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MontageBlick

Blick

Die Formulierung „Der kollektive Blick“ erscheint als Paradoxon: wir haben gelernt, daß der Blick uns ganz allein gehört, er ist Ausdruck unserer Individualität, gibt unsere Sicht auf die Welt und damit auch unseren Standpunkt wieder.
Eine solche Vorstellung wird zum erstenmal in der Renaissance formuliert, die Vorstellung und Erfindung des perspektivischen Sehens geht einher mit der Konstitution des einzelnen Subjekts, mit spezifischer Wahrnehmung und bezogen auf die Künste mit der Vorstellung einer subjektiven künstlerischen Position:

"The convention of perspective, which is unique to European art and which was first established in the early renaissance, centres everything on the eye of the beholder. It is like a beam from a lighthouse - only instead of light travelling outwards, appearances travel in. The conventions called those appearances "reality".
Perspective makes the single eye the centre of the visible world. Everything converges on to the eye as to the vanishing point of infinity. The visible world is arranged for the spectator as the universe was once thought to be arranged for god"

An die Stelle des alles überblickenden Auge Gottes trat nun der Künstler als Wahrnehmender und Referenzpunkt.
Für mehrere Jahrhunderte konnte diese Position bestehen bleiben, mit der Erfindung der Fotografie ergab sich allerdings eine neuartige Situation: Plötzlich war eine Vielzahl von Blicken gewissermaßen konservier- und vergleichbar, im Gegensatz zu einem gemalten Bild war die Fotografie an spezifische Zeit und spezifischen Ort, eben den Ort und Zeit der Aufnahme und damit an die zeitliche und räumliche Position des Fotografen gebunden. Dies führte zwar einerseits zu einer Erweiterung des Blickfeldes, gleichzeitig aber auch zu einer Zersplitterung des Weltbildes: Aus dem alles umfassenden Blick Gottes, stellvertretend durch den Künstler übernommen, wurde plötzlich eine Ansammlung, eine Addition von Einzelperspektiven.

In der Malerei entstanden als Reaktion auf diese Situation eine Auseinandersetzung mit dem perspektivischen Raum, im Kubismus und im Futurismus zersplittert der Blick in viele Einzelblicke, dahinter steht jedoch die Hoffnung, in der Summe (der Addition) dieser Splitter wieder eine Ganzheit beschreiben zu können:
„Um den Betrachter nach unserem Manifest in der Mitte des Bildes leben zu lassen, muß das Bild die Zusammensetzung dessen sein, an das wir uns erinnern und dessen, was wir sehen“
Sicherlich war dieser Wandel nicht nur das Ergebnis einer technischen Erfindung, der Fotografie, des Films, vielmehr steht die Möglichkeit dieser technischen Erfindungen im Zusammenhang mit einem viel umfassenderen Wandel, dem beginnenden Kapitalismus:
Nach Henri Lefebvre wird der perspektivische Raum mit Beginn des 20. Jahrhunderts durch den „kapitalistischen Raum“ verdrängt:

"Seit etwa 1910 gilt es als Irrtum, in Kategorien des perspektivischen Raums zu denken, seit nämlich die Bilder von Kandinsky und Klee oder diejenigen des analytischen Kubismus uns deutlich gemacht haben, daß wir uns in einer Krise des deskriptiven Raums befinden. Die Linie des Horizontes verschwindet in der Malerei ebenso wie der Schnittpunkt der Parallelen im Unendlichen. (...) Der kapitalistische Raum ist für den perspektivischen Raum der Ort des Zerfalls. Der eine führt zum Untergang des anderen.“

Bezogen auf die Architektur schreibt Lefebvre:
„Die sozialistische Produktionsweise muß ihren eigenen Raum produzieren, der nicht mehr kapitalistischer Raum sein kann.
Jede Transformation der sozialistischen Welt, die die kapitalistische Morphologie reproduziert, wird nur mehr oder weniger verschleiert die kapitalistischen Produktionsverhältnisse reproduzieren.“

Bezogen auf den Film bedeutet dies die Notwendigkeit eine neue Sichtweise, einen neuen Blick zu entwickeln, der das zersplitterte Weltbild (dialektisch) wieder zu einem Ganzen zusammenfügt. Für Dziga Vertov bildet sich dieser kollektive Blick durch die Ablösung vom einzelnen Künstler-Autor, der statt dessen zum Ingenieur wird. Die eigentliche Autorität spricht er der Kamera, dem Kino-Auge zu. Nach Gott und dem Künstler verschiebt sich die Wahrnehmung der Welt also nun zu einer technischen Apparatur:

„Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Soldaten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern. (...) befreit von zeitlichen und räumlichen Eingrenzungen, stelle ich beliebige Punkte des Universums gegenüber, unabhängig davon, wo ich sie aufgenommen habe. Dies ist mein Weg zur Schaffung einer neuen Wahrnehmung der Welt. So dechiffriere ich aufs neue die euch unbekannte Welt.“

„(...) der Helfer des Maschinenauges ist der Kinok-Pilot, der nicht nur die Bewegung des Apparats lenkt, sondern ihm auch bei Experimenten im Raum vertraut; später wird dies der Kinok-Ingenieur sein, der die Apparate aus der Entfernung steuert. Ergebnis dieser gemeinsamen Aktion von befreiter, perfektionierter Kamera und strategischem menschlichem Gehirn, das steuert, beobachtet und berechnet, wird eine außergewöhnlich frische und deshalb interessante Darstellung sogar der alltäglichsten Dinge sein (...)“

Zur Gruppe der Kinoki gehören neben Dziga Vertov sein Bruder Mikhail Kaufmann, die Cutterin Elizaweta Swilowa .
Diese Gruppe sollte allerdings nur ein Prototyp für ein ganzes Netz von Kinoki im ganzen Land und auf der ganzen Welt sein, die ihre Aufnahmen in ein großes, weltumspannendes Verwertungs- und Distributionsnetz einspeisen.Im Film „Der Mann mit der Kamera sind Bilder der Kinoki im Einsatz (Kameramann, Cutterin) mit solchen aus Fabriken, aus der industriellen Produktion gegeneinandergeschnitten: Die Kinoki-Ingenieure schaffen aus einzelnen Informations-Strängen einen zusammenhängenden Film so wie die Arbeiterinnen an den Strickmaschinen die vielen Fäden mit Hilfe der Maschinen zu einem Stoff verbinden.
Der Schnitt erzeugt also im Film gewissermaßen ein Kollektiv der Arbeitenden aller gesellschaftlicher Bereiche.

„Vertov sah in der sowjetischen Revolution sowohl den Zusammenbruch der kapitalistischen Macht und der kapitalistischen Institutionen Russlands, als auch die Auflösung des „Menschen“ und „seiner Welt“. Das Kino ist für ihn der maschinelle Ausdruck von „Kräften des Außens“, die sich mit den anderen „im Menschen liegenden“ Kräften (der Kraft zu sehen, zu empfinden, wahrzunehmen und zu denken) zusammenzusetzen und so neue Formen der Subjektivierung eröffnen:“
In der Opposition zum kapitalistischen Blick entsteht also das Konzept eines sozialistischen, eines kollektiven Blicks, die kapitalistisch zersplitterten Einzelblicke werden von der mechanischen, ungerührten Kamera aufgesammelt und im Prozeß der Montage zu einem kollektivem Ganzen zusammengefügt. Das Kollektiv entsteht dabei gerade nicht durch Aneinanderreihung (Addition) sondern durch explizite Zusammen- und Gegenüberstellung.
Auch Pudowkin vertritt eine ähnliche Auffassung der Montagetheorie:
„Eine der Grundeigenschaften des dialektischen Denkens ist: Jede Erscheinung wird vor allem in ihrer Bewegung betrachtet, in ihrer kontinuierlichen Entwicklung, das heißt, jede Erscheinung wird in ihrer Gegenwart nur dadurch wahrhaft begreiflich, wenn sie als Teil ihrer eigenen Geschichte, die Vergangenheit und Zukunft hat, betrachtet wird. Dies als erstes. Zweitens, jede Erscheinung wird im dialektischen Denken im unmittelbaren organischen Zusammenhang, nach Möglichkeit mit allen sie umgebenden Erscheinungen betrachtet. Jede Besonderheit bekommt nur dann einen klaren, realen Sinn, wenn sie als Ausdruck eines Allgemeinen zu verstehen ist. Völlig ebenso bekommt jede beliebige Verallgemeinerung einen realen Sinn, nur wenn sie im einzelnen ausgedrückt ist.“

Sowohl das Kollektiv im gesellschaftlichen Sinne als auch der Film versuchen, aus einzelnen zersplitterten Elementen ein Ganzes zu formen, dies erfordert sie müssen sich mit der Verschiedenheit dieser Elemente auseinandersetzen und Methoden einer Verbindung dieser Elemente zu kommen. Läßt sich in Bezug auf das Kollektiv hoffen, dass zwei zusammen zu mehr kommen als zu einer Summe ihrer Einzelteile (Addition), so gilt dies auch für den Schnitt, die Montage: in der Verbindung, Verkettung zweier Bilder liegt die Hoffnung auf das aus der Kombination entstehende dritte Bild.

