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Eisenstein


Sergej Eisenstein: Vom Theater zum Film, Zürich 1960

Ein dialektischer Zugang zur Filmform

Wir sehen in der Natur nie etwas als Einzelheit, sondern wir sehen alles in Verbindung mit etwas anderem, das vor ihm, neben ihm, hinter ihm, unter ihm und über ihm ist.'
Goethe'
,Nach Marx und Engels ist das dialektische System nur die bewußte Reproduktion des dialektischen Verlaufes [der Substanz] der ewigen Ereignisse der Welt.'
Also:
Die Projektion des dialektischen Systems der Dinge in den Verstand in abstraktes Schaffen
in den Denkprozeß
ergibt: dialektische Denkmethoden
dialektischen Materialismus-

Und:
Die Projektion desselben Systems der Dinge im schöpferischen Schaffen
im Formgeben
ergibt: KUNST Die Grundlage dieser Philosophie ist ein dynamischer Begriff der Dinge:
Sein - als konstante Entwicklung aus der Wechselwirkung zweier sich widersprechender Gegensätze.
Synthese-entsteht aus dem Gegensatz zwischen These und Antithese.
Ein dynamisches Verständnis der Dinge ist in gleichem Maße die Basis für ein richtiges Verstehen der Kunst und aller Kunstformen. Auf dem Gebiet der Kunst wird dieses dialektische Prinzip der Dynamik verkörpert im
KONFLIKT
als Grundprinzip für die Existenz jedes Kunstwerkes und jeder Kunstform. Denn die Kunst ist immer ein Konflikt:
1, gemäß ihrer sozialen Mission 2. gemäß ihrer Natur
3, gemäß ihrer Methodologie.
Gemäß ihrer sozialen Mission weil: es die Aufgabe der Kunst ist, die Widersprüche des Seins zu offenbaren, unparteiische Ansichten zu bilden, indem sie die Widersprüche im Geist des Zuschauers aufrührt; und aus dem dynamischen Widerstreit entgegengesetzter Leidenschaften genaue intellektuelle Begriffe zu formen.
Gemäß ihrer Natur weil: ihre Natur ein Konflikt zwischen natürlicher Existenz und schöpferischer Tendenz ist; zwischen organischer Trägheit und absichtlicher Initiative. Die Hypertrophie der absichtlichen Initiative-die Prinzipien der rationalen Logik - verknöchert Kunst im mathematischen Technlzismus. [Eine gemalte Landschaft wird zur topographischen Karte, ein gemalter hl. Sebastian zur anatomischen Tabelle.] Die Hypertrophie der organischen Natürlichkeitdie organische Logik-verwässert die Kunst zu Formlosigkeit. [Ein Malewitsch wird zum Kaulbach, ein Archipenko zur Seitenansicht einer Wachsfigur.]
Denn die Grenze der organischen Form [das passive Seinsprinzip] ist Natur. Die Grenze der rationalen Form [das aktive Prinzip der Produktion] ist Industrie. An der Kreuzung von Natur und Industrie steht die Kunst.
Die Kollision der organischen Form mit der Logik der rationalen Form ergibt die Dialektik der Kunstform. Die Wechselwirkung der beiden schafft und bestimmt den Dynamismus. [Nicht nur im Sinne eines Raum-Zeit-Kontinuums, sondern auch auf dem Gebiet des absoluten Denkens. Ebenso sehe ich die Gründung neuer Begriffe und Gesichtspunkte im Konflikt zwischen gewohntem Begriff und besonderer Vorstellung als Dynamik - als Dynamisierung der Trägheit der Wahrnehmung-, als Dynamisierung der traditionellen Sicht` in eine neue.]
Die Quantität der Intervalle bestimmt den Druck der Spannung.
[Man betrachte zum Beispiel die Auffassung der Intervalle in der Musik. Es kann Fälle geben, wo die Entfernung der Trennung so groß ist, daß er zu einem Bruch führt - zu einem Zusammenbruch des homogenen Kunstbegriffes. Zum Beispiel die ,Unhörbarkeit' gewisser Intervalle.]
Die räumliche Form dieses Dynamismus ist Ausdruck. Seine Spannungsphasen: Rhythmus.
Das trifft auf jede Kunstform und für jede Ausdrucksart zu.
Desgleichen ist der menschliche Ausdruck ein Konflikt zwischen bedingten und nicht bedingten Reflexen. [Hier kann ich nicht mit Klages übereinstimmen, der a) den menschlichen Ausdruck nicht als dynamischen Vorgang, sondern als statisches Ergebnis ansieht, und b) alles, was in Bewegung ist, dem Bereich der ,Seele`, und nur das hindernde Element der ,Vernunft` zuschreibt [,Vernunft' und Seele' im idealistischen Sinne entsprechen hier entfernt den Begriffen der bedingten und unbedingten Reflexe].
Das trifft für jeden Bereich zu, der als Kunst verstanden werden kann. Zum Beispiel zeigt das logische Denken, als Kunst begriffen, den gleichen dynami-

schen Mechanismus.
