann – was ja sonst nicht oft möglich ist. Sophie Calle

Um 10 Uhr 40 betritt sie das Gebäude Nummer 100 des boulevard Montparnasse. Um 11 Uhr 32 verläßt die zu beobachtende Person das Gebäude in Begleitung einer Freundin, die ungefähr 27 Jahre alt ist, 1,67 m groß, ziemlich korpulent, kastanienbraunes langes Haar, bekleidet mit einer hellbraunen Hose und einem schwarzen Pulli. Um 11 Uhr 38 trennt sich die zu beobachtende Person von ihrer Freundin vor dem Haus Nummer 21 der rue Delambre und betritt den Friseursalon "Jacques Guérin". *

Für "ihn" lasse ich mich frisieren. Um ihm zu gefallen.

Um 12 Uhr 08 verläßt die zu beobachtende Person den Salon und durchquert den Jardin du Luxembourg ... *

Um 12 Uhr 05 verlasse ich den Friseursalon. Meine Haare sind elektrifiziert; die junge Frau, die mir in meinen Regenmantel hilft, versichert mir: "Draußen werden sie sich beruhigen." Ich gehe zum Jardin du Luxembourg. Ich möchte "ihm" die Straßen, die Orte zeigen, die ich liebe. Ich will, daß er mit mir den Luxembourg durchquert, wo ich während meiner Kindheit spielte und 1968 meinen ersten Kuß tauschte mit einem Schüler des Gymnasiums Lavoisier. Ich schlage die Augen nieder. Ich habe Angst, "ihn" zu sehen.*

Um 15 Uhr 20 nimmt die zu beobachtende Person etwas zu sich im Bistro der Tuilerien und schreibt. (…) Um 16 Uhr 25 betritt sie den Palais de la Découverte (...) Um 17 Uhr 25 betritt die zu beobachtende Person das Kino Gaumont-Colisée, das sich im Haus Nummer 36, rue des Champs-Elysées befindet, um den Film Lili Marleen anzusehen. Um 20 Uhr kehrt die zu beobachtende Person in ihr Domizil zurück. Wir schließen die Beobachtung ab.*

Um 20 Uhr nehmen mich Freunde im Auto mit zu einer Party für George und Gilbert in einer Wohnung im Haus Nummer 120 der avenue de Wagram. (...) Ich lerne Dan J. gründlich kennen, den ich bereits vor ein paar Monaten kennenlernte. (...) Um 5 Uhr fahren wir mit dem Taxi zu seinem Hotel, das Hotel "Tiquetonne". Ich bin betrunken und schlafe ein. Bevor ich die Augen schließe, denke ich an "ihn". Ich frage mich, ob ich ihm gefallen habe, ob er morgen an mich denken wird.*

Nach einigen Stunden hatte sie den Detektiv so ins Herz geschlossen, daß sie beinahe vergaß, daß er in ihrem Sold arbeitete. Als er ihr am Ende der Woche seinen Bericht übergab und sie die Fotos von sich selbst studierte und die erschöpfende Chronologie ihrer Bewegungen las, kam es ihr vor, als sei sie eine Fremde geworden, als habe sie sich in eine Phantasiegestalt verwandelt.9

"La Filature - The Shadow." 1981

 

Durch solch eine Inszenierung wird die Möglichkeit von Erkenntnis über die wahre Identität eines anderen Menschen in Frage gestellt: denn wie können wir etwas über ihn erfahren, wenn er sich unter unserer Beobachtung verstellt? Was wir sehen, kann immer nur die Rolle sein, die er für uns spielt.10

 

Von den Methoden und Strategien...

Formal arbeitet Sophie Calle mit der Gegenüberstellung von Bild und Text, inhaltlich mit der Vernetzung von Realität und Fiktion.

Zu den Strategien gehören Beobachtung, Befragung, Rollentausch und Maskerade, sowie das Changieren zwischen Nähe und Distanz und die Verknüpfung der eigenen mit fremden Biographien. Variation und Bewegung, die Betrachtung immer gleicher Fragestellungen aus verschiedenen Blickwinkeln machen die Vielschichtigkeit ihrer Arbeiten aus.

