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KollektivÖkonomie

Das Foto zeigt 8 Personen, eine Papiertüte über den Kopf mit aufgemalten Gesichtern.
Das kommt seltsam bekannt vor: In der Schlusssequenz von Harun Farockis Film „die Worte des Vorsitzenden“ landet der aus Maos Schriften gebaute Papierflieger in der Suppe der Konterrevolutionäre, gekennzeichnet durch übergestülpte Papiertüten (eine im China der Kulturrevolution tatsächlich gängige Praktik des Anprangerns als Feind der Revolution)
Ob das Zitat noch erkannt wird? Ob es als solches gemeint war? Es ließe sich jedenfalls als Spiel mit den beiden Polen Kollektiv und Individualität begreifen und wäre darum gar nicht so unpassend.
Der Text zum Foto:
„Sie sind KünstlerInnen, Freunde und Individualisten, Randzoner und Grenzgänger: acht FilmemacherInnen haben sich im abbildungszentrum Hamburg zusammengeschlossen, um in einem kreativen Umfeld ihre Ideen zu realisieren. Das abz ist Ateliergemeinschaft, Produktionsstätte und seit vergangenem Jahr auch Produktionsfirma, die „abz abbildungszentrum ohg“. Helle Büroräume im vierten Stock eines Altbauhauses in Ottensen mit weitem Blick über die Dächer von Hamburg: In der Mitte steht ein runder Tisch, es duftet nach Kaffee. Nach und nach kommen die FilmkünstlerInnen aus den umliegenden Schneideräumen: (...)Sie tauschen sich aus, sie reden und philosophieren. Eine gemeinsame Ästhetik geben es nicht, versichern sie einstimmig. Vielmehr vereine sie die Idee, mit den gewählten Themen, den Stilmitteln und Formen in Grenzgebiete vorzudringen. ,Wir bewegen uns mit unseren Projekten nicht im Zentrum einer fest definierten Filmkunst, sondern eher an den Randzonen´“(...)“

Dieses Zitat aus einer vierteljährlichen Broschüre der Hamburger Filmförderung versammelt einige Stereotypen des Sprechens über Filmkollektive: Es findet sich das romantische Boheme-Bild der gemeinsamen Kaffeeküche, aber auch die Gegenbewegung in die einzelnen Arbeitszusammenhänge (hier:Arbeitsräume), schließlich die Verortung des Ganzen Gebildes am Rande einer Normalität, ob nun als Gegenblick dazu (Gegenöffentlichkeit) oder als Ergänzung am Rande, gewissermaßen als Ausweitung des herrschenden Diskurses.
Es wirft damit einige Fragen auf, die im Laufe der Filmgeschichte kollektive Prozesse immer begleitet haben:
Kann ein Kollektiv so in sich abgeschlossen sein, dass es gewissermaßen sein eigenes geschlossenes System ist, mit einer eigenen Ökonomie, die nach eigenen Gesetzen funktioniert, oder ist die Öffnung z.B. zum Filmmarkt unabdingbar, da das Kollektiv ökonomisch wieder ein Teil der Gesellschaft ist, das Kollektiv als Ganzes wieder Produzent innerhalb eines kapitalistischen Systems (Gründung einer Produktionsfirma?)
Kann eine kollektive Struktur Zusammenarbeit jenseits des Konsens erzielen oder kann die eigene Idee doch nur im eigenen (Gedanken)raum umgesetzt werden?