... das intellektuelle Leben von Plato oder Dante oder Spinoza oder Newton wurde weitgehend geleitet und unterstützt von ihrer Freude an der reinen Schönheit der rhythmischen Beziehung zwischen Gesetz und Instanz, Art und Individuum oder Ursache und Wirkung
Das bestätigt sich auch auf anderen Gebieten, zum Beispiel in der Rede, deren ganzes Mark, Vitalität und Dynamismus aus der Irregularität des Teils in bezug auf die Gesetze des Systems als Ganzes entstehen.
Im Gegensatz dazu können wir die Sterilität des Ausdruckes in künstlichen, vollkommen regulierten Sprachen wie Esperanto feststellen.
Aus diesem Prinzip leitet sich der ganze Zauber der Dichtung ab. Ihr Rhythmus entsteht als Konflikt zwischen dem verwendeten Versmaß und der Verteilung der Akzente, die sich über dieses Maß hinwegsetzen.
Der Begriff eines formal statischen Phänomens als dynamische Funktion ist in den folgenden weisen Worten Goethes dialektisch anschaulich dargestellt: Die Baukunst ist eine erstarrte Musik .
Genau wie im Falle einer homogenen Ideologie [ein monistischer Standpunkt], muß das Ganze ebenso wie die kleinste Einzelheit von einem einzigen Prinzip durchdrungen sein. So enthüllt die Methodologie der Kunst, die sich Seite an Seite neben den Konflikt der sozialen Bedingtheit und den Konflikt der bestehenden Natur stellt, das gleiche Prinzip des Konfliktes. Als das Grundprinzip des zu schaffenden Rhythmus und die Gründung der Kunstform.
Kunst ist immer Konflikt gemäß ihrer Methodologie. Wir werden jetzt das allgemeine Problem der Kunst am besonderen Beispiel ihrer höchsten Form - dem Film - betrachten.
Aufnahme und Montage sind die Grundelemente der Filmkunst. Montage
wurde vom sowjetischen Film als Nerv der Filmkunst eingeführt.
Das Wesen der Montage bestimmen, heißt das spezifische Problem der Filmkunst lösen. Die ersten bewußten Filmschaffenden und unsere ersten Filmtheoretiker betrachteten die Montage als Mittel der Beschreibung. Man stellte einzelne Aufnahmen nebeneinander wie Häuserblöcke. Die Bewegung inner-
halb dieser Häuserblock-Aufnahmen und die darausfolgende Länge der Bestandteile wurde dann als Rhythmus angesehen.
Eine völlig falsche Auffassung!
Das würde die Beschreibung eines gegebenen Objektes einzig in bezug auf die Natur seines äußeren Verlaufes bedeuten. Der mechanische Prozeß des Verbindens würde zum Prinzip gemacht. Wir können eine solche Beziehung der Längen nicht als Rhythmus bezeichnen. Daraus entstehen eher metrische als rhythmische Beziehungen, die einander ebenso entgegengesetzt sind wie das mechanisch-metrische System Mensendiecks der organisch-rhythmischen Schule Bodes auf dem Gebiet der Gymnastik.
Nach dieser Definition, die sogar der Theoretiker Pudowkin teilte, ist Montage das Mittel, eine Idee mit Hilfe einzelner Aufnahmen aufzurollen: das epische' Prinzip.
Meiner Meinung nach hingegen ist Montage eine Idee, die aus der Kollision von unabhängigen Aufnahmen entsteht. Aufnahmen, die einander sogar widersprechen: das dramatische' Prinzip.
Sophistik? Gewiß nicht. Denn wir suchen eine Definition des Gesamtcharakters, des prinzipiellen Stils und Geistes der Filmkunst auf seiner technischen [optischen] Basis.
Wir wissen, daß das Phänomen der Bewegung im Film auf der Tatsache beruht, daß zwei aufeinanderfolgende bewegungslose Bilder eines beweglichen Körpers scheinbar in Bewegung übergehen, wenn man sie nacheinander in der erforderlichen Geschwindigkeit zeigt.
Diese gemeinverständliche Beschreibung dessen, was als Ineinanderübergehen geschieht, ist teilweise verantwortlich für das oben erwähnte Mißverstehen des Charakters der Montage.
Untersuchen wir den Vorgang des zu besprechenden Phänomens genauer-so wie es wirklich erscheint-und ziehen wir unsere Schlüsse daraus. Zwei photographierte unbewegliche Bilder, die nebeneinander gestellt werden, erscheinen als Bewegung. Ist das richtig? Bildlich und phraseologisch-ja.
Aber mechanisch ist es nicht richtig. Denn in Wirklichkeit wird jedes folgende Element nicht neben, sondern über dem anderen wahrgenommen. Denn die " Episch` und dramatisch' sind hier im Hinblick auf die Methodologie, nicht auf Inhalt oder Handlung gebraucht.
Idee [oder Wahrnehmung] der Bewegung entsteht dadurch, daß dem Eindruck der ersten Position des Objektes, den man behalten hat, eine neu sichtbare weitere Position des Objektes überlagert wird. Das ist nebenbei der Grund für das Phänomen der räumlichen Tiefe in der optischen Überlagerung zweier Ebenen im Stereoskop. Aus der Überlagerung zweier Elemente der gleichen Dimension ergibt sich immer eine neue, höhere Dimension. Im Falle des Stereoskopes ergibt die Überlagerung zweier nicht identischer Zweidimensionalitäten eine stereoskopische Dreidimensionalität.