Jeder Versuch der Annäherung an den Anderen entspricht dem Wunsch, die Differenz zu überwinden und durch diese Überwindung etwas von sich selbst zu erfahren. Dies soll aber gleichzeitig aus sicherer Distanz geschehen, um die eigene Identität nicht zu gefährden. Die Schizophrenie, die darin liegt, spiegelt sich in Calles Vorgehensweise. Annäherung wird als die Erfahrung von Grenzen dokumentiert, denn Beobachtung und Verfolgung sind, ebenso wie die Vereinnahmung des anderen Ich, inszenierte Erinnerungen. Informationen, die die Künstlerin gibt, seien sie bildlicher oder sprachlicher Natur, helfen nicht weiter. Sie sind unzulänglich, unpräzise und ungewiß, da sie sich aus Spuren, Beschreibungen, Hinweisen und Vermutungen zusammensetzen. Die Rekonstruktion in Form eines Puzzlespiels mißlingt. Und so wie die Erinnerungen bei der Rekonstruktion eigener Identität versagen, helfen sie auch nicht bei der Rekonstruktion des Anderen. Sie sind in diesem Zusammenhang lediglich ein Spiegel subjektiver Vorstellungen und Erwartungen und sagen nur etwas über eigene Projektionen aus. 11

 

"Suite Vénitienne" (1980)

Diese Arbeit ist ihr wohl bekanntester Versuch, heimlich in das Leben eines Fremden einzudringen und es auszuspionieren. Sophie Calle folgt einem Mann, der ihr in Paris flüchtig vorgestellt wurde, nach Venedig. Wie ein Detektiv aus einem Film der 50er Jahre, verkleidet mit Regenmantel, blonder Perücke und Sonnenbrille, macht sie das Hotel von Henri B. ausfindig, lauert ihm auf, verfolgt ihn durch die Stadt, besucht und befragt Personen, mit denen er Kontakt hatte. Sie fotografiert ihn immer wieder hinter seinem Rücken, macht auch Aufnahmen von Straßen und Plätzen, die er durchquerte und notiert die täglichen Ereignisse. Bei ihren Annäherungsversuchen wird sie immer sorgloser, und eines Tages erkennt er sie und verbietet ihr jedes weitere Fotografieren. Doch obwohl das Spiel vorbei ist, gibt Calle nicht auf. Ihr Versuch, sich in seinem verlassenen Hotelzimmer einzumieten, bleibt ohne Erfolg. Zum Schluß folgt sie dem Mann zurück nach Paris und macht ein letztes Foto als er den Bahnhof verläßt.12

 

Das Hotel (1983)

"Es ist eine Arbeit, die ihren Ursprung in Suite Vénitienne hat. Ich verbrachte in Venedig Stunde um Stunde damit darauf zu warten, daß er aus seinem Hotel kommt. Jedesmal, wenn ich ihn in der Stadt aus den Augen verlor, kehrte ich zum Hotel zurück. Ich träumte davon in sein Zimmer zu gehen. Mein Versuch, im selben Hotel ein Zimmer zu mieten scheiterte. Also hatte ich diese Phantasien darüber, wie sein Zimmer sei und wie man sich darin fühlen würde. Als ich nach Venedig zurückkehrte, versuchte ich einige dieser Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen." Sophie Calle

Es ging ihr darum, Informationen über die Gäste zu sammeln, aber unauffällig und ohne diese zu kompromittieren. Tatsächlich ging sie ihnen sogar aus dem Weg und beschränkte sich nur auf das, was aus den in den Zimmern herumliegenden Gegenständen zu schließen war.

Als Zimmermädchen suchte ich keinerlei Beweise. Ich wollte mir vielmehr wissen, wie sich die Leute in ein- und dem selben Bett nacheinander abwechseln. Denken sie an die Person, die vorher dort gelegen hatte? Also, da ich Spuren suche, da ich Gegenstände fotografiere, könnte man tatsächlich meinen, meine Arbeit ähnelte polizeilichen Untersuchungen. Aber ich habe dabei eine poetischere Vorstellung und will auch nichts nachweisen. Sophie Calle

Wieder fotografierte sie; wieder erfand sie Lebensgeschichten und verließ sich dabei auf das verfügbare Material. Sie betrieb gewissermaßen eine Archäologie der Gegenwart, es war der Versuch, den inneren Kern von etwas zu rekonstruieren, von dem nur Bruchstücke vorhanden waren: ein Fahrscheinabschnitt, ein zerrissener Strumpf, ein Blutfleck auf einem Hemdkragen.13

