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Taxonomie 1: StrukturElemente des Films



Birgit Hein:
Definition der Elemente des Films.


Seit den Anfängen des Films gilt die Darstellung der Realität als dessen wesentliche Funktion. Entsprechend geht die gesamte Filmtheorie vom Realitätseindruck des Films aus und sieht in der fotografischen Abbildung und der Bewegungsillusion dessen grundlegende Eigenschaften. Durch den absoluten und nichtnarrativen Film wird jedoch deutlich, daß die Realitätswiedergabe nur eine Möglichkeit unter anderen ist.
Eine weitere Definition der Grundlagen wird notwendig, die von drei Bereichen ausgeht: I. dem Filmstreifen (Filmmaterial), II. der Projektion mit intermittierendem Licht und III. dem projizierten Bild.

I. Der Filmstreifen

Der Filmstreifen hat unterschiedliche Materialbeschaffenheit in Kornstruktur, Farbempfindlichkeit und Strapazierfähigkeit. Er kann auf verschiedene Weise bearbeitet werden:
1. Durch den optischen Prozeß, der die fotografische Aufnahme mit der Kamera und das optische Kopieren einschließt.
Die fotografische Realitätswiedergabe durch die Kamera war lange Zeit auf Gestaltungsmittel wie die Einstellung, den Bildausschnitt,
die Kameraperspektiven und die Kamerabewegungen beschränkt. Andere Gestaltungsmittel wie die Doppel- und Mehrfachbelich
tung und die Überblendung wurden vorallem durch die surrealistischen Filme der zwanziger Jahre als nichtrealistische Gestaltungsmittel entdeckt (Traumvisionen, Gleichzeitigkeit der Ereignisse) und im poetischen Erzählfilm vor allem durch Gregory Markopoulos zur mehrschichtigen Erzählweise weiterentwickelt. Im strukturellen Film wird die Mehrfachbelichtung auf neue Weise angewendet, zum Beispiel um Zeitabläufe zusammenzufassen wie in >Asyl von Kurt Kren (21 Belichtungen derselben Schicht).
Im strukturellen Film werden darüber hinaus alle fotografischen Gestaltungsmittel auf ihre Möglichkeit hin, die Realität zu verändern, untersucht. So setzt sich Michael Snow in verschiedenen Filmen mit der Kamerabewegung auseinander.
Der fotografische Aufnahmeprozeß umfaßt jedoch nicht nur die Realitätswiedergabe, sondern jegliches abbildbare Material von den abstrakten Formen Eggelings bis zu den bewegten Lichtformen in den Film Exercises der Whitneys und den reinen Lichtfeldern bei Kubelkas >Arnulf Rainer, und Tony Conrads >The Flicker.
Zu einem wesentlichen Gestaltungsmittel wird auch der Aufnahmemechanismus entwickelt. Die
Aufnahme durch die Kamera erfolgt Bild für Bild, entweder manuell, wobei der Zeitabstand zwischen jeder Aufnahme beliebig ist, oder mechanisch bis zu mehreren 1000 Bildern pro Sekunde. Auf der manuellen Einzelbildschaltung beruhen die Animationsfilme, aber auch die Filme, die nach einem Aufnahmesystem vom Einzelbild her konstruiert sind (Kubelka, Kren, Conrad, Nekes, Emigholz). Die Einzelbildkonstruktion führt ein neues Montageprinzip ein, das eine völlig andere Funktion bekommt als im narrativen Film, wo die Montage die Erzählfolge bestimmt. Die >Montage< schafft hier den visuellen Rhythmus. Sie wird ein neues bildnerisches Prinzip, das auch in den wirklich montierten Filmen (die aus einzelnen Stücken zusammengeklebt sind) zum Ausdruck kommt. Erstes Beispiel für die neue Art der rhythmischen Montage wird >Ballet Mecanique< von Leger, der reales und abstraktes Material nach bildnerischen Prinzipien ordnet. Den perfektesten Ausdruck für den Rhythmus als neue visuelle Kategorie verkörpern die Filme von Kurt Kren. Zum fotografischen Prozeß gehört auch noch das Abfilmen projizierter Filme, das ebenfalls zu einem wichtigen Arbeitsmittel geworden ist (Ken Jacobs' >Tom, Tom, the Piper's Son<). Der optische Kopierprozeß bietet Möglichkeiten wie das >Einfrieren von Bildern sowie die Verkleinerung und Vergrößerung (Paul Sharits' Axiomatic Granularity). Einige Filmemacher arbeiten auch mit dem Kontaktköpieren, um extreme Licht- und Farbveränderungen zu erreichen (Malcolm Legrices ~Berlin Horse). An der Westküste hat vor allem Pat O'Neill die Arbeit mit allen Möglichkeiten der Kopiertechnik zur äußersten Meisterschaft entwickelt.
2. Durch den chemischen Entwicklungsprozeßvon Negativund Positivmaterial. Hier lassen sich ebenfalls die Farbigkeit, vor
allem aber der Kontrast und die Körnigkeit beeinflussen. Schon Man Ray entwickelt für >Retour ä la Raison, seine direkt belichteten Streifen selbst, und auf gleiche Weise arbeitet Tony Conrad in 4-X Attack.
3. Durch die direkte Bearbeitung des Filmstreifens. Das Bemalen des Blankfilms hat schon eine lange Tradition von den Futuristen Corra und Ginna über Len Lye und Harry Smith bis zur Gegenwart. Hinzu kommt das Bekleben (>Mothlight< von Brakhage und >Rohfilm< von Wilhelm und Birgit Hein) und das Zerstören der Filmschicht durch Zerkratzen, Stanzen von Löchern und Zerschneiden, das ebenfalls von Len Lye (>Free Radicals) über Brakhage und Diter Rot bis zur Gegenwart (Sharits, Legrice, limura, Hein) angewendet wird.
Zum >Film, wird jedoch nicht nur der fotografisch belichtete und direkt bearbeitete Streifen, sondern auch der unbearbeitete Blankfilm, durch den weißes Licht auf die Leinwand geworfen wird (Nam June Paik: >Zen for Film,).