Auf anderem Gebiet: ein konkretes Wort [eine Bezeichnung] ergibt, neben ein konkretes Wort gesetzt, einen abstrakten Begriff - wie in der chinesischen und japanischen Sprache, in denen ein materielles Ideogramm ein transzendentes [begriffliches] Resultat bezeichnen kann.
Das Nichtübereinstimmen der Umrisse des ersten Bildes - das sich dem Geist schon eingeprägt hat - mit dem anschließend wahrgenommenen zweiten Bild erzeugt durch Konflikt das Gefühl der Bewegung und bestimmt die Spannung, welche zum realen Element eines authentischen Rhythmus wird.
Hier haben wir zeitlich, was wir räumlich auf einer graphischen oder gemalten Fläche erscheinen sehen.
Worin besteht die dynamische Wirkung eines gemalten Bildes? Das Auge folgt der Richtung eines Elementes im Bild. Es behält einen visuellen Eindruck, der dann mit dem Eindruck kollidiert, der vom Verfolgen der Richtung eines zweiten Elementes herrührt. Der Konflikt dieser Richtungen bildet die dynamische Wirkung im Erfassen des Ganzen.
I. Sie kann rein linear sein: Fernand Leger, oder der Suprematismus.
II. Sie kann anekdotisch' sein. Das Geheimnis der wundervollen Beweglichkeit der Gestalten von Daumier und Lautrec beruht auf der Tatsache, daß die verschiedenen anatomischen Teile eines Körpers in zeitlich verschiedenen, disjunktiven räumlichen Bedingungen [Positionen] dargestellt sind. Wenn man zum Beispiel in Toulouse-Lautrecs Lithographie der Mlle Cissy Loftus die Position A des Fußes logisch entwickelt, baut man einen Körper in der entsprechenden Position A auf. Aber der Körper ist vom Knie aufwärts schon in Position A+a dargestellt. Schon hier haben wir den filmischen Effekt aneinander40

gefügter, bewegungsloser Bilder. Von den Hüften bis zu den Schultern sehen wir A+a+a. Die Gestalt wird lebendig und fliegend.
III. Zwischen I und II liegen die Anfänge des italienischen Futurismus - wie zum Beispiel in Ballas Mann mit sechs Beinen in sechs Stellungen' - denn II erreicht seine Wirkung durch Beibehalten der natürlichen Einheit und anatomischen Richtigkeit, während andererseits I sie mit rein elementaren Mitteln erzielt. III zerstört zwar die Natürlichkeit, ist aber noch nicht zur Abstraktion vorgedrungen.
IV. Der Konflikt der Richtungen kann auch ideographischer Art sein. Auf diese Weise haben wir zum Beispiel die prägnanten Charakterisierungen eines Sharaku erhalten. Das Geheimnis seiner äußerst perfektionierten Ausdruckskraft liegt in der anatomischen und räumlichen Disproportion der Teile - im Vergleich dazu könnte unser I als zeitliche Disproportion bezeichnet werden.
Diese räumliche Disproportion, im allgemeinen ,Irregularität' genannt, war stets eine Anziehungskraft und ein Instrument für den Künstler. In einem Essay über Rodins Zeichnungen gab Camille Mauclair eine Erklärung dieses Strebens:
,Die größten Künstler, Michelangelo, Rembrandt, Delacroix, haben alle in einem bestimmten Augenblick, als ihre Genialität emporschnellte, den Ballast der Genauigkeit, wie er von unserer vereinfachenden Vernunft und unseren gewöhnlichen Augen begriffen wird, abgeworfen, um Ideen Form zu geben, der Synthese der bildlichen Handschrift ihrer Träume.`
Zwei erfahrene Künstler des neunzehnten Jahrhunderts - ein Maler und ein Dichter - haben ästhetische Formulierungen dieser Irregularitäten' versucht. Renoir stellte folgende These auf:
,Die Schönheit jeder Beschreibung schöpft ihren Zauber aus der Vielfalt. Die Natur verabscheut sowohl vacuum wie Regularität. Aus dem gleichen Grund kann kein Kunstwerk wirklich als solches gelten, wenn es nicht von einem Künstler geschaffen worden ist, der an die Irregularität glaubt und jede festgelegte Form verwirft. Regularität, Ordnung, Sucht nach Vollkommenheit [die immer eine falsche Vollkommenheit ist], zerstören die Kunst. Die einzige Möglichkeit, den Geschmack an der Kunst zu erhalten, ist, Künstlern und Publikum
die Bedeutung der Irregularität einzuschärfen. Irregularität ist die Basis jeder Kunst.'
Und Baudelaire schrieb in seinem Tagebuch:
,Was nicht leicht verzerrt ist, dem fehlt die sensible Anziehungskraft; daraus folgt, daß die Irregularität - das heißt das Unerwartete, Überraschung und Staunen - ein wesentlicher Teil und ein Charakteristikum der Schönheit ist.'