Am Anfang des abbildungszentrums stand die Herausgabe des Videomagazins „Der Renegat“, das die Beiträge verschiedener Filme- und Videomacher zu einem vorher ausgeschriebenen Thema zusammenstellte. In der Nummer 2 des Magazins (1995) war das Thema „Arbeit“:
Helena Villovitch, Danos und David TV, befreundete FilmemacherInnen aus Paris haben eine Art Konferenztisch am Ufer der Seine aufgebaut um dort bei laufender Kamera zum Thema des Magazins „Arbeit“ zu diskutieren. Da die Vorstellungen der Umgangsweise mit diesem Thema aber völlig verschieden sind, werden aus dem geplanten einen Beitrag drei, die aber alle wieder mit dem Grundmaterial, dem Gespräch an der Seine, arbeiten. Im Nebeneinander der drei Versionen spiegelt sich der Prozeß der Arbeit an den Bildern, der Formulierung einer Position als eigentlicher Beitrag zum Thema „Arbeit“.

„Kollektive/Arbeit“

Die Verbindung von Filmkollektiv und Reflektion der ökonomischen Hintergründe einer Produktion findet sich auch bei dem für 2003 geplanten Projekt „Empire Beyond boom and crash“ von Tara Herbst und Nicolas Siepen aus Berlin:
12 KünstlerInnen und FilmemacherInnen wurden eingeladen ausgehend von den Thesen des Buches „Empire“ von Negri und Hardt („immaterielle und affektive Arbeit, subkulturelle Artikulation, Geld, Tauschwert, politischer Widerstand, globaler Kapitalismus, Informationsnetzwerke (...) Videofilme zu drehen oder auch schon existierendes Material zu sammeln.“)
In einer ersten Phase sollten alle Beteiligten autonom arbeiten und ihre Produktionsbedingungen selber bestimmen, z.B. auch durch Beteiligung weiterer Personen/ Autoren:
„Bedingung ist nur, dass in den Filmen selbst reflektiert und sichtbar wird, wie die jeweiligen Produktionsbedingungen mit dem gewählten Thema zusammenhängen. In der zweiten Phase geben alle TeilnehmerInnen zehn Minuten ihres Materials (anonym) in einen gemeinsamen Pool (...)In einem nächsten Schritt schneidet jede/r einen eigenen Film mit eigenem Material und dem Material der anderen. (...)Erst in der dritten Phase, wenn es darum geht, die einzelnen Fragmente zu einem Film zusammenzusetzen, wird ein gemeinsamer Dialog über die Gesamtform notwendig.“
Durch dieses Vorgehen sollen die „ ökonomischen, gesellschaftlichen und technologischen Bedingungen, unter denen Filme heute entstehen auf der Ebene von formalen und inhaltlichen Brüchen und Differenzen sichtbar gemacht werden und so erhalten bleiben. Ein Ziel dieser Methode ist es, zwei ideologische Konstruktionen zu hinterfragen, die aktuelle gesellschaftliche Realitäten als freies ästhetisches ,Spiel’ erscheinen lassen: Der Individualismus des Autors, der seine Produkte durch Copyright schützt und das Ideal der kollektiven Arbeit, die keine Grenze mehr zwischen dem Privaten und Öffentlichen zieht (die Ideologie des Start-up). Beide Begriffe verschleiern die wirklichen Produktionszusammenhänge, die das soziale strukturieren. Das was als individuell erscheint, ist Produkt eines komplizierten, arbeitsteiligen Prozesses (Star Fetisch) und das was als freie kollektive Tätigkeit erscheint, ist hierarchischen Besitzverhältnissen und Interessen unterworfen.“

Kollektiv
1. allg. Arbeitsgruppe, Team
2. 2.Physik: eine Gesamtheit von Teilchen, die in bestimmter Weise miteinander korreliert sind
3. 3. Politik: sozialistisches K., in kommunist. Ländern eine Gruppe von Angehörigen eines Industrie-Betriebes zur Durchführung einer bestimmten Arbeit (Arbeits-K.), eine Gruppe von Mitgl einer landwirtschaftl. Produktionsgenossenschaft zur Bewältigung bestimmter Aufgaben (landwirtschaftliches K.) oder eine Arbeitsgemeinschaft von Wissenschaftlern zur Lösung eines bestimmten Problems (wissenschaftliches K.).
4. In der marxistisch-leninist. Ideologie wird den Mitgl des K. eine „höhere soziale Qualität“ zugesprochen: sie besitzen danach ein den „sozialist. Produktionsverhältnissen“ adäquates „gesellschaftl. Bewusstsein“ und handeln nach den Grundsätzen der „sozialist. Moral“ Das sozialist. K. soll sowohl ökonomisch messbare Leistungen erbringen als auch eine neue Form des Zusammenlebens ermöglichen; es ist „Zweckverband“ und „sozialist. Gemeinschaft“ zugleich .

