Deleuze/Foucault
Erk Schilder: Referat über Michel Foucault und Gilles Deleuze
1. Einleitung
Die Schriften von Michel Foucault und Gilles Deleuze werden in der Regel der poststrukturalistischen Theorie zugeordnet. Im Mittelpunkt ihrer hier vorgestellten Analysen steht die Betrachtung des Themas Macht. Ihre Analysen sind dabei mit den Begriffen Disziplin und Kontrolle eng verbunden.
Die Auseinandersetzung mit der Macht kennzeichnet die zweite Phase des in der wissenschaftlichen Fachliteratur üblicherweise in drei Phasen unterteilten Schaffens von Foucault. In dieser Phase entstanden zwei bedeutsame Werke: einerseits „Überwachen und Strafen“ (1976), andererseits „Der Wille zum Wissen“ (1977), der erste Teil einer breit angelegten und nie fertig gestellten Geschichte der Sexualität. Foucault hat die Macht für die Moderne als eine Disziplinarmacht beschrieben: In einer derartigen Disziplinargesellschaft wird versucht, den lebenden Körper zu disziplinieren.
In dem Aufsatz von Deleuze „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ (1990) bezieht er sich zwar positiv auf Foucault, fordert aber trotzdem eine Erweiterung von dessen Analysen. Seine Hauptthese ist, daß der von Foucault analysierte Machttyp der Disziplinargesellschaft historisch überholt sei. Deleuze spricht daher von einer Kontrollgesellschaft. Dieser Begriff ermögliche eine adäquatere Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft.
2. Grundzüge der Macht bei Foucault
Foucault hat die Grundzüge seiner Analyse der Macht in Auseinandersetzung mit konventionellen Machtkonzeptionen skizziert. Im Gegensatz zu diesen interessiert sich Foucault nicht für die Frage: „Wer hat die Macht?“ Seine Analysen unterscheiden sich von den traditionellen in vier wesentlichen Punkten. Alle vier beziehen sich auf die Entstehung der modernen Gesellschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Die damalige Entwicklung, so die These, hatte entscheidende Auswirkungen auf die Gesellschaftsstruktur der Gegenwart.
(1) Foucault ist der Ansicht, daß Macht kein Privileg einer Person, Gruppe, Klasse oder Institution ist. Somit ist es seiner Ansicht nach nicht möglich, Macht als eine Substanz zu betrachten. Er wendet sich damit gegen die in der marxistischen Macht- und Herrschaftstheorie gängige Ansicht, Macht werde von oben nach unten ausgeübt. Zudem bestreitet er die Relevanz einer Klasse oder auch eines Subjekts und schlägt statt dessen die Betrachtung einer „Mikrophysik“ der Macht vor: Macht bildet sich demnach in den kleinsten Elementen der Gesellschaft und wirkt so auf diese ein. Macht durchdringt die Körper, die Familien, die sexuellen Beziehungen, die Wohnverhältnisse, die Nachbarschaften usw. Deren Organisation ist stets die Artikulation eines Verhältnis vielfältiger Kräfte und daher eine Machtstruktur.
(2) Daraus folgt, daß innerhalb der Gesellschaft (existiert) kein machtfreier Raum auszumachen ist. Auch hier zeigt sich eine große Diskrepanz zu jenen Ideen, die die Macht immer im Kontext eines ihr entgegengesetzten oppositionellen Außen definieren und somit auch eine oppositionelle „Gegenmacht“ möglich erscheinen lassen. Der Marxismus beispielsweise unterscheidet zwischen einer derzeitigen Phase der Ausbeutung und Entfremdung, und einer zukünftigen Phase der kommunistischen Gesellschaft, in der alle Machtbeziehungen aufgehoben sind. Foucault hingegen spricht von einer immerwährenden Schlacht, in der ein Ende des Kampfes oder ein Ausstieg aus gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht vorgesehen ist.