Bei näherem Betrachten der besonderen Schönheit der Irregularität, wie sie in der Malerei sowohl von Grünewald wie von Renoir angewendet wurde, wird man sehen, daß sie eine Disproportion in der Beziehung einer Einzelheit in einer Dimension zu einer Einzelheit in einer anderen Dimension ist.
Die räumliche Entwicklung der relativen Größe einer Einzelheit in Verbindung mit einer anderen, und die daraus entstehende Kollision der Proportionen, vom Künstler zu diesem Zweck entworfen, ergeben eine Charakterisierung - eine Definition der dargestellten Sache.
Schließlich die Farbe. Jede Farbschattierung teilt unserer Sicht einen gegebenen Vibrationsrhythmus mit, das heißt nicht figurativ, sondern rein physiologisch, denn Farben unterscheiden sich voneinander durch die Anzahl ihrer Lichtvibrationen.
Die angrenzende Schattierung oder der angrenzende Farbton ist ein weiterer Vibrationsgrad. Der Kontrapunkt der beiden - der behaltene Vibrationsgrad gegen den neu wahrgenommenen - bringt den Dynamismus in unserer Wahrnehmung der Wechselwirkung der Farbe hervor.
Mit einem einzigen Schritt von den visuellen zu den akustischen Vibrationen, befinden wir uns im Bereich der Musik. Vom Bereich des räumlich-bildlichen zum Bereich des zeitlich-bildlichen, wo dasselbe Gesetz herrscht. Denn der Kontrapunkt ist nicht nur eine Kompositionsformel der Musik, sondern durchaus der Grundfaktor für die Möglichkeit einer Tonwahrnehmung und Tonunterscheidung.
Man könnte beinahe sagen, daß wir in jedem der zitierten Fälle das gleiche Vergleichsprinzip am Werk gesehen haben, welches uns auf jedem Gebiet Wahrnehmung und Definition ermöglicht.
Im beweglichen Bild [Film] haben wir sozusagen eine Synthese zweier Kontrapunkte - des räumlichen Kontrapunktes der graphischen Kunst und des zeitlichen Knntranunktes der Musik.
Im Film tritt das ein - und charakterisiert ihn - was als visueller Kontrapunkt
bezeichnet werden kann.
Wenn wir diesen Begriff auf den Film anwenden, kommen wir der Filmgrammatik einen großen Schritt näher. Ebenso einer Syntax der Filmmanifestationen, in welcher der visuelle Kontrapunkt ein ganz neues System von Manifestationsformen bestimmen könnte. [Versuche in dieser Richtung sind auf den Tafeln nach Seite 24 durch Fragmente aus meinen Filmen illustriert.]
Die Grundvoraussetzung für das alles ist:
Die Aufnahme ist keinesfalls ein Element der Montage. Die Aufnahme ist eine Montagezelle [oder Molekül].
In dieser Formulierung führt die dualistische Teilung in Untertitel und Aufnahme
und
Aufnahme und Montage
die Analyse weiter zu einer dialektischen Betrachtung als drei verschiedene Phasen einer homogenen Aufgabe des Ausdruckes, deren homogene Charakteristika die Homogenität ihrer Strukturgesetze bestimmen. Wechselbeziehung der drei Phasen:
Der Konflikt innerhalb einer These [einer abstrakten Idee] formuliert sich in der Dialektik des Untertitels, formt sich räumlich im Konflikt mit der Aufnahme, und bricht im Montagekonflikt zwischen den einzelnen Aufnahmen mit wachsender Intensität aus.
Das ist ganz analog zum menschlichen, psychologischen Ausdruck. Es ist ein Konflikt der Motive, die ebenfalls in drei Phasen verstanden werden können: 1. Rein verbaler äußerster Grad. Ohne Betonung-Ausdruck im Sprechen.
2. Ausdruck der [mimischen und Betonungs-] Gebärde. Projektion des Konfliktes auf das ganze Ausdruckssystem des menschlichen Körpers. Gebärde der Körperbewegung und Gebärde der Betonung.
3. Projektion des Konfliktes in den Raum. Durch die Intensivierung der Motive
wird das Zickzack des mimischen Ausdruckes in den umgebenden Raum vorangetrieben, entsprechend der gleichen Verzerrungsformel. Ein Zickzack des Ausdruckes entsteht aus der räumlichen Teilung, verursacht durch einen Menschen, der sich im Raum bewegt. Inszenierung.
Das gibt uns die Grundlage für eine ganz neue Auffassung des Problems der Filmform.
Wir zählen Beispiele der Konflikttypen innerhalb der Form auf, die ebenso charakteristisch für den Konflikt innerhalb der Aufnahme wie für den Konflikt zwischen kollidierenden Aufnahmen, oder in der Montage sind:
1. Der graphische Konflikt [siehe Tafel VI, Abb. 1].
2. Der Konflikt zwischen den Ebenen [siehe Tafel VI, Abb. 2]. 3. Der Konflikt zwischen den Volumen [siehe Tafel VI, Abb. 3]. 4. Der räumliche Konflikt [siehe Tafel VI, Abb. 4].
5. Der Lichtkonflikt.
6. Dar Konflikt im Tempo, und so weiter.
Nota bene: Das ist eine Liste der hauptsächlichen, der vorherrschenden Formen. Es versteht sich, daß sie hauptsächlich als Komplexe auftreten.