Eine andere Raumbeschreibung:
„Moscow. The end of 1919. An unheatened room . A small vent-window with a broken pane. Next to the window a table. On the table a glass of yesterday´s undrunk tea. Near the glass is a manuscript. We read: Manifesto on the disarmament of thetratical cinematography“ So beginnt Dziga Vertov 1919 sein Manifest „Vom Kino-Auge zum Radio Auge“( später unter dem Titel „Wir“ abgedruckt) in dem er die Gruppe der Kinoki ausruft.
Zur Gruppe der Kinoki gehören neben Dziga Vertov u.a. sein Bruder Mikhail Kaufmann und die Cutterin Elizaweta Swilowa .
Diese Gruppe sollte allerdings nur ein Prototyp für ein ganzes Netz von Kinoki im ganzen Land und auf der ganzen Welt sein, die ihre Aufnahmen in ein großes, weltumspannendes Verwertungs- und Distributionsnetz einspeisen.Im Film „Der Mann mit der Kamera sind Bilder der Kinoki im Einsatz (Kameramann, Cutterin) mit solchen aus Fabriken, aus der industriellen Produktion gegeneinandergeschnitten: Die Kinoki-Ingenieure schaffen aus einzelnen Informations-Strängen einen zusammenhängenden Film so wie die Arbeiterinnen an den Strickmaschinen die vielen Fäden mit Hilfe der Maschinen zu einem Stoff verbinden.
Der Schnitt erzeugt also im Film gewissermaßen ein Kollektiv der Arbeitenden aller gesellschaftlicher Bereiche.
„Vertov arbeitet nicht als „Künstler“, sondern als Relais innerhalb eines Netzes von in der ganzen Sowjetunion verstreuten Korrespondenten/innen. Er arbeitet innerhalb eines Stroms, der ihn nach allen Seiten hin überschreitet, und den er nicht kontrollieren kann und will. Diese Konzeption von Arbeit stellt jede Aufteilung in intellektuelle und manuelle Arbeit zur Diskussion, und so auch die Figur des Künstlers, der Autorin und der Intellektuellen:“

Innerhalb der Kinoki unterscheidet Vertov allerdings doch unterschiedliche Aufgabenbereiche, es ist also nicht so, dass die einzelnen Positionen austauschbar wären, jeder und jede alles tun könnte:

In unserer Organisation unterscheiden wir:
1. Die Beobachtungskinoki
2. Die Kamerakinoki
3. Die Konstrukteurkinoki
4. Die Schnittkinoki
5. Die Labor-Kinoki

Auffallend ist die Betonung der Frauen beim Schnitt, alle anderen Bereiche scheinen also eine reine Männerdomäne gewesen zu sein, schließlich heißt der Film „Der Mann mit der Kamera“, wobei sowohl die Betonung des Männlichen wie auch des Einzelnen dem Gedanken des Kollektivs zu widersprechen scheinen. Für Vertov scheint das Kollektiv zum Teil auch ein Vehikel gewesen zu sein, um zu einer möglichst effektiven, aber unter der Oberaufsicht eines Einzelnen ablaufenden Filmpraxis zu kommen:

„Das Wichtigste sind Menschen. Sie müssen von Film zu Film im Arbeitsprozeß sorgsam und aufmerksam herangebildet werden. Wenn es kein ständiges Kollektiv gibt, wenn es also keine Menschen gibt, keine Mitglieder des Kollektivs, die ein leitender Autor und ein Regisseur kontinuierlich heranbildet, dann gibt es keine Möglichkeit, einen poetischen Film richtig zu entwerfen. Man kann nicht nach jedem Film von vorn anfangen: mit der Ernennung neuer, größtenteils desinteressierter Menschen, die mit dem poetischen Film nichts verbinden. Wir brauchen Menschen, die derselbe Traum, dieselbe Idee, dasselbe Ziel, dieselbe Beharrlichkeit vereint. Ein deutliches Ziel, ein einheitliches Ziel, ein gemeinsames Ziel kann nur ein Kollektiv haben, das durch den Kampf mit Schwierigkeiten und Hindernissen, durch gemeinsame Erfolge und Misserfolge, durch Siege und Niederlagen zusammengeschweißt ist, und nicht eine zufällig für einen bestimmten Zweck zusammengestellte Gruppe von Menschen, die gerade Zeit haben.“

Es stellt sich die Frage, wer die Entscheidung über die Art und Weise der Zusammenfügung der Bilder und die Gestalt des Films als Ganzes trifft. Kann ein gleichberechtigtes Kollektiv dies überhaupt leisten oder wird ein Autor im Hintergrund, so wie auch Dziga Vertov hinter den Kinoki, benötigt?
Rudolf Arnheim stellt sich diese Frage in einem Artikel über Fragen des Urheberrechts, beantwortet sie allerdings nicht:

„Ist es denn aber, selbst wenn die Aufgaben nicht die gleichen sind, überhaupt möglich, dass ein Künstler seine Arbeit mit einem Partner teilt? (...) Wie schon angedeutet stehen sich hier im Extrem der individualistische und der kollektivistische Standpunkt gegenüber.
Nach der ersteren Meinung gehört es geradezu zum Wesen des wirklichen Künstlers, dass er allein arbeitet. Ein Kunstwerk soll die Welt aus einer neuen, persönlichen Perspektive zeigen, und es soll einheitlich sein. Jeder Mensch aber, besonders wenn er begabt ist, sieht die Welt auf seine eigene Weise an – wie also wäre bei der Zusammenarbeit Eigenart und Einheit zu wahren. Ein bloßes Gemisch, eine bloße Kompromissarbeit muß das Ergebnis sein! So sagen die einen. Die anderen aber sagen: es gibt in der Welt keine isolierte Leistung; alles entsteht aus dem gemeinsamen Geist der Menschengruppe, und so wird der sich künstlich Isolierende immer nur etwas zustande bringen, was die Gemeinschaft nicht interessiert, weil es nicht aus ihrem Geiste entstanden ist. Diktatur des Regisseurs verlangen darum die einen, kollektive Zusammenarbeit die anderen.“

Aus kommunistischer Perspektive ging die Idee einer produzierenden Gemeinschaft viel weiter als die Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten wie Drehbuchschreiber, Regisseur und Kameramann, verschiedene Konzepte versuchten das Volk direkt als Produzenten zu verstehen, als ein großes Kollektiv:

„Amateure, organisiert euch! Wenn aber der einzelne Amateur nur einen Teil der Gesamtausgabe ausführt, so können aus solcher Gemeinschaftsarbeit Dinge von außerordentlicher Bedeutung entstehen. Kein Regisseur auch der mächtigsten Filmgesellschaft kann da zustande bringen, was mit Hilfe von im ganzen Land zerstreuten und zu einer Arbeitsgemeinschaft vereinigten Amateuren erzielt werden kann.“