(3) Foucault attestiert drittens einen Zusammenhang von Macht und Wissen. Wissen beginnt nicht an einem Ort, an dem die Macht aufhört, etwa bei Ein- oder Ausschluß von der Teilnahme an bestimmten Diskursen. Vielmehr sind Wissen und Macht miteinander verschränkt. Anders als in Denktraditionen, die annehmen, daß sich Wissen erst dann entwickelt, wenn Machtverhältnisse aufgehoben sind, geht Foucault davon aus, daß Wissen selbst Machteffekte besitzt und von solchen geleitet wird.
(4) Macht kann nach Foucault nicht mit Unterdrückung gleichgesetzt werden. Er verwirft eine zu einseitige Betrachtung der Macht, die nur auf deren negative und repressive Mechanismen verweist und dabei nicht die produktive Wirkung von Macht heraus arbeitet. Denn Macht bringt für Foucault auch etwas hervor, indem sie für jegliches soziales Verhältnis konstitutiv ist. Deshalb greifen Beschreibungen der Macht zu kurz, die nur von Maskerade, Zensur und Unterdrückung sprechen.
Bei der Betrachtung der Macht als einer solchen produktiven, mit Wissen und Wahrheit verschränkten Größe ist der Begriff des Dispositivs von besonderer Bedeutung: Ein Dispositiv ist eine jeweilige Organisationsform von Macht. Mit Hilfe dieses Begriffs bemüht sich Foucault, die unterschiedlichsten Aspekte der Macht, die unterschiedlichen historischen Fakten untereinander in Beziehung zu setzen. Unter Dispositiv faßt Foucault diskursive und nicht-diskursive Machtpraktiken zusammen, wie beispielsweise Institutionen, architektonische Einrichtungen, Gesetze und wissenschaftliche Aussagen, und setzt sie in ein Verhältnis. Dadurch ist es möglich, die Beziehungen zwischen der Sprache, der Gesellschaft und dem Individuum begrifflich zu fassen.
3. Von der Disziplinarmacht zur Bio-Macht
In „Überwachen und Strafen“ beschreibt Foucault die Macht als eine Disziplinarmacht. In „Der Wille zum Wissen“ stützt sich Foucault weitgehend auf das theoretische Modell der Disziplinarmacht, entwickelt es nun aber zur Bio-Macht weiter. Der Weg von der Disziplinarmacht zur Bio-Macht soll im folgenden erläutert werden.
(1) Die Disziplinarmacht entsteht nach der Analyse Foucaults Ende des 17.Jahrhunderts und stellt den modernen Machttypus dar, der bis heute seine Bedeutung hat. Abgelöst hat er die Machtmechanismen der feudalen Monarchie, die ihren Schwerpunkt auf das Verbot und die Strafe gelegt hatte. Diese Form der Macht wird von Foucault Souveränitätsmacht genannt. Die Macht der Moderne hingegen zielt darauf ab, den lebenden Körper zu disziplinieren. Foucault zeigt dies in „Überwachen und Strafen“ am Beispiel einer Veränderung der Strafpraktiken zum Ende des 17.Jahrhunderts auf. Die Strafpraktiken in der Feudalzeit zeichneten sich durch eine öffentliche Brandmarkung des Körpers des Verurteilten aus. In der Moderne wird hingegen das Gefängnis der zentrale Ort der Bestrafung und dieser Wandel wird allgemein als eine Humanisierung der Strafgesetzgebung gewertet. Zum einen ist es das Ziel der Gefängnisstrafe, den Körper zu überwachen und zu kontrollieren. Die Strafanstalt wird zu einem Ort der totalen und ununterbrochenen Überwachung. Dies wird durch verhaltenskontrollierende Praktiken erreicht. Zum anderen finden die in den Gefängnissen angewandten Disziplinar-Methoden prinzipiell auch außerhalb der Gefängnismauern Anwendung, etwa in Klöstern und Werkstätten.