Hito Steyerl untersucht in ihrem Artikel „Die Artikulation des Protestes“ genau dieses „Dogma der unproblematischen Addition“:

„Was aber, wenn das Modell der Addition nicht stimmt? Oder das verbindende "Und" gar keine Addition darstellt, sondern eine Subtraktion, eine Division oder gar kein Verhältnis begründet?
In ihrem Film "Ici et ailleurs" stellen sich Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 1974 genau diese Frage. Das Kollektiv hat 1970 einen Auftragsfilm über die PLO gedreht. Der heroisierende Propagandafilm, der vom Volkskampf schwadronierte, hieß "Bis zum Sieg" und ist nie fertig gestellt worden. Vier Jahre später nehmen Godard und Miéville das Material noch einmal genau unter die Lupe. Sie stellen fest, dass Teile der Aussagen der PLO-Anhänger nie übersetzt wurden. Sie reflektieren die Inszenierungen und die Lügen des Materials – vor allem aber ihre eigene Mitwirkung daran. Das "Und" der Montage, mit dem sie ein Bild an ein anderes schneiden, ist kein unschuldiges. Was wenn nämlich das "Und" in diesem "Hier und Woanders", in diesem Frankreich und Palästina keine Addition darstellt, sondern eine Subtraktion? Was, wenn zwei politische Bewegungen sich nicht nur nicht verbinden, sondern behindern, widersprechen, ausblenden oder gar gegenseitig ausschließen? Wenn dieses "Und" funktionalisiert wird, nämlich zugunsten einer populistischen Mobilisierung? Allgemein fällt uns heute auf, dass nur wenige politische Filme aus den 70er Jahren ihre Zeit überdauern konnten. Sie opfern die Genauigkeit der Analyse einer populistischen Agitation. Nach dem Motto: Augen zu und durch, in die Richtung, in der man die Masse vermutet. Das sieht man den Filmen an.
Was Godard/Miéville jedoch machen, ist dieses "Und" zu problematisieren. Sie fragen sich, wie eine Kette beschaffen ist, in der Bilder und Töne – politische Bedeutungen – Sinn machen. Ihre Frage ist: Wie können globale Beziehungen medial artikuliert und kritisiert werden? Reicht es, dazu alternative Informationen zu zirkulieren und dabei Ereignisse in aller Welt additiv miteinander in Verbindung zu setzen? So arbeitet heute etwa Indymedia. Oder muss dazu nicht eine viel radikalere Kritik der Artikulation von Ideologie mittels Bildern und Tönen erfolgen? Bedeutet eine konventionelle Form nicht eine mimetische Anschmiegung an die Verhältnisse, die zu kritisieren sie einst antraten? Eine populistische Form nicht einen blinden Glauben an die Kraft der Addition beliebiger Begehren? Das bloße Abbild von Opfern nicht einen voyeuristischen Elendsgewinn? Und wie steht es um die Artikulation einer Protestbewegung, die sich nach dem Modell eines bloßen "Und" zusammensetzt – als sei Inklusion um jeden Preis ihr einziges politisches Ziel? Müssen wir nicht auch fragen, wie sich die Verkettungen des Protestes organisieren – und ob es überhaupt politische Maßstäbe für dessen Artikulation gibt? Ist es somit nicht manchmal besser, Verbindungen zu unterbrechen, als um jeden Preis alle mit allem zu vernetzen?“

Vertov allerdings formulierte ganz bewusst, gerade mit der Verschiedenheit der Einzelelemente und Blicke und ihrer „Bewegung“zu arbeiten, er führt den Begriff des „Intervalls“ für das „zwischen“ den Bildern liegendene ein:

„Die Schule des Kinoauges fordert, dass der Film aus den „Intervallen“ konstruiert wird, das heißt, aus der Bewegung zwischen zwei Bildern...Die Intervalle, die Übergänge von einer Bewegung zu einer anderen, bilden das Material, die Bestandteile der Kunst der Bewegung; keinesfalls die Bewegungen selbst.“