Für den Obergang zur Montage genügt es, jedes Beispiel in zwei unabhängige, primäre Teile zu zerlegen, ähnlich wie der graphische Konflikt können auch alle anderen Fälle aufgeteilt werden:
Einige weitere Beispiele:
7. Konflikt zwischen Sache und Gesichtspunkt [wird mit Hilfe einer räumlichen Verzerrung durch den Kamerawinkel erreicht] [siehe Tafel VI1, Abb. 5].
8. Der Konflikt zwischen der Sache und ihrer räumlichen Natur [wird durch eine optische Verzerrung mit den Objektiven erreicht].
9. Der Konflikt zwischen einem Ereignis und seiner zeitlichen Natur [wird durch Zeitlupe und Zeitraffer erreicht].
10. Der Konflikt zwischen dem ganzen optischen Komplex und einer ganz anderen Sphäre.
Also bringt der Konflikt zwischen optischer und akustischer Erfahrung den Tonfilm
hervor, welcher als akustisch-visueller Kontrapunkt realisiert werden kann.
Die Formulierung und Untersuchung des Phänomens Film als Formen des Konfliktes, ergibt die erste Möglichkeit, ein homogenes System der visuellen Dramaturgie für alle allgemeinen und besonderen Fälle des Filmproblemes auszudenken.
Eine Dramaturgie der visuellen Filmform auszudenken, die ebenso geregelt und genau ist wie die schon bestehende Dramaturgie der Filmstory.
Betrachtet man das Medium Film von dieser Sicht aus, dann können die folgenden Formen und Möglichkeiten als Filmsyntax zusammengefaßt werden oder aber es wäre vielleicht genauer, das folgende als
Versuch einer Filmsyntax zu bezeichnen.
Wir zählen hier eine Reihe von Möglichkeiten dialektischer Entwicklung auf, die aus dem Vorschlag abzuleiten sind: Der Begriff des beweglichen [zeitkonsumierenden] Bildes entsteht aus der Überlagerung - oder dem Kontrapunkt - zweier unbeweglicher Bilder.
I. Jedes bewegliche Fragment der Montage. Jedes photographierte Teilstück. Technische Definition des Phänomens der Bewegung. Bis jetzt noch keine Komposition. [Ein laufender Mann. Ein abgefeuertes Gewehr. Ein Wasserspritzer.l

il. Ein künstlich hervorgerufenes Bild der Bewegung. Das optische Grundelement wird für willkürliche Kompositionen verwendet:
A. Logisch
Beispiel 1 [aus,Oktober']: Montagewiedergabe eines Maschinengewehres, das abgefeuert wird, durch Einzelheiten des Feuerns, die sich überlagern. Kombination A: Ein hell beleuchtetes Maschinengewehr. Eine zweite Aufnahme mit Weichzeichner. Doppeltes Bersten: graphisches Bersten + Bersten des Lichtes. Großaufnahme des Maschinengewehrschützen.
Kombination B: [siehe Tafel VII, Abb. 6] Beinahe ein Effekt der doppelten Belichtung erreicht durch ,Klapper'-Montage-Effekt. Länge der Montagestücke - je zwei Einstellungen.
Beispiel 2 [aus ,Potemkin']: Eine Illustration der unverzüglichen Handlung. Frau mit Zwicker. Darauf folgt unmittelbar dieselbe Frau mit zerbrochenem Zwicker und blutendem Auge: Eindruck eines Schusses, der das Auge trifft [siehe Tafel VII, Abb. 7].
B. Alogisch
Beispiel 3 [aus,Potemkin']: der gleiche Kunstgriff auf einen bildlichen Symbolismus angewendet. Im Donner der Kanonen des,Potemkin' steht ein marmorner Löwe auf, als Protest gegen das Blutvergießen auf der Treppe von Odessa [siehe Tafel VIII, Abb. 8], komponiert aus drei Aufnahmen von feststehenden Marmorlöwen im Alupka-Palast in der Krim: einem schlafenden Löwen, einem erwachenden Löwen, und einem aufstehenden Löwen. Die Wirkung wird durch eine richtige Berechnung der Länge der zweiten Aufnahme erreicht. Durch die Überlagerung über die erste Aufnahme entsteht die erste Handlung. Das schafft Zeit, um dem Verständnis die zweite Position einzuprägen. Überlagerung der dritten Position über die zweite ergibt die zweite Handlung: der Löwe steht auf. Beispiel 4 [aus ,Oktober']: Beispiel 1 zeigte, wie das Schießen symbolisch aus Elementen außerhalb des eigentlichen Schießvorganges zusammengesetzt wurde. Bei der Darstellung des von Kornilow versuchten monarchistischen Putsches, fiel mir ein, daß seine militärische Tendenz in einer Montage gezeigt 46
werden könnte, in welcher religiöse Details als Material verwendet würden Denn Kornilow hatte seine Absicht unter dem Vorwand eines kirchlicher ,Kreuzzuges' von Moslems [!], seiner Kaukasischen Wilden Division' und einigen Christen gegen die Bolschewiken enthüllt. So blendeten wir Aufnahmen eines barocken Christus [der in den leuchtenden Strahlen seines Heiligenscheines zu bersten schien] in Aufnahmen einer vollkommen selbstbeherrschten, eiförmigen Maske Uzums, der Gottheit der Myrthe, ein. Der zeitliche Konflikt zwischen der geschlossenen Eiform und der graphischen Sternform rief den Effekt eines augenblicklichen Berstens einer Bombe oder eines Schrapnelles hervor [siehe Tafel VIII, Abb. 9•]. [Tafel IX, Bildfolge 10, welche die Verwendbarkeit solchen Materials fürtendenziöse oder ideologische Ausdruck& kraft zeigt, wird weiter unten besprochen werden.]