Die Kamera war aber plötzlich kein Werkzeug mehr, das Vorhandenes aufzeichnete, sondern brachte die Welt zum Verschwinden und ermöglichte Begegnungen mit dem Unsichtbaren.14

Das ist das Abwesende ... die leeren Hotelzimmer... die Männer, denen man nachgeht, ohne sie zu kennen, deren Schatten man folgt, ohne zu wissen, wer sie wirklich sind ... das ist das Abwesende, ja Ich finde in dem, was ich mache, vielmehr Poesie als in Spitzelei und Untersuchung. Für mich hat das, was ich mache, nichts Kaltes. Deshalb unterscheidet es sich von einer polizeilichen Untersuchung. Es hat vielmehr mit Gefühlen zu tun als so eine Untersuchung.

Ja, es sind Untersuchungs-METHODE, Untersuchungs-PARODIEN, aber es geht nicht darum, etwas zu beweisen. Selbst als der Detektiv mich beschattete: Was mich dabei interessierte, war nicht die Untersuchung – es gab nichts zu beweisen. Wohin ich gehe - das war uninteressant. Sondern: Was nimmt er wahr im Vergleich zu dem, was ich wahrnehme. Und in den Hotelzimmern ging es nicht darum, nachzuweisen, daß 30 Prozent in Schlafanzügen schlafen und 40 Prozent nackt – sondern einfach daran zu denken, daß Montag eine Frau auf der linken Seite schlief und Dienstag ein Mann alleine auf der rechten Seite, und daß sie einander nicht begegnet sind. Sophie Calle

Der Betrachter wird als Komplize in das Vorgehen der Künstlerin einbezogen und dabei zugleich mit seiner eigenen voyeuristischen Lust konfrontiert. Mit erschreckender Deutlichkeit thematisiert diese Arbeit den Einbruch des Öffentlichen ins Private.15

 

Worum geht es...

Dieses eher wahllose Vorgehen weicht bald sorgfältig durchdachten Inszenierungen, die Sophie Calle selbst als "Rituale" bezeichnet und deren Inszenierung zur Voraussetzung ihrer Werke wird. "Die Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen ist der Inhalt aller meiner Arbeiten", sagt Sophie Calle und zeigt sich stark von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan beeinflußt, der in den sechziger und siebziger Jahren eine Theorie des Unbewußten in der Alltagssymbolik entwickelte.16

"Bei allem, was ich gemacht habe, gibt es Projekte, die nicht so vorgesehen waren wie sie schließlich aussehen oder in den Museen zu sehen sind. Aber das therapeutische Interesse finde ich immer wieder in meiner Arbeit: Wie kann man die Angst, an seinem Geburtstag vergessen zu werden, nutzen? Wie kann man mit ihr umgehen? Was kann man mit einer Situation machen, unter der man schrecklich leidet, aus der man keinen Ausweg sieht? Was kann man tun, damit man sich sagen kann: Na, wenigstens habe ich daraus etwas gemacht, nicht nur gelitten? Aus dem Leid habe ich ein Werk geschaffen, das mir gefällt, das mich leben läßt, das mich interessiert. Das ist meine Art, mich zu befreien, eine Art Exorzismus, eine Art Therapie, die zugleich Herstellung eines Objekts ist, das mir gefällt. Es gibt andere Motivationen, solche, wirklich ein Kunstwerk zu schaffen. Das gilt auch für das Adreßbuch." Sophie Calle

Der amerikanische Schriftsteller Paul Auster nennt es "Das Drama vom Beobachten und Beobachtetwerden" In seinem Roman "Leviathan" hat Auster die heute 49jährigen Autodidaktin unter dem Decknamen Maria Turner porträtiert.17

"Paul Auster – also zunächst gab es gar kein gemeinsames Projekt mit ihm. Er hat Teile meines Lebens oder vielmehr meiner Arbeit verwendet – aber die ist ja auch Teil meines Lebens – und dann, da ich gerne spiele, habe ich mich gefragt, wie ich den Ball zurückwerfen könnte."

Sophie Calle

So entstand ein gemeinsames Projekt, mit dem Titel "Doppeltes Spiel."