Godard nennt die Verbindung der elektronischen Mischung von Bildern „linking of images“. Im Gegensatz zur Montagetheorie Eisensteins, in der die zwei sich verbindenden Elemente (die „simple pictures“ im Sinne von Godards Text) noch als einzelnes, gewissermaßen pur, wahrgenommen werden können, entstehen hier multiple Bilder, die Montage findet innerhalb des Bildes statt, durch „collage, wipes, keying or superimposition“(s+i 170):

„Film heißt nicht: ein Bild nach dem anderen sondern ein Bild plus ein Bild, woraus ein drittes Bild entsteht. Dieses dritte Bild wird übrigens vom Zuschauer in dem Augenblick gebildet, wo er den Film sieht...“

Dabei ist die additive Kette dieser Bilder nicht nur auf einen bestimmten Film beschränkt, sondern hat Verbindungen, links, zu allen denk- und wahrnehmbaren Bildern, auch außerhalb des Kinoraums:

„Any image from everyday life will thus become part of a vague and complicated system that the whole world is continually entering and leaving...There are no more simple images...The whole world is too much for an image. You need several of them, a chain of images...“

So sieht Wim Wenders in Godards Film „One plus one“, dessen Titel ja schon programmatisch den Vorgang der Addition thematisiert, das ganze Universum repräsentiert:

„Die Stones reden nicht über das Stück. Sie brechen ab, wenn es ihnen nicht gefällt. Nur Keith Richards gibt Charlie Watts Anweisungen, wie er am Anfang mit den Tablas einsetzen soll. Charlie Watts sieht ihn dabei nicht an. Er sieht immer zur Seite, irgendwohin in die Ferne. (...) Man sieht in Godards Film das Stück „Sympathy for the devil“ entstehen. Und weil es nicht auf Grund von Mühe oder Anstrengung entsteht, sondern auf Grund einer unglaublichen Kommunikation, eines völlig unwahrscheinlichen, mühelosen Verständnisses, weil man einer Utopie zuschauen kann, werden aus den ruhigen Kamerafahrten durchs Studio Weltraumfahrten und aus einem Dokumentarfilm ein Zukunftsfilm“

Was hier als Kommunikationsform angesprochen wird, ist wohl das Idealbild der Beziehungskonstellation innerhalb einer Gruppe von Menschen: das



Netzwerk
Michel Serres schlägt 1964 ein netzförmiges Diagramm für die Darstellung von Kommunikation, „um der Dialektik zu entkommen, die sich jeweils nur zwei Punkte zueinander in Beziehung gesetzt denken kann. Serres Diagramm jedoch besteht „aus einer Mehrzahl von Punkten (Gipfeln), die untereinander durch eine Mehrzahl von Verzweigungen (Wegen) verbunden sind (..) Dabei ist per definitionem kein Punkt gegenüber einem anderen priveligiert, und keiner ist einseitig einem anderen untergeordnet.“
Allerdings kann „das System nur solange offen gehalten werden, wie sich an den Schnittstellen und Verzweigungen keine Vermittler einschalten, die das unregelmäßig wuchernde Netz zu strukturieren beginnen, um sich seiner zu bemächtigen, indem sie durch die Selektion und Interpretation von Nachrichten und Strömen ein hierarchisches Gefälle einrichten (...)“
„Die Frage ist, ob man ein Netz konstruieren kann, das frei von Kreuzungen, Verteilern und Schnittpunkten wäre, an denen sich die Parasiten niederlassen. Wo jedes beliebige Element mit jedem anderen in Beziehung treten könnte, ohne auf einen Vermittler angewiesen zu sein“
(Serres, 1980, S.73)
Statt dessen finden die Beziehungen über Vorgänge entsprechend denen des „Feedback, der Rückkopplung und der Induktionsströme zwischen zwei Polen“ statt.

„Interaktion
Bedeutet im allgemeinen ein aufeinander bezogenes Handeln zwischen verschiedenen Personen. Beim interaktiven Fernsehen wird dem sonst passiven Zuschauer in der Regel über das Telefon eine Rückäußerungsmöglichkeit gegeben, über die er aktiv den Fortgang einer Sendung beeinflussen kann. Möglich sind zum Beispiel interaktive Spiele mit Zuschauerbeteiligung.“