So weit haben die Beispiele primitiv-physiologische Fälle gezeigt, in denen aus schließlich die Überlagerung der optischen Bewegung verwendet wurde.
III. Emotionale Kombinationen, nicht nur mit dem sichtbaren Element der Aufnahme, sondern hauptsächlich mit Verknüpfungen von psychologischen Assoziationen. Assoziationsmontage. Als Mittel, eine Situation emotional zu unter streichen.
In Beispiel 1 hatten wir zwei aufeinanderfolgende Aufnahmen A und B, die in Subjekt identisch waren. Aber sie waren nicht identisch in bezug auf die Stellung des Subjektes innerhalb der Einstellung:
A B X
• Hierher gehören auch Beispiele von primitiverer Wirkung, wie zum Beispiel das Ober blenden von Kirchtürmen, die im Winkel gegeneinander stehen.
Sie verursachen eine Dynamisierung im Raum - einen Eindruck räumlicher Dynamik:
i
Der Grad des Unterschiedes zwischen Position A und B bestimmt die Spannung der Bewegung.
Wir wollen als weiteren Fall annehmen, daß die Subjekte der Aufnahmen A und B nicht identisch sind, obschon die Assoziationen der beiden Aufnahmen identisch sind, das heißt assoziativ identisch.
Diese Dynamisierung des Subjektes, nicht im räumlichen, sondern im psychologischen, das heißt emotionalen Bereich, verursacht also die
emotionale Dynamisierung.
Beispiel 1 [aus ,Streik']; Die Montage des Hinmordens der Arbeiter ist in Wirklichkeit eine Überblendungsmontage dieses Gemetzels mit dem Schlachten eines Ochsen im Schlachthof. Obschon die Subjekte verschieden sind, ist ,Schlachten` das assoziative Bindeglied. Das bewirkte eine starke emotionale Intensivierung der Szene. Selbstverständlich spielt die Homogenität der Gebärde in diesem Falle eine wichtige Rolle, um die Wirkung zu erreichen - sowohl die Bewegung der dynamischen Gebärde wie die statische Geste, welche das Bild graphisch aufteilt.
Dieses Prinzip wurde später von Pudowkin in Das Ende von St.Petersburg' angewendet, in der starken Sequenz, in der sich Aufnahmen einer Börse und eines Schlachtfeldes überschneiden. Sein vorhergehender Film Die Mutter' hatte eine ähnliche Sequenz: das Brechen des Eises im Fluß parallel mit der Arbeiterdemonstration.
Ein solches Mittel kann pathologisch verfallen, wenn der wesentliche Gesichtspunkt - die emotionale Dynamisierung des Subjektes - verloren geht. Sobald 48
der Filmschaffende dieses Wesentliche aus dem Blick verliert, verknöchert das Mittel zu leblosem literarischen Symbolismus und stilistischem Manierismus. Zwei Beispiele für eine solche hohle Anwendung dieses Mittels fallen mir ein: Beispiel 2 [aus ,Oktober']: Die süßlichen Kompromißgesänge der Menschewiki beim zweiten Kongreß der Sowjets - während des Sturms auf das Winterpalais - überschneiden sich mit harfespielenden Händen. Das war ein rein literarischer Parallelismus, der das Subjekt durchaus nicht dynamisierte. Ähnlich überschneiden sich in Ozeps Lebendem Leichnam' Kirchtürme [eine Nachahmung der Kirchtürme in ,Oktober'] und lyrische Landschaften mit den Plädoyers des Staatsanwaltes und des Verteidigers. Das ist der gleiche Irrtum wie in der ,Harfensequenz'.
Auf der anderen Seite kann eine Mehrheit von rein dynamischen Effekten positive Ergebnisse erzielen:
Beispiel 3 [aus ,Oktober']: Der dramatische Augenblick der Vereinigung des Motorrad - Bataillons mit dem Sowjetkongreß wurde durch Aufnahmen von sich abstrakt drehenden Rädern in Verbindung mit dem Eintritt eines neuen Delegierten dynamisiert. Auf diese Weise wurde der große Maßstab des emotionalen Inhaltes in aktuelle Dynamik verwandelt.
Das gleiche Prinzip, das durch das Aneinanderfügen von zwei entfernten Ereignissen Begriffe, Emotionen zum Leben erweckt, führte zu:
IV. Befreiung der ganzen Handlung von der Definition von Zeit und Raum. Die ersten Versuche in dieser Richtung machte ich in ,Oktober'.
