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Pistorius Charlotte

Artikel über beecroft aus der Süddeutschen vor einigen Wochen:

Das verlorene paradiesische Kleid

Theologie der Nacktheit: Vanessa Beecrofts Beriiner Performance / Von Giorgio Agamben

Der erste Eindruck, den die Perfor-
mance von Vanessa Beecroft bei den Anwe-
senden in der Neuen Nationalgalerie hinter-
lafit, ist politischer Natur: nichts als beklei-
dete GroBstadtmenschen, die nackte GroB-
stadtmenschen betrachten. In all ihrer Zwei-
deutigkeit scheint die zugleich auBerste
und aussichtsloseste Lage des Massenmen-
schen noch einmal auf, und zwar in der son-
de'fbaren Gestalt, die die Lage des heutigen
Menschen kennzeichnet: als Nicht-Gesche-
hen. Etwas, das sich hatte-ereignen konnen,
hat nicht stattgefunden. Dachte man je-
doch etwas spater liber die Besonderheit
dieses Nicht-Stattfindens nach, wurde der
erste Eindruck, der ein politischer war, wie
nicht anders zu erwarten, von einer genuin
theologischen Uberlegung verdrangt. Denn
was genau hatte hier nicht stattgefunden?

Sabine Schif frier

Weder eine Orgie noch Folterungen, noch
erne S/M-Seance, sondern die schlichte
Nacktheit des Menschen. In unserer Kultur
ist die Nacktheit untrennbar mit einer theo-
logischen Bedeutung verbunden. Und zwar
nicht nur deshalb, weil man bei der Betrach-
tung der hundert beliebigen, in mehreren
Reihen aufgestellten und einzig mit einer
Nylonstrumpfhose bekleideten Frauen, die
reglos verharrten, als ob sie etwas erwarte-
ten, nicht umhinkonnte, an die Nacktheit
der Auferstandenen am Jiingsten Tag zu
denken. Diese entbloBten Menschen, dach-
te ich, sind Auferstandene in Erwartung
des Gerichts. Die sie einkreisenden beklei-
deten Menschen aber waren, ohne es zu wis-
sen, Beamte irgendeines Himmel- oder
Hollenamtes, die sich anschickten, jene in

den Himmel zu geleiten oder in die Gehen-
na zu stiirzen.

Die theologische Bedeutung der BloBe
reicht jedoch tiefer. Wir alle kermen die Er-
zahlung der Genesis, der zufolge Adam
und Eva erst nach der Ursiinde bemerkten,
daB sie nackt waren. Laut den Theologen
geschah dies nicht aus schierer Unwissen-
heit: Im Paradies, vor dem Fall, waren sie,
obgleich nicht von menschlicher Kleidung
bedeckt, dennoch nicht nackt. Sie waren in
ein Kleid der Gnade gehullt, ein eng aniie-
gendes Glorienkleid. Die Siinde beraubt
den Menschen dieses ubernatiirlichen Klei-
des, und, nunmehr nackt, sieht sich dieser
gezwungen, sich erst mit Feigenblattern,
dann mit Tierhauten zu bedecken. Das
Kleid, mit dem er nun seinen Korper ver-
hiillt, ist nicht mehr das Kleid der Gnade

und der Unschuld, sondern das der Siinde
und Heuchelei. Und dennoch gehort es
ibm notwendigerweise an, denn es ist zu-
gleich ein Andenken an das verlorene para-
diesische Kleid und die VerheiBung jenes
neuen Kleides, das ihm mit der Eriosung zu-
. teil wird. Es gibt eine besondere christliche
Wurde des Kleides, die sich sogar auf die
auBersten Auswiichse der Mode erstreckt:

,,Das Kleid, das der gefallene Mensch
tragt", schreibt ein moderner Theologe,
,,ist Andenken an das verlorene Kleid, das
der Mensch im Paradies getragen hat. Es ist
so sehr lebendige Erinnerung daran, daB
jede Veranderung und Emeuerung des
Kleides in der Mode, die wir bereitwillig
auf uns nehmen, weil sie uns einen Ansatz
zu einem Verstandnis unseres Selbst ver-


heiBt, doch nur die Hoffhung nach dem ver-
lorenen Kleide weckt... Dieses Kleid, das
wir besessen und verloren haben und doch
in alien irdischen Gewandern, die wir tra-
gen, noch immer suchen, wird uns in der
heiligen Taufe geschenkt."

