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Schnittpunkt der Parallelen im Unendlichen

Die Artikulation des Protestes
Hito Steyerl
Der Ausdruck transversal bedeutet: eine Linie, die eine oder mehrere andere Linien kreuzt. Dieser Definition folgt üblicherweise ein geometrisches Diagramm mit der Schlussfolgerung: Linie AB ist transversal. Bei Transversalität handelt sich also offenbar um eine Art der Verbindung. Das belegen auch die FAQs bei Transversal-Online. "Wie erreiche ich Ihr Büro mit öffentlichen Verkehrsmitteln?" wird dort gefragt, und: "Wie verdienen Geschäftspartner an Transversal Geld?"
Verkehr, Verdienst und sich kreuzende Linien – ein weiteres Symbol für einen Weltzustand, der mittlerweile bis zum Überdruss als Globalisierung bekannt ist. Dessen Modell ist eine Addition nach dem Motto: je mehr Verkehr, Handel und kreuzende Linien, desto mehr Verdienst, Kommunikation, Demokratie und allgemein positive Effekte. Was wichtig ist, ist primär der Fakt der Verbindung. Wie die ausschaut? Na, kreuzend halt.
Bekanntlich gibt es auch Kritiker der Globalisierung. Sie kritisieren die negativen Effekte dieses Vorgangs.
Sie meinen zu Recht, dass das Modell der Addition nicht aufgeht. Ein Investor plus ein Verkäufer bedeutet nicht zwingend, dass beide gewinnen. Zuweilen verlieren sogar beide. Daher ist völlig unverständlich, dass auch Kritiker dieses Modells seiner impliziten Voraussetzung huldigen. Die lautet, dass Verbindung per se gut sei. Nach dem Motto: ein Aktivist plus irgendein anderer Aktivist ist eine politische Bewegung. Oder: Es müssen nur verschiedene zusammenkommen, damit sich am Schluss in einer Kette der Äquivalenzen (Mouffe/Laclau) alle vereinigen. Was aber, wenn die Interessen einander nicht nur zuwiderlaufen, sondern sogar politisch radikal ausschließen?
Das Dogma der unproblematischen Addition hat noch weitere Varianten. Eine lautet: eine Gruppe ist besser als ein Individuum. Wenn viele an einer Aktion, einem Kunstprojekt, einer Plattform oder einer Kampagne partizipieren, sei das an sich schon gut. Das sonderbare Ideal additiver Verbindung stellt dabei niemand infrage. Dabei gelten hier ähnliche Vorstellungen plebiszitärer Demokratie (Mobherrschaft) wie beim Anti-Temelin Volksbegehren: direkte Repräsentation. Was auf politischer Ebene schon lang kritisiert wird, findet auf der Ebene inklusivistischer Protestpraxen immer noch Rückhalt. Das begründet finsterste Populismen von Inhalt und Form: Inklusionen von Reaktionären, Antisemiten oder Schützern genetischer Reinheit, die von Globalisierung bedroht sei. Wenn bloß genug addiert wird, kommt hinten das Volk raus. Das ist sogar richtig – oft aber im völkischen Sinne.
Was aber, wenn das Modell der Addition nicht stimmt? Oder das verbindende "Und" gar keine Addition darstellt, sondern eine Subtraktion, eine Division oder gar kein Verhältnis begründet?
In ihrem Film "Ici et ailleurs" stellen sich Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 1974 genau diese Frage. Das Kollektiv hat 1970 einen Auftragsfilm über die PLO gedreht. Der heroisierende Propagandafilm, der vom Volkskampf schwadronierte, hieß "Bis zum Sieg" und ist nie fertig gestellt worden. Vier Jahre später nehmen Godard und Miéville das Material noch einmal genau unter die Lupe. Sie stellen fest, dass Teile der Aussagen der PLO-Anhänger nie übersetzt wurden. Sie reflektieren die Inszenierungen und die Lügen des Materials – vor allem aber ihre eigene Mitwirkung daran. Das "Und" der Montage, mit dem sie ein Bild an ein anderes schneiden, ist kein unschuldiges. Was wenn nämlich das "Und" in diesem "Hier und Woanders", in diesem Frankreich und Palästina keine Addition darstellt, sondern eine Subtraktion? Was, wenn zwei politische Bewegungen sich nicht nur nicht verbinden, sondern behindern, widersprechen, ausblenden oder gar gegenseitig ausschließen? Wenn dieses "Und" funktionalisiert wird, nämlich zugunsten einer populistischen Mobilisierung? Allgemein fällt uns heute auf, dass nur wenige politische Filme aus den 70er Jahren ihre Zeit überdauern konnten. Sie opfern die Genauigkeit der Analyse einer populistischen Agitation. Nach dem Motto: Augen zu und durch, in die Richtung, in der man die Masse vermutet. Das sieht man den Filmen an.
Was Godard/Miéville jedoch machen, ist dieses "Und" zu problematisieren. Sie fragen sich, wie eine Kette beschaffen ist, in der Bilder und Töne – politische Bedeutungen – Sinn machen. Ihre Frage ist: Wie können globale Beziehungen medial artikuliert und kritisiert werden? Reicht es, dazu alternative Informationen zu zirkulieren und dabei Ereignisse in aller Welt additiv miteinander in Verbindung zu setzen? So arbeitet heute etwa Indymedia. Oder muss dazu nicht eine viel radikalere Kritik der Artikulation von Ideologie mittels Bildern und Tönen erfolgen? Bedeutet eine konventionelle Form nicht eine mimetische Anschmiegung an die Verhältnisse, die zu kritisieren sie einst antraten? Eine populistische Form nicht einen blinden Glauben an die Kraft der Addition beliebiger Begehren? Das bloße Abbild von Opfern nicht einen voyeuristischen Elendsgewinn? Und wie steht es um die Artikulation einer Protestbewegung, die sich nach dem Modell eines bloßen "Und" zusammensetzt – als sei Inklusion um jeden Preis ihr einziges politisches Ziel? Müssen wir nicht auch fragen, wie sich die Verkettungen des Protestes organisieren – und ob es überhaupt politische Maßstäbe für dessen Artikulation gibt? Ist es somit nicht manchmal besser, Verbindungen zu unterbrechen, als um jeden Preis alle mit allem zu vernetzen?
A propos Transversalität. Die Geschichte mit den sich kreuzenden Linien geht so aus. Wozu sollen Schüler lernen, was eine transversale Linie ist? Damit sie Parallelen konstruieren können. Und diese kreuzen sich bekanntlich nicht mal in der Unendlichkeit.

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