Beispiel t : Ein mit Soldaten überfüllter Schützengraben scheint durch eine riesige Geschützbasis, die unaufhaltsam heruntersinkt, zermalmt zu werden. Als anti-militaristisches Symbol, allein vom Gesichtspunkt des Subjektes aus gesehen, wird die Wirkung erreicht durch ein scheinbares Zusammenbringen eines unabhängig existierenden Schützengrabens und eines überwältigenden militärischen Produktes, das ebenfalls physisch unabhängig ist.
Beispiel 2: Inder Szene von Kornilows ,Putsch', die Kerenskis bonapartlstischen Träumen ein Ende macht. Hier klettert einer von Kornilows Tanks hoch und zermalmt einen gipsernen Napoleon, der auf Kerenskis Schreibtisch im Winterpalais steht, eine Aneinanderfügung von rein symbolischer Bedeutung.
Diese Methode wurde jetzt von Dowjenko in Arsenal' verwendet, um ganze Sequenzen zu gestalten, ebenso von Esther Schub in Das Rußland Nikolaus IL' und Leo Tolstoi'.
Ich möchte gerne noch ein weiteres Beispiel für diese Methode anführen, die traditionelle Verfahrensweise umzuwerfen-obschon es noch nicht in die Praxis umgesetzt worden ist.
192A-25 grübelte ich über die Idee eines filmischen Porträts eines aktuellen Menschen nach. Damals herrschte eine Tendenz, aktuelle Menschen im Film nur in langen, ungeschnittenen dramatischen Szenen zu zeigen. Man glaubte, Schneiden [Montage] würde die Idee des aktuellen Menschen zerstören. Abram Romm stellte in dieser Hinsicht so etwas wie einen Rekord auf, als er im ,Totenschiff' 40 Meter lange dramatische Aufnahmen ungeschnitten verwendete. Ich betrachtete [und betrachte noch] eine solche Auffassung als äußerst unfilmisch.
Nun gut - was wäre eine linguistisch genaue Charakterisierung eines Menschen ? Sein rabenschwarzes Haar ...
Die Wogen seines Haares ...
Der Azur seiner strahlenden Augen ... Seine stahlharten Muskeln ...
Selbst in einer weniger übertriebenen Beschreibung wird sich jede wörtliche Darstellung einer Person dabei ertappen, eine Auswahl von Wasserfällen, Blitzableitern, Landschaften, Vögeln etc. zu benutzen.
Weshalb sollte die Filmkunst eher den Formen des Theaters und der Malerei als der Methodologie der Sprache folgen, welche erlaubt, daß aus der Kombination von zwei konkreten Bedeutungen zweier konkreter Objekte ganz neue Begriffe von Ideen entstehen? Sprache steht dem Film viel näher als Malerei. Zum Beispiel entsteht in der Malerei die Form aus abstrakten Elementen von Linie und Farbe, während Im Film die materielle Konkretheit des Bildes Innerhalb der Einstellung-als ein Element - die größte Schwierigkeit In der Handhabung bietet. Warum sich also nicht eher an das System der Sprache anlehnen, das gezwungen ist, die gleiche Mechanik im Erfinden von Worten und Wortkomplexen anzuwenden.
Weshalb kann man auf der anderen Seite in orthodoxen Filmen nicht auf die Montage verzichten?
Der Unterschied in den Montagestücken liegt in ihrer fehlenden Existenz als einzelne Einheiten. Jedes Stück kann nicht mehr als eine bestimmte Assoziation hervorrufen. Die Anhäufung solcher Assoziationen kann die gleiche Wirkung erzielen, wie er für den Zuschauer in der Handlung eines realistisch dargestellten Stückes mit rein physiologischen Mitteln vorgesehen ist.
Ein Mörder zum Beispiel hat auf der Bühne eine rein physiologische Wirkung. In einem Montagestück photographiert, kann er einfach als Information, als Untertitel dienen. Die emotionale Wirkung beginnt erst mit der Rekonstruktion des Ereignisses in Montage - Fragmenten, deren jedes einzelne eine bestimmte Assoziation hervorruft - deren Summe ein allumfassender Komplex emotionalen Gefühles sein wird. Traditionell:
1. Eine Hand hebt ein Messer.
2. Die Augen des Opfers öffnen sich plötzlich. 3. Seine Hände klammern sich an den Tisch. 4. Das Messer schnellt hoch.
5. Die Augen blinzeln unwillkürlich. 6. Blut spritzt.
7. Ein Mund schreit.
8. Etwas tropft auf einen Schuh ...
und ähnliche Film-Klischees. Nichtsdestoweniger ist jedes Bruchstück im Hinblick auf die Gesamthandlung beinahe abstrakt. Je differenzierter sie sind, desto abstrakter werden sie, da sie nur eine bestimmte Assoziation herrufen. Ganz logisch taucht der Gedanke auf: könnte der gleiche Zweck nicht produktiver erfüllt werden, wenn man der Handlung nicht so sklavisch folgte, sondern die Idee, den Eindruck des Mörders durch eine freie Anhäufung von assoziativem Material materialisieren würde. Denn die wichtigste Aufgabe ist immer noch, die Idee des Mörders darzustellen - das Gefühl des Mörders als solches. Die Handlungsfabel ist nicht mehr als ein Umweg, ohne den man nicht fähig ist, dem Zuschauer etwas mi:xuteilen Jedenfalls würde eine Anstrengung in
dieser Richtung bestimmt eine sehr interessante Vielfalt an Formen hervorbringen.