Den theoretischen Hintergrund dieser Aktivitäten lieferte Sergej Tretjakov, dessen System des Operativismus die Notwendigkeit formulierte, die Produktionsmittel der Kommunikation allen zur Verfügung zu stellen: Die Arbeit des Schriftstellers sollte „niemals nur die Arbeit an Produkten sondern stets zugleich die an den Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seine Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion haben(...) Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat um so besser, je mehr er Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist.“
Alexander Medvedkin entwickelte um 1932 das Konzept eines Kinozuges , der die Sovjetunion mit mehreren Waggons voller Filmproduktions- und Projektionsmittel bereiste, so dass es möglich wurde, überall vor Ort Filme zu entwickeln, zu
schneiden, zu kopieren und sie sofort auch den Gefilmten vorzuführen.
1968 beruft sich auf ihn wieder ein Filmkollektiv, die „groupe Medvedkine“:
Chris Marker hatte 1968 für seinen Film „A bientôt j’espère" (Bis bald hoffentlich!) in der Rhodia Fabrik in Besançon gedreht, die Arbeiter berichteten in Interviews über den aufgegebenen Streik. Bei der Vorführung des Films kritisierten sie aber die gebliebene filmische Erzählhaltung, die aus der Distanz eines beobachtenden, aber nicht selbst beteiligten Autors spricht. Ein Dutzend Arbeiter der Fabrik bildeten darauf das Filmkollektiv „groupe Medvedkine“ und drehten einen Antwortfilm zu Markers Film: „classe de lutte“ (Kampfklasse).
„Angesichts dutzender Streiks reaktualisierten die FilmerInnen Urszenen des revolutionären Kinos. Die für den politischen Film notorische Auseinandersetzung über Form- oder
Inhaltpräferenzen bewegte sich vehement in den Termini der sowjetischen
Urszene: Vertov stand für die revolutionäre Form, welche selbst Eisensteins Montage als "Zauberei, wenn auch kommunistische" abfertigte. Filmkollektive gingen nun in die Betriebe, um Filme über die Streikenden zu machen. Godard etwa gründete die "Groupe Dziga Vertov", in der Tradition des großen "kreiselnden Kurblers" des Sowjet-Kinos. Die Kollektivität der Filmgruppen gestaltete sich jedoch unterschiedlich: Godards Vertov-Gruppe bespielsweise bestand hauptsächlich aus ihm selbst. Er verwarf seine bisherigen Filme als "faschistisch" und ließ in der Geste der Kollektivität seinen Autorennamen verschwinden.“

Zu one plus pne:
„Godard verweigert diesem Produktionsprozeß seine versöhnliche Finalität – am Ende steht gerade nicht das fertige Produkt, das Arbeitsergebnis, das man vom Tonträger kennt.“
Gerade dieses aber versuchte sein Produzent Iaian Quarrier bei der Premiere des Films im National Film Theatre: er hatte den Film statt „one plus one“ „sympathy for the devil“ genannt und für die Vorführung eine neue, von Godards Fassung abweichende Fassung des Films schneiden lassen, inclusive des in voller Länge ausgespielten fertigen Stücks. Godard prügelte sich auf der Bühne des Kinos mit seinem Produzenten und forderte das Publikum auf, sich die Aufführung des Originalfilms außerhalb des Theaters anzusehen.

„Das Phänomen, das für alle Beobachter der Mai-Revolte

Die Einführung des Videos schien diesen Prozeß des „Kinos von vielen für viele“ noch zu beschleunigen:
1967 „löste die Markteinführung des Sony Porta-Packs, der ersten tragbaren Videokamera- und-rekordereinheit, euphorische Hoffnungen auf einen ,emanzipativen´ Mediengebrauch aus (...)Die praktische Aneignung des neuen Mediums durch die von unterschiedlichen Herrschaftsprojekten und –verhältnissen Betroffenen selbst würde nicht nur das klassische Ein Sender/Viele Empfänger-Verhältnis der hegemonialen Massenmedien mit ihrer repressiven, kapitalistischen Struktur unterhöhlen, sondern auch neue Formen einer dezentralen, politischen Organisierung ermöglichen.“
1973/74 wurden in mehreren Städten der Bundesrepublik Videogruppen und Medienzentren gegründet, so z.B. 1973 das noch heute bestehende Medienpädagogische Zentrum (mpz) in Hamburg oder 1979 die Medienoprative in Berlin.