In dem Ausstellungskatalog "Double Game" heißt es wie folgt:

Die Spielregeln: In seinem Roman "Leviathan" (1992) dankt mir der Autor Paul Auster für die Erlaubnis, Fakten mit Fiktion vermischen zu dürfen. Und in der Tat, auf den Seiten 60 bis 67 [83-93], verwendet er einiger Episoden meines Lebens, um eine fiktive Person namens Maria zu entwerfen, die mich alsbald verläßt, um ihre eigene Geschichte zu leben. Verführt durch diese Doppelgängerin, habe ich mich dafür entschieden, mit Paul Austers Roman zu spielen und, meinerseits und auf meine Weise, Realität und Fiktion miteinander zu vermischen. **

Zum ersten Part in "Double Game" schreibt Sophie Calle:

Marias Leben und wie es Sophies Leben beeinflußt hat: In "Leviathan" unterwirft sich Maria denselben Ritualen wie ich. Aber Paul Auster hat selbsterfundene Spielregeln in das Porträt seiner Person einfließen lassen. Um uns einander anzugleichen, Maria und mich, habe ich mich dafür entschieden, dem Buch zu gehorchen. Der Autor erlegt seiner Gestalt eine chromatische Diät auf, die aus Lebensmitteln in nur einer Farbe pro Tag besteht: Ich habe diese Diät befolgt.**

Später, in einem Interview bemerkt Sophie Calle:"Das alles waren lediglich Launen, nehme ich an, winzige Experimente mit der Idee von Systemen und Gewohnheiten." 18

Aber sie hatte auch andere, ganz ähnliche Spiele, die sich über Jahre hinziehen konnten.

Zweiter Part:

Sophies Leben und wie es Marias Leben beeinflußt hat: Die Rituale, die Paul Auster sich von mir "geliehen" hat, um Maria zu gestalten, sind: Die Garderobe, Der Striptease, Die Verfolgung..., Venezianische Suite, Der Schatten, Das Hotel, Das Adressbuch und Die Geburtstagszeremonie". Leviathan gibt mir Gelegenheit, die künstlerischen Projekte zu präsentieren, die den Schriftsteller inspirierten und die wir nunmehr miteinander teilen, Maria und ich. **

Dritter Part:

Eine der vielen Arten, die Fiktion mit der Realität zu vermischen – oder wie man versuchen kann, eine Romanfigur zu werden: Seitdem Paul Auster mich in "Leviathan" als Objekt gewählt hatte, stellte ich mir vor, die Rollen zu vertauschen und ihn als Autor meiner Aktionen zu benutzen. Ich bat ihn, eine fiktive Person zu entwerfen, der ich versuchen wollte, zu ähneln: Ich habe auf gewisse Weise Paul Auster angeboten, mit mir maximal ein Jahr lang zu machen, was er wollte. **

Auster jedoch lehnt die damit einhergehende Verantwortung ab und schickt Persönliche Instruktionen für Sophie Calle "wie das Leben in New York City zu verbessern ist". Diese Anweisungen behandeln das Lächeln, das Reden mit Fremden, den Umgang mit Bettlern und Obdachlosen oder die Kultivierung eines bestimmten Platzes.

 

The Gotham-Handbook: "Persönliche Anweisungen für Sophie Calle, das Leben in New York zu verschönern (weil sie mich darum gebeten hat ...): (...) Zähle die Anzahl der Lächeln, die dir täglich geschenkt werden. (...) Mit einem Unbekannten übers Wetter reden (...) - das ist ein Zeichen guten Willens (...) Vergiß' nicht die unglücklichen Armen (...): Nimm' immer drei oder vier Butterbrote mit, wenn du ausgehst. (...) Wähle einen Ort in der Stadt aus und denke an ihn, als er gehörte dir. (...) Reinige ihn. Verschönere ihn. (...)19

Ich frage mich, ob Paul Auster auf die Idee, das Leben in New York zu verschönern, beim Studium des Zwölf-Schritte-Programms der Anonymen Alkoholiker gekommen ist (...). Egal, ich muß ihm gehorchen. Das ist das Spiel, das ich mitspiele. Wenn ich diese Mission erfülle, schenkt er mir vielleicht zum Ausgleich die Fiktion, um die ich ihn gebeten habe. Sophie Calle

Erste Anweisung – LÄCHELN (...) Paul hat nicht geschrieben, ob ich auch die Lächeln zählen soll, die ich verschenke.

Für die zweite Anweisung – MIT UNBEKANNTEN SPRECHEN – habe ich einige Sätze getestet, da ich nicht daran gewöhnt bin, Komplimente zu verteilen.

Welch' geniale Frisur! Sie gefällt mir sehr! Ehrlich!

