Alexander Kluge (1983) Autorenfilm /
Politik der Autoren Daß bestimmte Autoren
solche Filme machen, ist die eine Sache; daß aus dem Umkreis dieser Autoren
bestimmte Konzepte der Filmpolitik entstehen, die umfassend sind, weil
sie aus Kenntnis der Filmgeschichte und des Metiers ihre politischen
Unterscheidungen entwickeln, führt zur Verwechslung von Autorenfilm und
Politik derAutoren: 1. Liebe zur Filmgeschichte. Kino verstanden
als ganze Filmgeschichte; die Cinémathekque
von Henri Langlois ist die Kernzelle der neuen Welle
in Frankreich. Dort sitzen die Kritiker der Cahiers du Cinéma und sehen die amerikanischen Filme. Sie
sind neugierig. Sie stellen fest: Wenn wir einen Western gesehen haben, kennen
wir das Prinzip aller Western Wenn wir einen Western gesehen haben, kennen wir
dennoch nicht alle. Der entscheidende Unterschied, der sich nicht notwendig auf
die Verkäuflichkeit der Filme auswirkt, liegt, vom Genre hergesehen, in einer Nebensache:
der persönlichen Handschrift ihrer Autoren (meist des Regisseurs). Ein Film von Hawks
unterscheidet sich sehr deutlich von einem von Ford, und es gibt keine Qualität
im allgemeinen. Der Impuls dieses Anteils der Bewegung
heißt: »Es leben die Nebensachen! Wir brauchen eine Politik, die die
Professionalität dieser Nebensachen herstellt.«
Professionelle Nichtprofessionalität. 2. Gesunder Menschenverstand. Unternehmerische
Haltung, Für Filme, die innerhalb ihres Genres fast überhaupt keine
Handschrift tragen, werden hohe Summen ausgegeben (z.B. fünf Millionen). Es
sind risikoscheue, feige Filme. Wiederholungen. Derjenige, der bisher (als
Kritiker der Cahiers du Cinéma) im kommerziellen
Betrieb gar keine Erfahrungen gewonnen hat, wird einen Unternehmerstandpunkt
beziehen: Für fünf Millionen können wir fünf Filme (oder zehn) herstellen. Von AußER ATEM, dem ersten langen Spielfilm von Jean‑Luc
Godard, wird gesagt, er habe 200.000 NFr. gekostet.
Der Gedanke heißt :Wir entkommen den Banken und der
Dummheit der Produzenten nur, wenn wir preiswert produzieren. Billig‑Produktion
heißt zensurfrei und beweglich = B‑Film. 3. Protest. Die Protestgründe der
Filmneuerer sind in jeder der historischen Bewegungen verschieden, vor allem
bei den Einzelnen unterschiedlich. Der Protestgrund von Truffaut und der von
Godard ist z.B. verschieden breit. Godards Protest richtet sich auch gegen
Sprache, gegen Kultur überhaupt, derjenige von Truffaut würde sich höchstens
gegen Mißbrauch der Sprache, Mißbrauch
von Erziehung, gegen verdrehte Kultur wenden. Dennoch vereinigt alle Mitglieder
der neuen französischen Welle der Protest gegen das »Qualitäts‑Kino«, das
die bloße Verwaltung der ästhetischen und inhaltlichen Errungenschaften des
französischen Kinos der 30er und 40er Jahre betreibt. Synthetische Qualität,
ein erreichtes Niveau, von den Wurzeln des Filmemachers, von der naiven
Grundlage des Kinos, von der Filmgeschichte abgeschnitten. »So können wir uns
niemals äußern.« Karl Kraus sagt: »Wir haben unser Niveau wieder
erhöht. Es hat nur noch einen Nachteil: es steht keiner mehr drauf.« Die sich nicht mehr draufstellen, sind die Neuerer. Sie
können dies sagen, weil die Bevölkerung im Grunde das Gleiche denkt. 4. Arbeitsteilung, Beweglichkeit derAufnahme‑ Tearns,
Rotation, Kooperation. Ein Chef, der die Arbeit seiner Mitarbeiter notfalls
ersetzen kann, vermag Autorität auszuüben. jemand, der vom Metier gar nichts
versteht, hat eine Schein‑Autorität, die des Geldes. Er ist als Verhinderer
mächtig, nicht als Macher. Der Hauptelan der Filmneuerer kommt aus dem Selbstbewußtsein, das auf der
Austauschbarkeit ihrer Rollen beruht. Truffaut produziert, Godard macht Regie;
es läßt sich beliebig umkehren. Einer dreht den Film,
der andere schneidet ihn. Alle befinden sich miteinander im Dialog. Sie sind
tödliche Feinde (Katastrophenspiel). Sie treffen einander oft, führen
belanglose Plaudereien, bei dem man aber dies und jenes Wesentliche erfährt
(Irrflugspiel). Die Produktion hört nirgends im Privaten auf (Gleichgewichtsspiel),
einer klaut des anderen Ideen, nutzt die Werkzeuge seines besten Feindes
(subjektive Seite der Mutation, Maske) alles, einzeln, Gift für die
Kooperation; zugleich die Grundbedingung für eine gewisse Zeit von Kooperation.