Diese Bewegung sah eine ihrer Hauptaufgaben in der Gewährleistung des „public access“:
Die Zentren stellten die für Videoarbeit notwendigen Produktionsmittel unentgeltlich oder kostenlos zur Verfügung, vor allem politischen Gruppen und Initiativen konnten so Filme zu ihren eigenen Themen und Problematiken produzieren.
Ein Eingreifen von Seiten der Zentrumsmitarbeiter in die künstlerische Arbeit war als Einflussnahme verpönt.
Es finden sich kaum Stimmen, die nicht in der Abgrenzung sondern in der positiven Formulierung versuchen, eine eigenständige Ästhetik des Videos (und damit der Medienzentren) zu entwickeln. Eine davon ist die Diplomarbeit von Carl-Ludwig Rettinger: „Lieber Video in der Hand als Film im Kopf“ im Magazin des Hamburger Zentrums „Medienladen“, dem „Videomagazin“:
„Die Videoproduktion ermöglicht eine selbstbestimmte KOLLEKTIVE ARBEITSWEISE, weil sämtliche Arbeitsschritte auf der verfügbaren Videoanlage durchgeführt werden können (...) Alle Beteiligten können wechselseitig Kamera, Ton oder Mischpult bedienen, sie können darstellen, anschauen und aufnehmen. Zuschauer und Aufgenommene lassen sich aktiv in den Produktionsprozeß einbeziehen. Während die konventionelle Film- und Fernsehproduktion durch Spezialisierung, Expertentum und Perfektionismus hierarchisch aufgebaut ist, vom Intendant oder Produzent über den Regisseur bis zum Scriptgirl, versuchen die Videoproduzenten gleichberechtigt und kollektiv zu arbeiten. Dabei ist Video gleichzeitig ein Mittel, Widersprüche innerhalb der Produktionsgruppe zu analysieren. Mit der Videoanlage werden also nicht nur außenstehende Probleme und Menschen thematisiert, sondern immer auch die eigene Arbeitsweise und die Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Leuten. Entscheidend ist dabei der Zusammenhang zwischen dem eigenen Leben und dem, was aufgenommen wird.
Eine solche Medienarbeit entmystifiziert den Begriff des Künstlerischen, der im herkömmlichen Sinn gebunden ist a) an das Herausragende, die Distanz zum Alltäglichen und b) an die Einzelleistung, das individuelle Genie.“

Ein Kollektiv zeichnet sich demnach dadurch aus, dass jeder alles machen kann und dass ein Zusammenhang von Abbildendem und Abgebildetem besteht: Die Produktionsstruktur wird nicht nur als Behälter , als Vehikel für den Film sondern als entscheidend für dessen Form und Ästhetik betrachtet.
Rettinger fordert daher , dass die „Videoarbeit also mit der herkömmlichen Dramaturgie und Ästhetik von Film und Fernsehen brechen (muß). Darin unterscheidet sich die amateuristische Freizeitgestaltung, die das professionelle Vorbild aus Liebhaberei nachäfft, von der Laienproduktion, die am Monopol der AV_Gelehrten in den Betonburgen rüttelt und der etablierten Medienproduktion eine eigene Qualität entgegenzustellen versucht.“

Interessant ist dabei auch, wie sich die Hoffnungen auf politische Veränderung an der Verfügbarkeit neuer Techologien, auf dem (kapitalistischen) Markt festmacht:

..„Die elektronische Schaltungstechnik hat die Herrschaft von „Zeit“ und „Raum“ gestürzt und überschüttet uns sekundenschnell und in einem fort mit den Angelegenheiten aller anderen Menschen. Sie hat den Dialog im globalen Maßstab wieder ermöglicht. Ihre Botschaft ist der totale Wandel, der aller Beschränktheit, sei sie psychischer, sozialer, ökonomischer oder politischer Art, ein Ende setzt.“