Bleiben Sie immer Sie selbst. Ihr Lächeln hat meinen Tag erhellt. (Dabei muß ich mich besonders anstrengen.)

Dritte Anweisung: Nahrungsmittel und Zigaretten an Obdachlose verteilen. Ich kaufe weiches Brot, Schnittkäse, Schinken, Tomaten, Pastete und vier Pakete Zigaretten (Marlboro, Camel, Benson & Hedges, Kool).

Letzte Anweisung: Einen öffentlichen Ort in Besitz Nehmen. Ich entscheide mich für die Telefonzelle an der Kreuzung Greenwich-/Harrisonstreet. Es handelt sich um eine Doppelkabine. Ich übernehme die rechte Seite. Um sie zu verschönern, kaufe ich Glas-Plus, um die Scheiben zu putzen, Brasso, um das Metall zu polieren, eine Sprühdose mit wiesengrüner Farbe, sechs Notizblöcke, sechs Bleistifte, einen Spiegel, eine Tube Kleber, zwei Ketten von ungefähr vier Metern Länge, zwei Vorhängeschlösser, einen Strauß roter Rosen, sieben Postkarten, einen Aschenbecher, zwei Klappstühle und ein Exemplar der letzten Ausgabe des Glamour-Magazins. In der Nacht von Dienstag, dem 20. September 1994, nehme ich die Telefonzelle in Besitz. Ich beginne damit, sie abzustauben und auf Hochglanz zu bringen. Zwei Männer beobachten mich. Einer der beiden fragt mich: "Putzen Sie auch den Boden frei Haus?" Muß ich die Fron des LÄCHELNS auf mich nehmen? Ich ziehe es vor, dieses Geschäft auf morgen zu vertagen, und nicht zu antworten, denn – das haben Sie gesagt, Paul – diese Männer sind Schweine.

Mittwoch, 21. September 1994. Telefonzelle. Ankunftszeit: 12 Uhr. Aus den zwei Schweinen von gestern sind heute fünf geworden. Alles weist daraufhin, daß diese Kreuzung in Wirklichkeit ihnen gehört. Ich entscheide mich dafür, ihren Blicken auszuweichen.

12 Uhr 10 Besucher Nr. 1, in den Fünfzigern, Geschlecht männlich, bekleidet mit einem grauen Anzug, versucht, in der linken Zelle zu telefonieren. Sie funktioniert nicht. Er bemächtigt sich daher meines Telefons, aber irgend etwas scheint ihn zu stören, denn sein Körper bleibt auf der linken Seite. Ich fühle mich zurückgewiesen. Ich entscheide mich dafür, ihn dazu zu zwingen, sich zu bewegen, indem ich vortäusche, links telefonieren zu müssen. Er bleibt stehen. Ich schubse ihn ein bißchen. (...)

Paul hat gut reden: "Wähle einen Ort und behandle ihn, als gehörte er dir."

12 Uhr 25. Besucher Nr. 2, Geschlecht weiblich. Ich höre ihr zu: "Ja, ich bin's" – Stille – "Ich bin auf der Arbeit" – Stille – "Hör' zu, mein Liebster, Essen gehen wird schwierig sein" – Stille – "Aber das können wir ein anderes Mal machen" – lange Stille – "Oh, ich muß jetzt dringend gehen ... Jaja, ich liebe dich auch." (...) Gesprächsdauer: ungefähr drei Minuten.

25. September 1994. Telefonzelle. Auf dem Notizblock steht: Ah, home, sweet home!

Montag, 26. September 1994. Telefonzelle. (...) Ich biete schließlich das letzte Butterbrot und ein Paket Zigaretten einem Mann an, der in eine Menge Säcke und Decken eingehüllt ist. Er hebt sofort zu einem Monolog an:

Warten Sie einen Moment, lassen Sie mich erzählen, daß der Major Koch ... Ich werde Ihnen etwas erzählen, Sie kennen doch den Major ... wie? Den Major Luke New Jersey. James Chap. Wissen Sie, was James Chap gemacht hat? Er hatte nur einen Umschlagplatz, und dann hat er sich einen weiteren besorgt. Ja, M'dame. Das hat er gemacht. Den Strich auf der Middle Street, den hat er eingerichtet. Warten Sie einen Augenblick. Die Dame hatte dort eine Konzession. Er hat das so gemacht, dieser Mann ist zu allem entschlossen. Er ist zu allem entschlossen. Er, das ist James Chap. Er nannte sich James Chap und er hat es gemacht. Er hat das gemacht. Ja, M'dame. Dieser Mann dort ist ein anderer.