Wenigstens müßte es einmal jemand versuchen l Seit mir dieser Gedanke gekommen ist, habe ich noch nicht Zeit gehabt, das Experiment zu machen. Aber, um zur Hauptlinie unserer Syntax zurückzukommen, sie könnte uns diesen Aufgaben näherbringen.
Während bei I, II und III die Spannung für einen rein physiologischen Effekt berechnet war, müssen wir hier auch den Fall der gleichen Konflikt-Spannung erwähnen, die dem Zweck neuer Begriffe, neuer Haltungen dient, das heißt, rein intellektuellen Zielen.
Beispiel 1 [aus ,Oktober']: Kerenskis Aufstieg zu Macht und Diktatur nach dem Juliaufstand 1917. Ein komischer Effekt wurde erzielt durch Untertitel, welche höher und höher kletternde Ränge des Aufstieges angaben [Diktator- Generalissimus-Marineminister-Armeeminister etc.] und in fünf oder sechs Aufnahmen hineingeblendet waren, die Kerenski zeigten, wie er die Treppe zum Winterpalais hinaufstieg, alles im gleichen Schritt. Der Konflikt zwischen dem Humbug der steigenden Ränge und dem Treppensteigen des ,Helden' - es ist immer die gleiche, unveränderte Treppenflucht - ergibt hier ein intellektuelles Resultat: Kerenskis wesenhafte Nichtigkeit wird satirisch gezeigt. Wir haben den Kontrapunkt eines wörtlich ausgedrückten konventionellen Gedankens mit der abgebildeten Handlung einer einzelnen Person, die ihren schnell wachsenden Aufgaben nicht entspricht. Das Nichtübereinstimmen dieser beiden Faktoren ergibt ein rein intellektuelles Urteil des Lesers auf Kosten dieser Person. Intellektuelle Dynamisierung,
Beispiel 2 [aus ,Oktober']: Kornilows Marsch auf Petrograd geschah unter dem Banner Im Namen von Gott und Vaterland'. Hier versuchten wir die religiöse Bedeutung dieser Episode in rationalistischer Weise zu enthüllen. Eine Anzahl religiöser Bilder, von einem prachtvollen barocken Christus bis zu einem Eskimo-Idol wurden ineinandergeblendet. In diesem Fall lag der Konflikt zwischen dem Begriff und der Symbolisierung Gottes. Während bei der ersten Statue, die gezeigt wurde, Gedanke und Bild vollkommen übereinstimmend erschienen, 52
klafften die Elemente mit jedem weiteren Bild mehr und mehr auseinander [siehe Tafel [X,Abb.10]. Unter Beibehaltung der Bezeichnung ,Gott' weichen die Bilder in gesteigertem Maße von unserem Gottesbegriff ab und führen schließlich unaufhaltsam zu individuellen Schlüssen über die wahre Natur aller Gottheiten. Auch in diesem Fall wurde versucht, durch eine Kette von Bildern, einen rein intellektuellen Entschluß zu erreichen, der sich aus einem Konflikt zwischen einem Vorurteil und allmählichen Zweifeln daran in zielbewußten Stufen ergibt. Schrittfür Schritt wird die Macht, dadurch, daß jedes neue Bild mit der üblichen Bezeichnung verglichen wird, hinter einem Vorgang aufgespeichert, der formal mit dem Vorgang der logischen Folgerung verglichen werden kann. Der Entschluß auf diese Ideen, ebenso wie auf die angewandte Methode zu verzichten, ist schon intellektuell vorgesehen.
Die konventionelle beschreibende Form führt beim Film zur formalen Möglichkeit einer Art filmischen Argumentation. Während der konventionelle Film die Emotionen leitet, ermöglicht dieses Verfahren, auch den ganzen Denkprozeß anzuregen und zu leiten.
Diese beiden experimentellen Passagen wurden von der Mehrzahl der Kritiker heftig abgelehnt. Denn sie wurden rein politisch aufgefaßt. Ich würde niemals zu leugnen versuchen, daß diese Form sehr dazu geeignet ist, ideologisch betonte Thesen auszudrücken; aber es ist schade, daß die Kritiker die rein filmischen Möglichkeiten dieser Stellungnahme völlig übersahen.
In diesen beiden Versuchen haben wir den ersten Schritt zu einer ganz neuen, noch ungeborenen Form des filmischen Ausdrucks getan. Zu einem rein intellektuellen, von den traditionellen Grenzen befreiten Film, der direkte Formen für Gedanken und Begriffe schafft, ohne Obergänge und Paraphrasen zu benötigen. Vielleicht könnten wir doch eine
Synthese von Kunst und Wissenschaft erreichen. Das wäre der Name für unsere neue Epoche auf dem Gebiet der Kunst. Es wäre die endliche Rechtfertigung von Lenins Worten, daß die ,Filmkunst die wichtigste aller Künste' sei.
[Moskau, April 1929]

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