Eines der Beispiele für eine Überwachungs- und Kontrollanstalt ist das Panopticon. Das Panopticon stellt für Foucault die Utopie einer perfekten Einsperrung dar, welche auch als Vorbild für Spitäler, Schulen, Verwaltungsanstalten und Fabriken fungiert. Das von Bentham 1789 entwickelte Gefängnisgebäude besteht aus kreisförmig um einen Beobachtungsturm angeordneten Einzelzellen. Der Turm ist von allen Zellen sichtbar, nicht jedoch, ob sich gerade ein Beobachter im Turm befindet. Die Insassen sind somit gezwungen, sich so zu verhalten, als ob sie observiert würden. Die Folge ist eine weitgehende Selbstüberwachung und Selbstkontrolle gegenüber einer unsichtbaren und entindividualisierten Macht, ohne daß es dabei zu physischen Strafmaßnahmen kommen muß. Indem die Gefangenen die Aufgabe ihrer eigenen Kontrolle übernehmen, erhalten sie damit auch die Macht aufrecht. Aus dem gesellschaftlichen Fremdzwang ist ein Selbstzwang geworden. Der Körper und die Seele sind zugleich Subjekt und Objekt sozialer und psychischer Kontrollmechanismen.
(2) In „Überwachen und Strafen“ werden hauptsächlich nicht-diskursive Machtpraktiken beschrieben, in „Der Wille zum Wissen“ hingegen geht es um die diskursiven Praktiken körperlicher Disziplinierung und Normalisierung. Im Vergleich zu der eben geschilderten Disziplinarmacht kommt es in „Der Wille zum Wissen“ zu einer nicht unerheblichen Erweiterungen der Machtanalyse, die mit der Einführung des Begriffs „Biomacht“ umschrieben wird.
(a) Foucault faßt alle seit dem 17.Jahrhundert entstandenen Prozeduren der Überwachung und Disziplinierung als „politische Anatomie des Körpers“ zusammen. Diese Techniken, die er in „Überwachen und Strafen“ schon geschildert hat, stellen fortan einen Pol der Bio-Macht dar.
(b) Der andere Pol, der sich erst ab Mitte des 18.Jahrhunderts herausbildet, ist die Idee einer Regulierung und Kontrolle des Verhaltens der Bevölkerung, die Foucault als Biopolitik einführt.
Was ist nun das Neue an der Bio-Macht? Foucault diagnostiziert eine starke Zunahme der Produktion von Diskursen über Sex seit dem 17. Jahrhundert. Der Grund hierfür ist eine Reorganisation der Machtbeziehungen. Die Sexualität rückt in den Mittelpunkt unterschiedlichster Praktiken und Diskurse, weil sie sowohl Zugang zu der politischen Anatomie des Körpers hat, als auch die Regulierung der Gattung gewährleisten kann. Die Bio-Macht ist nunmehr dazu bestimmt, das Leben zu durchdringen, Kräfte kontrolliert hervorzubringen und wachsen zu lassen, anstatt sie zu hemmen. In der entfesselten Rede vom Sex wird dieser immer wieder gesellschaftlich normiert. Auch die sogenannte sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts befreit daher laut Foucault nicht die Sexualität, sondern führt das viktorianische Zeitalter fort.
Allgemein ist zu sagen, daß Foucault in seiner theoretischen Darstellung über die Macht der Moderne von einer Epoche ausgeht, in der einerseits versucht wird, den Menschen einzusperren und zu disziplinieren. Dabei ist das Gefängnis nur ein Ort neben vielen. Die Individuen erhalten die Macht selbst aufrecht, da sie Subjekt und Objekt ihrer eigenen Disziplinierung sind. Andererseits wird durch unterschiedliche Diskurse und Praktiken eine Regulierung des Verhaltens der Bevölkerung unternommen. Ob diese Form der Macht heute immer noch ihre Relevanz hat, soll nun mit Hilfe der Idee der Kontrollgesellschaft von Deleuze im nächsten Abschnitt überprüft werden.