In den Magazinen der Videogruppen der 70er und 80er Jahre finden sich in großer Anzahl technische Schaltpläne. Man versuchte Technik für alle zugänglich zu machen, zum einen den Nimbus des Professionellen (gewissermaßen die Technik als hierarchisches Moment) zu durchbrechen: „jeder kann Video machen“ und zum anderen auch durch Selbstbau und Reparatur Kosten zu senken und so überhaupt erst die Anschaffung der teuren Geräte zu ermöglichen: Die Ökonomie taucht dabei als zentraler Grund für eine kollektive Organisationsform auf: Viele Leute können zusammen das Geld oder auch die Arbeitsstunden für die Reparatur mithilfe der erwähnten Schaltpläne aufbringen, die sie einzeln nie zur Verfügung gehabt hätten.

Auffallend ist die häufige Verwendung technischen Vokabulars zur Beschreibung gesellschaftlicher oder medialer Vorgänge:

Regelkreis
Eingabe
Feedback/Rückkopplung
Atome
Geschlossenes System

„An den neuen Technologien ist zu beobachten, dass ihnen in ihrer jeweiligen Zeit gewöhnlich eine soziale, vor allem aber demokratisierende Wirkung zugesprochen wird, in der sich die gesellschaftlichen und politischen Defizite als utopisches Versprechen in das Medium verlagern. Probleme scheinen sich universell mit den neuen Erfindungen der High-Tech-Industrie zu lösen. Mit Zauberwörtern wie "Interaktivität" und "Vernetzung" und anderen politisch-moralisch konnotierten Begriffen erhebt die Medientheorie einen höheren Anspruch als andere Theoriezweige, da sie sich als zukunftsweisender als jene begreiftt. Dass diese Glaubenskonstruktionen zudem kommerziell ausgezeichnet vermarktbar sind, beweist, dass die Unterhaltungsindustrie und die neuen Kommunikationstechnologien den grössten, noch stetig wachsenden Absatzmarkt bilden.“

Konnte das Kollektiv lange Zeit als Gegenbild zum kapitalistischen Prinzip verwendet werden, so stellt es heute vielmehr in vielen Bereichen fast ein Symbol für die moderne Wirtschaftsorganisation dar :

„Wie in einem Auto-Scooter gleiten 72 Roboter durch den Ausstellungsbereich „Wissen, Information, Kommunikation“ im Themenpark, und fast scheint es, sie seien intelligente, soziale Wesen: Die Kapseln suchen gegenseitige Nähe, bilden Gruppen. Den Besuchern überbringen sie lehrreiche Botschaften.“

Der Name „Kollektiv“ schmückt heute ganz normale Filmproduktionsfirmen in Berlin, Kopenhagen und anderswo, „kollektiv“ scheint für jung, dynamisch, unkonventionell zu stehen, und auch beim Managertraining werden die Teamfähigkeit und soziale Kompetenz durch Floßfahrten und survival-Reisen gefördert.

In der Dokumentation „Orpheus in der Businesswelt“ (Arte 2002) wird das Orpheus Ensemble, ein klassisches Kammerorchester ohne Dirigenten bei seine „residency“ im Rahmen einer groß angelegten Eliteschulung der Wirtschaftsschule „Morgan Stanley“ begleitet. Die kollektive Arbeitsweise wird als heilsames Prinzip für die Ausbildung der japanischen Manager-Eliten verstanden:
„Die japanische Arbeitsdisziplin machte das Land zu einer der weltweit führenden Industrienationen. Dabei unterdrückten aber die starren Strukturen genau das, was einen dauerhaften Erfolg bei der Entwicklung von Zukunftstechnologien erst ermöglicht: Kreativität. Nicht zuletzt deshalb wurde Japan auf einigen Gebieten von anderen Ländern überholt. (...)Eine Gruppe wie Orpheus gibt der japanischen Grundstruktur neue Impulse, wie Offenheit, Flexibilität und Grenzenlosigkeit. Das sind alles neue Konzepte, die aus dem Westen nach Japan gekommen sind, und die Kombination ist aufregend.“