Auf der Dokumenta 9, 1992, konnte die Hamburger Gruppe „Ponton European Media Art Lab“ für 100 Tage das Grundmodell eines interaktiven Fernsehens umsetzen:Piazza virtuale/ Van Gogh TV sollte für 100 Tage ein „interaktiver Marktplatz“ sein, über 20 gleichzeitig schaltbare Telefonleitungen und angeschlossene Computer sollten die Zuschauer (immerhin 110 00 Nutzer pro Stunde) mit dem Studio und auch miteinander verbinden.
„Piazza virtuale zeigt die mögliche Zukunft eines globalen Fernsehens, in dem der Empfänger einer Information auch ihr Sender sein kann, ohne Programmdirektion und ohne Regie.“
Die Zuschauer konnten sogar über ihren Computer die Blickrichtung der Studiokamera fernsteuern, der Zuschauer war endlich im Kollektiv der Produktion angelangt.
Inhaltlich entstand dabei aber eher etwas, was wir heute von den eingeblendeten Chats der Dauerwerbesendungen kennen, es gab einfach nichts zu sagen:
„My name is Evelyn, I´m here in Kassel...Well, Evelyn, what do you think about the future?...the future in Italy?....The future in Germany, in the world...the world, hm, it looks quite bad now, but I hope, it´s getting better...“

Handelt es sich auch hier um das fehlgeschlagene Konzept der „unproblematischen Addition“ (Hito Steyerl), einer Addition von vereinzelten Zusachauern, die doch nicht zusammenkommen, einen scheinbaren Zugriff des „Users“ auf den Blick der Kamera, die die geglättetete Oberfläche des Studios , aber nicht die zersplitterte Oberfläche der Welt abbildet?
„Basically a new world is being created“ verspricht das Dokumentationsvideo, und so sollten über das neue Medium auch neue Strategien des Zsammenlebens in einer Gesellschaft eingeübt werden:

„The whole spectrum of society, of its cultures and aesthetics manifests itself in in the different kind of people who work here (...)Only in communication, only with confrontation within the community, within the society can one begin to reflect.“ Die Konfrontation sollte dabei zur Entwicklung „selbstregulierender Kräfte“ führen:
„In regard to the events in Rostock about a week ago people showed themselves to be pro and contra and we see that everything comes out in the broadcasts. (...) everyone must have an outlet for their views so that both groups come together in a publique critique. (...) We have to risk this in society and this is what we do.“

In der „Interactive cinema group“ am MIT Media Laboratory arbeiten Professoren und Studenten an der Weiterentwicklung der interaktiven Schnittstellen:
„Die Benutzer erleben virtuelle Räume aus der Perspektive körperlicher Anwesenheit in ihnen. Voraussetzung für die „Ich-Perspektive“ ist die blickwinkelabhängige Bilddarstellung, d.h., das computergenerierte dreidimensionale Bild, das der Benutzer sieht, wird in Echtzeit nach der jeweiligen Kopfhaltung errechnet. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur filmischen Wahrnehmung, bei der die Perspektive des Zuschauers mit der der Kamera identisch ist. Der cybernaut hingegen kann den Blick frei lenken.“

(...)“Eine der größten Schwierigkeiten im Zusammenhang mit interaktivem Kino liegt darin, das kollektive Erlebnis als wichtigen Bestandteil des Kinobesuchs zu erhalten. Eine Möglichkeit der Kompensation sieht die Professorin in der Vernetzung der Beteiligten. Der MIT-Student Lee Morgenroth entwarf beispielsweise LURKER, ein sogenanntes Thinkie (...)Der Benutzer kommuniziert per E-mail mit den anderen Beteiligten, während er sich die Geschichte dadurch erschließt, dass er seine Computertastatur bearbeitet. (...) Interaktivität ist zur Zeit ein positiv besetztes Prädikat, das den unterschiedlichsten Produkten angehängt wird, um sie aufzuwerten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob gerade das Kinopublikum, welches sich die letzten hundert Jahre mit Vergnügen den Filmen passiv hingab, überhaupt an einer aktiven Beteiligung interessiert ist.“

Was bei „Piazza virtuale“ begann, der Traum von einer virtuellen community über den Computer, ist seit 1992 mit der Ausbreitung des Internet allgegenwärtig geworden: news groups, chat foren, Webcam-Kollektive, der Blick wird immer globaler , vernetzter, aber auch zersplitterter, ohne Ort:

Valie Export
Ping pong

Ein spielfilm, das heißt ein film zum spielen.
Ledig der semantik, wird die beziehung zwischen zuschauer und leinwand klar: reiz und reaktion, die ästhetik des konventionellen films ist eine physiologie des verhaltens



"Here and Now" was the world's first (and, to this day, only) live and on-demand video-based community–a site specializing in the production of live, interactive video events on the net such as live musical concerts, viewer call-in theme-oriented talk shows, cast member parties, art openings, poetry readings and spoken word, comedy skits and improv, theatrical plays, operas, and more.
"Here and Now" also produced the first ever live, uncut broadcast of real-life to the Internet, full-motion video with audio 24/7–an industry-acclaimed, award-winning production involving 12-simultaneous TV-quality video channels, all broadcasting live from a 7,000 square foot living space in New Orleans. This production continued on for nearly 2.5 years, involved dozens of people who chose to live every moment of their lives live and uncut on the net, and attracted millions of viewers from all over the globe–making "Here and Now", at its peak, the most highly-trafficked live video site in existence to date.