4. Die Idee der Kontrollgesellschaft bei Gilles Deleuze
In dem Aufsatz „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ von Deleuze aus dem Jahre 1990 wird zwischen drei Machttechniken unterschieden. Er differenziert wie Foucault zwischen der Souveränitäts- und Disziplinarmacht, wählt aber den Namen der Kontrollgesellschaft für eine neue Form der Macht, die seit dem zweiten Weltkrieg immer mehr an Bedeutung gewinnt. Wie schon erwähnt, zeichnet sich die Disziplinargesellschaft durch die Technik der Einschließung aus. Diese Idee der Disziplinierung wird durch unterschiedliche Milieus gewährleistet wie beispielsweise durch das Gefängnis. Aber auch Schulen, Hospitäler, Familie, Kasernen und Fabriken sind solche Einrichtungen. Deleuze zeigt auf, daß diese Art der Machttechnik immer mehr in die Krise geraten ist und abgelöst wird. Diese Krise läßt sich anhand einer Umorientierung bei den volkswirtschaftlichen Zielsetzungen erklären. Die bis in die fünfziger Jahre geltenden Prämissen wie Vollbeschäftigung, Preisstabilität und Wachstum waren immer weniger zu gewährleisten. Disziplinierungen und Einsperrungen durch Institutionen und andere Milieus rechneten sich wirtschaftlich nicht mehr. Eine Zunahme von Privatisierungen und Reformen war die Folge. Diese Veränderung läßt sich in den einzelnen Institutionen verfolgen: Das Krankenhaus beispielsweise wird immer mehr durch kostengünstige häusliche Krankenpflegedienste ersetzt. Auch innerhalb des Strafsystems wird immer mehr nach Ersatzlösungen für eine Einsperrung gesucht, wie beispielsweise in den letzten Jahren anhand der Einführung des elektronischen Halsbandes zu beobachten. Der Straftäter kann somit seine Strafe zu Hause absitzen. Das elektronische Halsband besteht aus einem Sender am Körper des Überwachten, der Signale an einen Empfänger gibt. Entfernt sich der Überwachte von dem ihm zugewiesen Aufenthaltsort, wird die Signalunterbrechung als unerlaubtes Entfernen registriert. Der zentrale Punkt bei dieser Veränderung ist folgender: Da die Idee der Einsperrung und Disziplinierung nicht mehr in gewohnten Maße greifen kann, muß die Macht flexibler angewendet werden, aber sollte trotzdem kontinuierlich und unbegrenzt sein. Wie dies von statten geht, soll nun, einem Beispiel erläutert werden. In den letzten Jahren sind Untersuchungen in Deutschland gestartet worden, in denen eine Lenkung des Straßenverkehrs mit Hilfe von Mobiltelefonen unternommen werden soll. Ein Handy, von dem aus telefoniert wird oder das bereit ist, Anrufe anzunehmen, liefert laufend Informationen über seinen Standort und seinen Inhaber an das Mobilfunknetz. Zumindest wenn die Teilnehmer telefonieren, werden die Daten auch gespeichert, so daß die Telefonfirma feststellen kann, wer wann wo gewesen ist. Mit diesen Daten sollen nun Verkehrsleitsysteme überarbeitet werden, damit Staus vermieden werden können. Diese auf den ersten Blick nützliche Speicherung von Daten hat aber auch das Potential einer flexiblen und ständigen Kontrolle, so wie es Deleuze beschrieben hat. Das geschilderte Beispiel zeigt auf, daß die Methode der Überwachung und Lenkung nicht nur bei Straftätern durch ein elektronisches Halsband ihre Anwendung findet. Es lassen sich hierbei auch noch andere Beispiele anführen, die Indizien für eine neue Form der Kontrolle sind: Private Sicherheitsdienste oder eine Zunahme von Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen.
Das Beispiel des Panopticons hat gezeigt, daß der Körper der Gefangenen zugleich Subjekt und Objekt von sozialen und psychischen Kontrollmechanismen geworden ist. Das Beispiel des elektronischen Halsbandes und andere Formen der Kontrolle zeigen auf, daß die Idee des Panopticons sich heutzutage von seinen architektonischen Einschränkungen befreit hat. Die ganze Gesellschaft ist laut Deleuze somit einer permanenten Kontrolle ausgesetzt, die immer flexibler, variabler und mobiler geworden ist.