Und auch beim Talentcampus der Berlinale 2003 ist das Kollektive im Blickpunkt:
„Regarding more Teamwork between Writers, Directors and Actors, Karen remarks on “collaborative art - dictatorship or democracy? How can I manage to involve my collaborators into the process??“

Für die Unterzeichner des Dogma 95 Manifests bedeutete die kollektive Geste auch durchaus eine wesentliche Steigerung ihres kommerziellen Erfolgs, das Auftreten als Gruppe, als Bewegung funktionierte gewissermaßen als Label.
Im Text des Dogma Manifest sind dagegen ganz andere Töne hörbar, gegenüber dem Zugriff aller auf die neuen Technologien wird ein neues Konzept der Avantgarde formuliert:
„To Dogme 95 cinema is not individual!
Today a technological storm is raging, the result of which will be the ultimate democratization of the cinema. For the first time, anyone can make movies. But the more accessible the media becomes, the more important the avant-garde. It is no accident that the phrase „avant-garde“ has military connotations. Discipline is the answer...we must put our films into uniform (...)
Dogme 95 counters the individual film by the principle of presenting an indisputable set of rules (...)“

Gerade im Zusammenhang mit der Anti-Globalisierungsbewegung ist das System der Gegenöffentlichkeit und des „jedem eine Kamera“ wieder hoch im Kurs. So erreichten innerhalb weniger Jahre die „indepentent media centers über die webseite „indymedia“ weltweite Verbreitung von politischem Videomaterial. Jeder internetuser kann dort von ihm gefilmtes Material einspeisen. Während des G8 Gipfels in Genua 2001 mobilisierte der Regisseur Francesco Maselli 30 bekannte italienische Filmregisseure, die simultan den Gipfel und den Protest dagegen filmten.:
Einer der Regisseure, Carlo Lizzani begründete seine Teilnahme mit der Wichtigkeit andere Blickwinkel neben dem der offiziellen Medien darzustellen:

"I am supporting the initiative because I completely agree with those who say that the world is not just the G8, but is also another 2bn people who are not represented and who have the right to be. It seems obvious to me that cinema should be on their side."
Es wird also immer noch ein neuer, kollektiver Blick als Mittel gegen den Kapitalismus (oder Neoliberalismus) gesucht:
“We´re not simply seeking proper equality on a digital level. We´re in the midst of a process that constitutes the totality of a revolutionary being, as global as it is digital. We have to (...) invent, refresh and update the narratives and images of a truly global connectivity, to open the source code of all the virtual knowledge and install a new world“
Und Tara Herbst und Nico Siepen formulieren für ihr Projekt „Empire beyond boom and crash“ die Aufhebung der „Unterscheidungen zwischen Kamerakinokis, Schnittkinokis und Beobachtungskinokis, die Vertov macht“ und die Vereinigung aller „Kinokis in jeden einzelnen „Producing actor“, der gleichzeitig filmt, performt, schneidet, etc.“

"Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen."
Brechts Prinzip des eigenen Senders ist inzwischen allerdings mit weit größerer Reichweite an ganz anderer Stelle angekommen:

„http://www.reichdurcherotik.de/selbstvoll.htm:
Eigenes Livecam-System installieren (selbst Sender werden...)
Sie planen die Einrichtung einer eigenen Webcam, z.B. Livestrip- oder Livesexshow, in eigenen Räumen, mit eigenen Darstellern und suchen einen Partner für die Realisierung des „Internet-Umfeldes“...?“


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