Ich versuchte ein schüchternes "Ja, gut, bis demnächst". Er hielt mich zurück, sagte:

Warten Sie einen Moment, kommen Sie her.

Er fing wieder von vorn an. Das dauerte zwanzig Minuten. Ich habe die ganze Zeit über gelächelt.

Gesamtbilanz der Aktion: Auf 125 geschenkte Lächeln kamen 75 erhaltene Lächeln. Auf 22 verteilte Butterbrote kamen 10 abgelehnte Butterbrote. Von 8 Zigarettenpaketen wurde keines abgelehnt. 154 Gesprächsminuten insgesamt.

Am selben Abend ging ich mit Paul Auster essen. Ich sagte ihm, daß ich das "Gotham-Handbuch" beendet hätte. Ich muß noch wohl immer dieses zwanghafte Lächeln aufgesetzt haben, denn er beugte sich zu mir vor und sagte sehr sanft, wie zu einer Kranken:

Es ist vorbei, Sophie ... Es ist vorbei. Du kannst aufhören, zu lächeln.

Voilà. Aber das ist das einzige Mal, daß die Literatur meine Arbeit unmittelbar auf diese Weise beeinflußt hat. ***

 

Autobiographische Geschichten...

Das anonymisierte Observieren und die Befragung anderer Menschen findet ein Gegengewicht im persönlichen Engagement der Künstlerin, die sich dabei nichts schenkt. Sophie Calle macht bei ihren Recherchen zu Privatheit, Erinnerung und Wahrnehmung auch vor dem eigenen Leben nicht halt. In Autobiographische Geschichten (seit 1988) beschwört sie eigene Erinnerungen, offenbart geheimste Gefühle, Wünsche und Ängste und gibt sie zum öffentlichen Gebrauch frei. (Geburtstagszeremonie,1997)

Auch in dem Film No Sex Last Night von 1992 (in der Videoversion Double Blind betitelt) erfährt man etwas über Sophie Calle. Der Film entsteht in Zusammenarbeit mit Greg Shephard und verdoppelt die Perspektive des Beobachtens. Es ist eine Art Road Movie, der von der Reise der beiden Künstler im Cabriolet durch die USA und ihrer Hochzeit in Las Vegas erzählt. Beide Beteiligten filmen sich dabei gegenseitig. Die Bilder sind mit Kommentaren aus den jeweiligen Reisetagebüchern der beiden Protagonisten unterlegt. Aufnahme und Gegenaufnahme werden eingesetzt um zwei entgegengesetzte Perspektiven zusammen zu bringen, und so erzählt der Film mehrere Geschichten gleichzeitig: von Shephards Absicht, einen Film zu drehen und von ihrem Ziel, zu heiraten. Anders als in früheren Arbeiten, setzt Calle sich bewußt ihrem Gegenüber aus und bringt Shephard als Koautor und Komplizen ins Spiel. Das Objekt der Künstlerin wird zum aktiv handelnden Subjekt. Beide gemeinsam bestimmen die Regeln des Spiels in wechselseitiger Auseinandersetzung.20

 

Wie es weiter geht...

Vor 20 Jahren habe ich mich von einem Detektiv verfolgen lassen. Zum 20. Jahrestag dieser Verfolgung hat mich jemand verfolgen lassen. Es war nicht meine Entscheidung. Ein Mann, der mich in gewisser Weise verführen wollte, hat mich 20 Jahre später verfolgen lassen. Das sind also die beiden Verfolgungsjagden, die ein wenig die Bilanz meines Lebens sind – 20 Jahre vorher, 20 Jahre später – wie Alexandre Dumas. (...) Es geht also um

20 Jahre, die verstrichen sind – zwangsläufig eine triste Betrachtung: Wie kann man 20 Jahre zusammenfassen? Wie kann man sich 20 Jahre später selbst beschreiben? Aber ich spreche auch über "Die Vermißten" und über andere neue Projekte – ich erzähle von meinem jetzigen Leben im Projekt "Der Detektiv".

Zur Zeit bin ich mit drei Projekten befaßt - (...) eins davon ist schon fertig, (...) aber ich arbeite noch an den Texten. Das Projekt heißt "Stechende Schmerzen".