Insgesamt kann man sagen, daß es für Deleuze nicht darum geht, eine ausgearbeitete Theorie über den Machttypus der Kontrolle darzustellen. Dafür sind seine Ausführungen auch zu skizzenhaft. Es geht vielmehr darum, Denkanstöße für eine Modifikation der Machtanalyse von Foucault zu liefern, um damit Veränderungen der letzten Jahrzehnte besser fassen zu können, ohne sich dabei von Foucault zu distanzieren. Trotzdem ist auffällig, daß Deleuze sich in diesem Text nur auf die Disziplinargesellschaft beruft und dabei die Konzeption der Biomacht völlig ignoriert. Gerade in diesem Konzept beschreibt Foucault - wie schon erwähnt - diskursive Praktiken körperlicher Disziplinierung. Somit muß festgehalten werden, daß Deleuze nur die nicht-diskursiven Formen von Foucaults Machttheorie betrachtet hat.
Auf den ersten Blick scheint es ansonsten kein grundsätzliches theoretisches Problem zu sein, die Ausführungen von Deleuze als eine Erweiterung der Ideen von Foucault zu betrachten. Aber bei genauem Hinsehen gibt es in dem Text „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ Hinweise auf nicht unerhebliche Unterschiede zwischen den Machtanalysen von Foucault und Deleuze. Deleuze spricht davon, daß es neuer Waffen bedürfe, um gegen die neuen Kontrollmechanismen zu kämpfen. Diese Aussage scheint darauf hinzuweisen, daß sich Deleuze im Vergleich zu Foucault direkter mit Widerstandsphänomenenen auseinandersetzt. Diese These soll im nächsten Abschnitt anhand anderer Texte von Deleuze überprüft werden. Dabei steht der Aufsatz „Lust und Begehren“ (1996) im Mittelpunkt, weil sich hier Deleuze konkret zu diesem Thema in Abgrenzung zu Foucault geäußert hat.
5. Der Wunsch und das Dispositiv
Wie gesehen sind die beiden Theoretiker in ihren Inhalten relativ nahe. Doch die Idee von Widerstandsphänomenen ist ein wichtiger Punkt der Unterscheidung zwischen Deleuze und Foucault. Eine Grundlegende Idee im Denken von Deleuze ist, dem Wunsch eine produktive und revolutionäre Kraft zu unterstellen. Nach Deleuze existiert die Möglichkeit eines Wunschflußes bei jedem Menschen. Der Wunsch ist in der Lage - wenn er als Fluß aufrecht erhalten wird - bestehende Codes und vorfabrizierte Rollen und Schemata (ich bin eine Frau, ich bin ein Mann, ein Kind und werde mich dementsprechend verhalten) zu durchbrechen. Der Autor geht außerdem davon aus, daß jede Gesellschaftsformation (Disziplinargesellschaft oder Kontrollgesellschaft u.a.) sich in einem ständigen Prozeß der Modifikation befinden. Dabei entstehen Brüche und neue Unruheherde. In diesem Prozeß besteht die Möglichkeit, die Energie des Wunsches in sogenannten Fluchtlinien freizusetzen. Hierbei können Machtprinzipien durch Formen der Unordnung unterlaufen werden. Die von Deleuze ins Spiel gebrachten Fluchtlinien haben aber nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung, um Machtprinzipien zu unterwandern, da alle Formen von Brüchen früher oder später wieder Gegenstand von Ordnungsprinzipien werden. Diese Ordnungsprinzipien sind laut Deleuze jene Machtstrukturen, die Foucault in Form eines Dispositivs beschrieben hat. So gesehen kann man davon sprechen, daß Deleuze die Idee von den Dispositiven der Macht teilt , aber im Gegensatz zu Foucault ihnen nur einen sekundären Status zuweist. Primär ist bei Deleuze der Wunschfluß, der durch die Kopplung mit einer Fluchtlinie eine Form von Widerstand - zwar nur für kurze Zeit - gegen normierende und totalisierende Tendenzen innerhalb der Gesellschaft, darstellt. Anders als Foucault geht somit Deleuze von einer Art der Repression aus, die aber nicht im Sinne einer Unterdrückung von Spontaneität zu verstehen ist. Damit ist vielmehr gemeint, daß in einem Wunschfluß eine unendliche Anzahl von Äußerungsformen stecken können (es gibt so viele Geschlechter wie Individuen), die durch Ordnungsprinzipien auf eine einzige oder sehr wenige reduziert werden (es gibt nur zwei Geschlechter).