Rhizom
Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickeln diesen Begriff im gleichnamigen Buch
Er beschreibt eine Form der Verkettung einzelner Elemente in einer nichthierarchischen, nichtlinearen Art und Weise, Rhizom steht für „Wurzelgeflecht“ und im Gegensatz zum Bild des Baums (z.B. Stammbaum) mit klarem oben und unten, Ursprung und Auswuchs, ist in diesem Verständnis jeder Auswuchs, jede Peripherie auch zugleich Zentrum.
„Die klassische Philosophie friedet ihre Begriffe in Pyramiden ein, an deren Spitze jeweils ein oberstes Prinzip steht: die Idee, das Eine, das Sein usw. Durch Verzweigungen wie Wesen und Erscheinung, Substanz und Akzidenz, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit leitet sie einen hierarchischen Stammbaum daraus ab, den Baum der philosophischen Erkenntnis. Für Deleuze dagegen entspringt die Erkenntnis dem Eigenleben von Begriffen, die auf vielfältigste Weise zueinander in Beziehung treten und ein wucherndes Wurzelgeflecht, ein „Rhizom“ bilden.“
„Die Poetik des Rhizoms liest sich retrospektiv nicht nur wie eine Vorwegnahme der Bewegungsfreiheit in Raum und Zeit, die im Cyberspace technisch implementiert wird; dieser wird dort, wo die Komplexität seiner Verknüpfungen umgekehrt der Gehirnarchitektur zu gleichen beginnt, zum Emblem einer „kollektiven Intelligenz““

1964 „wurden im Rahmen eines vom Pentagon finanzierten Forschungsverbundes die ersten vier Rechner zum sogenannten ARPANET verknüpft, aus dem durch Abspaltung vom militärischen MILNET 1983 das zivile Internet hervorgehen sollte“ (STINGELIN, S.167)
„Das Internet scheint (...) geradezu eine Epiphanie der Philosophie von Deleuze und Guattari zu sein „(Stingelin S.168)
„Im Internet hat niemand das Kommando, das Chaos regiert“ (konrad-magazin, S.117)

„Das Problem des Films heute ist auch ein Problem des gewachsenen Bewusstseins der Rezipienten. Damit sind nicht Filmkenner gemeint, die sich zu besseren Regisseuren aufschwingen (auch wenn es mit Sicherheit immer mehr Betrachter gibt, die in der Lage sind, während eines Filmes Parallelfilme zu inszenieren (...)“

„Welche Strategien kollektiver kulturell-politischer Medienpraxis werden heute praktiziert? Wann sind diese Produktionen politisierend und warum? Für wen und von wem werden diese Produktionen gemacht und welches Publikum soll eigentlich damit erreicht werden“
„This site is for adult
smokers in Germany only.
Nimm 2 deiner besten Freunde, kündigt eure Zeitungs-Abos, verschenkt eure Monatskarten und kommt mit auf die World of Pleasure Tour. Seid eins von 15 Teams und reist mit euren round-the-world tickets und 300 Euro pro Tag in der Tasche 90 Tage lang rund um die Welt. Wohin es geht, entscheidet ihr selbst - einzige Aufgabe: Ihr dokumentiert per Foto und Video, wie die Menschen, die ihr trefft, ihr Leben genießen.
Bewirb dich hier bis spätestens 15.12.2002!
Die Teilnahme ist nur für in Deutschland wohnhafte Raucher ab 18 Jahren möglich.

"Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen."
Brechts Prinzip des eigenen Senders ist inzwischen allerdings mit weit größerer Reichweite an ganz anderer Stelle angekommen:

„http://www.reichdurcherotik.de/selbstvoll.htm:
Eigenes Livecam-System installieren (selbst Sender werden...)
Sie planen die Einrichtung einer eigenen Webcam, z.B. Livestrip- oder Livesexshow, in eigenen Räumen, mit eigenen Darstellern und suchen einen Partner für die Realisierung des „Internet-Umfeldes“...?“


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