Sophie Calle

Das Rezept ist einfach: Auf ihren Verfolgungsjagden und Spurensuchen erfindet Sophie Calle das Leben immer wieder neu. Indem sie Aspekte eigener und fremder Geschichten auswählt und neu arrangiert, entfernt sie sich immer weiter weg vom ursprünglichen Geschehen und vom ursprünglichen Gefühl. Auf diese Weise verwandelt sie die Fotorecherche nach der verlorenen Vergangenheit allmählich in einen Fotoroman, der in der Gegenwart spielt, in der wiedergewonnenen, vom alten Leid befreiten Zeit.21

Ich habe die Leute gebeten, mir das schmerzhafteste Erlebnis ihres Lebens in Interviews zu erzählen, und ich erzählte meine Geschichte, immer wieder die gleiche. Aber beim erstenmal erzähle ich sie unter Schluchzen – es dauerte eine Viertelstunde oder 20 Minuten; (...) beim 60. Mal ist sie sehr sparsam, sehr kurz geworden. Ich weine nicht mehr – es ist eine Geschichte geworden, eine Fiktion! Eine wahre Geschichte, die wirklich passiert ist, wird durch die Wiederholung zur Fiktion: Man weiß, daß es Momente gibt, wo man dieses oder jenes sagen muß, man kürzt, man rafft. Auf diese Weise verwandelt man ein Erlebnis, das man überhaupt nicht fassen konnte, von dem man nur unter Tränen und Gejammer zu berichten vermochte, in eine präzise Geschichte, die man sehr wohl beherrscht. Sophie Calle

Fotografie, Textdokumentation, Installation und verschiedene Methoden des Secret Service ermöglichen es Sophie Calle, Alltagsgeschehen zu durchdringen und in ein Kunstwerk zu verwandeln. Interviews und Selbstinszenierungen helfen ihr, die eigene Geschichte immer wieder neu zu erzählen. So wird aus einem wahren Erlebnis eine Fiktion, aus einem wahren Leid eine Illusion. Die Fiktivität des Faktischen wird besonders deutlich, wenn die Künstlerin nach Menschen forscht, die spurlos verschwunden sind. 22

Ich arbeite außerdem über das Verschwinden, über Leute die verschwunden sind, Leute, die weder tot noch lebendig sind. Man lebt mit seinem Geist. Die Leute, deren Sohn verschwunden ist, können seine Sachen nicht wegwerfen, weil er zurückkommen könnte. Und doch: Wie lebt man mit jemandem, der weder lebt noch tot ist? Das beschäftigt mich zur Zeit. Ich besuche Leute, die davon betroffen ist. Anlaß war ein präziser Fall: Letztes Jahr ist ein junges Mädchen auf der Ile Saint Louis in Paris verschwunden. Polizei und Presse nahmen Kontakt zu mir auf, weil das Mädchen in ihr Tagebuch geschrieben hatte, daß sie so leben wolle wie ich. Man fragte mich, ob ich etwas mit der Sache zu tun hätte. Mein Name war in alle Zeitungen: "Sie wollte wie Sophie Calle leben!". Dieses junge Mädchen, das ich nicht kenne, ist in mein Leben eingetreten. Ich habe seine Familie besucht. Ich begann, mich für sie und für Vermißte im allgemeinen zu interessieren. Außerdem enthält dieses Projekt alle Themen, die mich umtreiben: Die Spuren, der Tod, die Abwesenheit (...) Sophie Calle

Bei Calle wird aber gerade das Singuläre und damit Individuelle betont, das sich keinen Gesetzmäßigkeiten unterordnen läßt. Jeder ihrer angestrebten Rekonstruktionsversuche scheitert und dokumentiert in diesem Scheitern gerade die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung.23

Hinzu kommt Sophie Calles Interesse am Scheitern, mit dem die Suche nach Vermißten meistens endet. Dem Mißerfolg hat sie daher eine weitere Arbeit gewidmet.