II. Die Projektion
Wie die Aufnahme erfolgt die Projektion Bild für Bild. Dabei entsteht ein Bewegungseindruck dann, wenn die einzelnen Bilder voneinander unterschiedlich sind, 'Scheinbewegung. Das bedeutet nicht, daß die einzelnen Bilder reale Bilder sein müssen, daß der Film also nur reale Bewegung wiedergibt. So gibt es unterschiedliche Formen rein filmischer Bewegung, wie das Flackern des Lichtstrahls in den Flikkerfilmen, der Rhythmus der frühen Kren-Filme oder auch das Springen der Einzelbildfilme (Breer) und der Objektfilme wie >Retour ä la Raison< (Man Ray), wo die Formen auf dem Streifen durch die Einzelbildprojektion in abstrakte Teile zerlegt werden. Der Film gibt aber nicht unbedingt Bewegung wieder, denn die einzelnen Bilder auf dem Streifen können auch völlig gleich sein (Sequenz Nr. 19 in >Strukturelle Studien von Wilhelm und Birgit Hein). Folglich ist die Bewegung im Film nur eine Möglichkeit und nicht eine Notwendigkeit. Dafür gehört jedoch der Zeitablauf unabdingbar zum Film, da er aus der Folge von (mindestens 2) Einzelbildern besteht, die nacheinander dargeboten werden.
Der Projektionsprozeß als ganzes System wird vor allem im >Expanded Cinema einbezogen und reflektiert. Zum Beispiel in der Arbeit mit dem Projektionsstrahl (Paik, Legrice, McCall), durch die Arbeit mit mehreren Projektoren gleichzeitig, durch Bewegung der Apparate und Veränderung der Bildgrößen (Legrice, Raban, Schoffelen, Hein u. a.), als direkt projiziertes Licht in den Schattenspielen (Ken Jacobs) und in der Spiegelreflexion (Weibel).

III. Das projizierte Bild
Bei der normalen Projektionsgeschwindigkeit von 18-24 Bildern pro Sekunde sieht der Zuschauer auf der Leinwand nicht mehr die Einzelbilder, sondern ein einziges kontinuierliches Bild. Dieser Eindruck entsteht durch die Wahrnehmungsgesetze des `Nachbildeffekts, des `Phi-Phänomens und des 'stroboskopischen Effekts. Das Bild, das der Zuschauer auf der Leinwand sieht, ist also immer ein Produkt der Wahrnehmung und unterscheidet sich deshalb von den einzelnen Bildern auf dem Filmstreifen. Während dieser Unterschied zum Beispiel im Spielfilm nur in der Bewegung besteht, ist in den vom Einzelbild her konstruierten Filmen (z. B. >Straight and Narrow von Tony Conrad) das Wahrnehmungsbild vom Filmstreifen völlig unterschieden. Die Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungsphänomenen, auf denen die Funktionsweise des Films beruht, wird zu einem wichtigen Thema im Avantgardefilm, und viele Arbeiten, wie zum Beispiel die dreidimensionalen Schattenspiele, von Ken Jacobs, sind Ergebnis dieser Auseinandersetzung.
Aus dem Text wird deutlich, daß der absolute und nicht-narrative Film den visuellen Bereich des Films wesentlich erweitert hat. Dadurch werden Beurteilungskategorien notwendig, die in der bisherigen Filmtheorie nicht existieren. Sie können nur aus der bildenden Kunst übernommen werden, wo ein vergleichbarer Problemzusammenhang besteht. Als neues Gebiet der bildenden Kunst macht der Film hier allerdings auch eine Erweiterung der Kategorien notwendig, denn er führt den realen Zeitablauf und die Bewegung in die visuelle Arbeit ein.
in: Film als Film, Köln 1973.




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