6. Diskussion
In dieser Arbeit wurde gezeigt, daß Macht im Sinne von Foucault sich nicht primär auf Ausschluß und Unterdrückung richtet, sondern eine produktive Wirkung hat. Die Disziplinargesellschaft versucht, eine Disziplinierung der individuellen Körper zu erreichen. Hierbei spielen Institutionen und andere Einschließungsmilieus eine große Rolle. Die von Deleuze eingeforderte Modifikation dieser Thesen von Foucault hat gezeigt, inwiefern sich die Gesellschaft auf Grund neuer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen verändert haben könnte: Die Idee der Einschließung und Disziplinierung bei Foucault wird durch eine kurzfristig anwendbare und trotzdem unbegrenzte Kontrolle abgelöst. Zu kritisieren war, daß Deleuze bei seiner Betrachtung der Disziplinargesellschaft den zweiten Pol der Biomacht - die Regulierung der Bevölkerung - unberücksichtigt ließ. Außerdem wurde gezeigt, daß die Ansätze von Foucault und Deleuze sich ähneln, aber einen nicht unerheblichen Unterschied aufweisen: Machtdispositive haben in der Theorie von Deleuze nur einen sekundären Charakter. An erster Stelle steht der Wunsch, der durch die Hilfe von Fluchtlinien ein Status eines Widerstandspotentials bekommen kann.
Die Analysen von Foucault und Deleuze haben unterschiedlichste Formen der Kritik auf sich gezogen. Foucault wurde unter anderem von Nancy Fraser vorgeworfen (Fraser: „Michel Foucault: Ein Jungkonservativer?“. 1994), daß seine Machtanalyse einerseits nicht neutral und desinteressiert genug in Hinblick eines kritischen Verständnisses gegenüber den analysierten Machtformen sei, aber andererseits keine alternativen Vorschläge für ein kritisches Handeln aufzeigen würde. Somit könne Foucault die politischen Urteile, die er in seinen Schriften fällt, weder erklären noch rechtfertigen. Deleuze hingegen wurde von Peter Tepe eine Glorifizierung des Wunsches unterstellt, da er ihn als eine revolutionäre Kraft betrachtet (Tepe: Postmoderne - Poststrukturalismus. 1992). Sind diese Einschätzungen richtig? Die vorgeworfenen Paradoxien und Widersprüche, die in der Machtanalyse von Foucault anzutreffen sind, müssen nicht unbedingt auf eine fehlende theoretische Selbstreflexion zurückgeführt werden. Vielmehr zeigt sich darin, daß Foucault an den analysierten Regeln konsequenterweise festhält. Seine Analyse hat die Unmöglichkeit der Wahl von einer Gegenmacht aufgezeigt. Es geht nun darum, neue Spielregeln zu finden, die das Spiel der Macht verändern können, ohne sich dabei der Macht im Sinne eines suggerierten Außen gegenüberzustellen. Es muß aber festgehalten werden, daß dieses Unterfangen bei Foucault hauptsächlich nur im Sinne einer Analyse der bestehenden Regeln stattgefunden hat. Die Suche nach neuen und anderen Spielregeln ist hingegen bei Deleuze der zentrale Ausgangspunkt seiner Analysen. Er schaut sich die unendlichen Möglichkeiten und Wege der Wunschproduktion an, bevor Dispositive der Macht die vorhandenen Möglichkeiten nur auf eine reduziert. Dabei unterscheidet Deleuze ganz im Gegensatz zu der genannten Kritik nicht zwischen wahren und falschen Wünschen. Vielmehr wird der Wunsch mit dem gesellschaftlichen Feld gekoppelt. Der Wunsch ist also keinesfalls von Anfang an „gut“. Darum kann man auch nicht sagen, daß eine Glorifizierung stattfindet, sondern es wird auf ein Potential hingewiesen, welches die Wünsche der Menschen nicht schon vereinheitlicht und damit reduziert hat.
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