Man kann nachweisen, daß an allen ersten Filmen kooperative Teams am Werke
waren. Ein offenes System. Daran hängt das Selbstbewußtsein, die Lust, aber außerdem die Glückschance.
Man hat in dieser offenen Weise in der Regel »mehr Glück als Verstand«, was
wiederum den Dialog fördert. Verhärmte pflegen keinen. 5. Enthierarchisierung,
Anarchisierung, Rückgriff auf Traditionen außerhalb des Films. Die
Filmemacher von den Cahiers
du Cinéma die ihre Kritik überführten in Filmemachen, kamen aus dem Reich
der Worte. Liebe zum Buch, die Vorstellung, daß Goldschmiedekunst ein Vorbild
für Filmemacher sein kann, Heißhunger nach wirlichenVerhältnissen,
erotische Kenntnisse (Truffaut), Liebe zur Musik, Liebe zur Politik ‑
Bedürfnis nach den exotischen Nischen der Filmgeschichte ‑ es sind
leidenschaftliche Bindungen an Traditionen, die der Film bis dahin nicht
aufgegriffen hatte, die, in das Filmemachen eingebracht, die Neuerungsbewegung
erfüllt haben. Sie haben sie mit einem Chor verschiedenartigster Stimmen, der sogenannten Vielfalt, ausgefüllt. Die französischen Kritiker in den Cahiers du Cinéma haben von Cinéma des auteurs und von der Politik derAutoren
gesprochen. Sie meinen damit eine Entfaltung von Filmherstellung, Vertrieb
und Ab el ' die im Prinzip die notwendige Individualität und Besonderheit, die
die Produkte ebenso haben wie die Zuschauer selbst, in den Vordergrund rückt. Deshalb
hat der Autorenfilm immer eine für alle Teile des Films (also auch den
Zutatenfilm) zutreffende Filmpolitik entwickelt. Das Prinzip des Kinos der Autoren läßt sich in jedem Moment von seinem Gegenpol verstehen.
Die Gegenpole sind z.B.: bloße Verwaltung, abstrakte Qualität, Videofilm; closed shop oder Berufskarte;
Arbeitsteilung ohne Umkehrung, so daß derjenige, der nichts versteht, befiehlt
und derjenige, der die Befehle nicht versteht, gehorcht. Unbeweglichkeit der
Teams; durchgeplantes Projekt; Unkenntnis der Filmgeschichte, Konzern. Die Diffamierung des Autorenprinzips, die sich
heute in allen europäischen Ländern findet, beruht auf mehreren Ursachen: (1) Es gibt zu wenig Autorenfilm. Politik der
Autoren ist jeweils in so geringem Maßstab nur verwirklicht (sie wird sofort
administrativ aufgegriffen und gegen das Autorenprinzip gewendet durch
die Verwaltungen), daß sie als unwirklich erscheint. Es gibt kaum
unvermischte Beispiele. (2) Selbstverständlich ist Politik der Autoren
überhaupt nur an den interessierten Seiten der Zuschauer, der lebendigen Natur
in den Menschen interessiert und nicht an der Ausnutzung ihrer
Erschöpfungszustände. (3) Sie interessiert sich nicht für Banknoten,
sondern für die Entfaltung der Produktionskraft Film. Insofern hat sie die
Gegenpropaganda der Tagesinteressen gegen sich. (4) Eine Kernüberzeugung der Wirtschaftsroutiniers
im europäischen Film heißt: »Man kann nicht mit den Erfolgen von morgen die
Jahresbilanz ausgleichen.« Dieser Hinweis besagt, daß
später berühmt gewordene Filme, vom BLAUEN ENGEL bis CASABLANCA, in ihrer aktuellen Einspielzeit nicht die
Filmwirtschaft finanzieren konnten. Obwohl die Existenz des Kinos, antworten
die Autorenfilmer von Filmen dieser Art überhaupt abhängt. |