Diese Uberlegungen eriauben uns, jene
Nacktheit, die sich in der Performance von
Vanessa Beecroft nicht ereignet hat, auf
neue Weise zu denken. Laut dem Axiom,
das die christliche Theologie des Kleides be-
grundet, ist menschliche Nacktheit, wenn
liberhaupt, nur vorlaufig und negativ mog-
lich. Zum einen, weil im Eden der kreatiirli-
che Korper sogleich von der gottlichen Gna- i
de bekleidet wurde; zum anderen, weil die-
ser nach dem Fall in ein Kleid gehtillt ist,
dessen Notwendigkeit die Taufe begriindet;

und schlieBlich, weil un Paradies die Seligen
ein neues Glorienkleid erhalten werden,
das nicht abgelegt werden kann. Nacktheit
gibt es womoglich nur in der Holle; denn
selbst wenn sie im Leben un fliichtigen Mo-
ment der Slinde aufscheint, bleibt sie besin-
nungs- und deutungslos, denn ihren Sinn be-
zieht sie einzig aus dem Kleid der Gnade.

Jetzt wird verstandlich, warum in der
Performance von Vanessa Beecroft - die
sich nicht in der Holle, sondern der Neuen
Nationalgalerie abspielte und absolut
nichts Siindhaftes hatte - sich Nacktheit gar
nicht ereignen konnte. In riickhaltloser
Komplizenschaft mit der christlichen Theo-
logie, mit der sie, ohne sich dessen bewuBt
zu sein, vollig gesattigt war, stellt sie nichts
anderes aus als die Unmoglichkeit der
Nacktheit.

Das letzte Wort soil deshalb einer politi-
schen Uberlegung gehoren. Gegen diese
Komplizenschaft von Ware und Theologie
gilt es, eine mogliche Nacktheit des Men-
schen zu denken, die erst die Theologie,
dann Verdinglichung und Pornographie un-
denkbar gemacht haben. Was wir wiederfin-
den miissen, ist Adams Nacktheit, bevor
Gott ihm das Glorienkleid iiberstreifte. Je-
doch weder als verlorenen Naturzustarid
noch als VerheiBung eines kommenden,
sondern als etwas, das wir hier und heute .
Stuck fur Stuck von dem theologischen Ge- '
webe befreien miissen, das es umhiillt. Fi-
ner gnostischen Parabel zufolge werden
sich die Seligen am Allerletzten Tag das
Lichtkleid vom Leib reiBen, in das Gott sie '
am Letzten gehiillt haben wird, und sich ein- E
ander in ihrer Nacktheit zeigen, die weder •
Slinde noch Glorie kennt. Der menschliche '
Korper, der an diesem Tag in Erscheinung :

tritt, wird dem Korper jenes Madchens in
der Neuen Nationalgalerie gleichen, auf
das ich von hinten einen fliichtigen Blick
warf, um es sogleich wieder aus den Augen '
zu verlieren: zerbrechlich, einfach, namen- '
los und dennoch unbestreitbar nackt und
problemlos denkbar.

Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko.

Der Philosoph Giorgio Agamben ist der Autor
von ,,Homo sacer". Zuletzt erschien in deutscher
Ubersetzung unter dem Titel ,,Stanzen" eine Un-
tersuchung liber ,,Das Wort und das Phantasma in
der abendlandischen Kultur".



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