1988 habe ich in Amerika Bilder gefunden, Aufnahmen einer Bank, mit denen ich Jahr für Jahr arbeite - und immer mißlingt meine Arbeit. Daher habe ich beschlossen, über die Anatomie des Scheiterns zu arbeiten. Wie man 14 Jahre lang von einem Projekt besessen sein kann, ohne zu wissen, was damit zu machen wäre, warum keine Lösung in Sicht ist. Das ist eine Art, eine Idee in den Griff zu bekommen, die sich nicht finden läßt. Ich werde alle gescheiterten Projekte zeigen und versuchen, zu erzählen, warum ich sie aufgegeben habe – also die Geschichte dieser aufeinander folgenden Mißerfolge zu erzählen. Sophie Calle

Sophie Calle nennt sich selbst eine "erzählende Künstlerin" und betont, dass ihr die Inhalte der Geschichten, die Recherche, die Erzählform und das Endergebnis gleich wichtig sind.24

 

Ab- und Anwesenheit

Ein weiterer zentraler Bestandteil in Calle΄s Werk ist die Dualität von Abwesenheit und Anwesenheit. Zum einen ist die Künstlerin selbst abwesend. In vielen ihrer Arbeiten taucht sie physisch nicht auf, sondern nur als Regisseurin hinter den Bildern oder im Rahmen der Texte. Und selbst wenn sie zu sehen ist, dann nur in einer Rolle oder verborgen durch eine Maske.25

In Der Mann mit dem Adressbuch oder Suite Vénitienne sind es nicht so sehr die Menschen selbst, die Calle verfolgt, sondern deren Nicht-Vorhandensein. Henri B. und Pierre D. werden immer unwirklicher und geheimnisvoller, je länger sie beobachtet werden. Sie werden förmlich ausgelöscht und zu Schatten ihrer selbst gemacht.26

Die Abwesenheit der Hotelgäste ist Voraussetzung für die Anwesenheit von Sophie Calle in den Zimmern und macht das Entstehen von Das Hotel überhaupt erst möglich.27

The Detachment. Die Entfernung (1996) ist das erste Projekt in Deutschland. Es geht um die Entfernung der politischen Symbole und Monumente der DDR. Zwölf Schauplätze mit den dort verbliebenen Spuren hat Sophie Calle fotografiert und Passanten und Anwohner nach den demontierten Objekten befragt. Entstanden sind daraus Ansichten des Abwesenden. (Ein Berlin-Reiseführer)

1 Heinemann, Elke: "Das Drama vom Beobachten und Beobachtetwerden"

2 Auster, Paul: "Leviatan" (S. 84 – 85)

3 Heinemann, Elke: "Das Drama vom Beobachten und Beobachtetwerden"

4 DeutschlandRadio Berlin / Literatur: "Doppeltes Spiel – Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster

5 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

6 Heinemann, Elke: "Das Drama vom Beobachten und Beobachtetwerden"

7 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

8 Auster, Paul: "Leviathan" (S. 88)

* Museum Friedericianum Kassel: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

9 DeutschlandRadio Berlin / Literatur: "Doppeltes Spiel – Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster

10 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

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13 DeutschlandRadio Berlin / Literatur: "Doppeltes Spiel – Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster

14 DeutschlandRadio Berlin / Literatur: "Doppeltes Spiel – Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster

15 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

16 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

17 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

** "Double Game"

** "Double Game"

18 DeutschlandRadio Berlin / Literatur: "Doppeltes Spiel – Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster

19 DeutschlandRadio Berlin / Literatur: "Doppeltes Spiel – Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster

*** DeutschlandRadio Berlin / Literatur: "Doppeltes Spiel – Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster

20 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

21 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

22 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

23 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

24 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

25 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

26 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

27 Heinrich Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

 

ANHANG

Auster, Paul: Leviathan, Rohwohlt, Reinbek bei Hamburg, 1994 (S. 83-105)

Heinrich, Barbara: "Die wahren Geschichten der Sophie Calle"

Museum Fridericium Kassel 8. April bis 21. Mai 2000

"Das Drama vom Beobachten und Beobachtetwerden"

Ein Porträt der französischen Künstlerin Sophie Calle anlässlich der Retrospektive im Sprengel Museum Hannover

von Elke Heinemann in: NDR Radio 3 Texte und Zeichen Thema vom 28. Juni 2002 19:05 – 19:25 Uhr

DeutschlandRadio Berlin/Literatur: "Doppeltes Spiel - Wahre Geschichten von Sophie Calle und Paul Auster" Redaktion: Dr. Claus Vogelgesang

 

 

 

 

Anmerkung: Ich habe Textfragmente aus verschiedenen Quellen (s. Oben) ausgewählt und (neu) zusammengesetzt. Ich wollte ein "Puzzle aus Wiederholungen" entwerfen, um damit Sophie Calles Vorgehensweise zu entsprechen.



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