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COMMON SENSE



Autor: Alsleben/Eske/Salaverrìa
Treffen am 9. Juni:
• Freiheit aus Ratlosigkeit
. Genießen der Ratlosigkeit
• Zusammensetzen - Auseinandersetzen
• Kybernetik und Revolte
%%%%Liebe Heidi, ein Anfang von mir. Hoffentlich enthält er nicht zu viele Punkte. Tiqquns Texte habe ich sofort gelesen, sie betreffen mich ja.
Erstmal wollte ich uns an unser Arbeitsthema
Common sense bezogen auf mögliche Austauschkunst in Web-Diensten
heranbringen. Tiqqun kommt bei mir in folgenden Turns zur Sprache.%%%%





C o m m o n S e n s e

13. 06. 09
Kurd:
Common sense, welche Interpretation gilt für das Wort, was bedeutet es für mich oder wie benutze ich das Wort? Wenn ich „Common sense“ sage, so meine ich damit die herrschende Meinung als Meinung der Herrschenden. Massenmedien und freie Presse stehen nicht unter staatlicher Zensur, doch unter Weisungen mächtiger wissenschaftlich beratener privater Interessen.
(Die effektive Wirkungsweise der öffentlichen Meinungsbildungsmedien soll hier nicht untersucht werden. Luhmann schreibt, dass man das was man wisse, aus den Medien wisse).

Was mitgeteilt wird, ist notwendig eine Auswahl (einschliesslich des Blickwinkels, egal ob absichtlich oder unbewusst). Auch gibt es ganz offensichtlich Abstimmungen unter den Medien und in der Geschichte einer Meldung verändert sich nicht selten ihr Inhalt bemerkenswert.
Das trifft analog auch bei visávis Austauschen zu oder bei geistiger Verarbeitung von Ereignissen.

Manchmal spreche ich etwas nach (bequemlich oder strategisch), manchmal erwäge ich Mitteilungen graduell oder “letztendlich“. Der Maßsstab für solches Urteilen sind praktische Erfahrungen, Vertrauen gegenüber Mitteilenden, Wissen, Abschätzungen von Anzeichen, Wünsche. Diesen persönlichen Urteilsmaßstab könnte man in einer Rolle analog dem Gewissen sehen.
Ich erkenne in ihm den ‘Gesunden Menschenverstand‘ - vielleicht ist er deswegen im Common sense schlecht beleumundet, weil er alle emanzipatorischen Komponenten auf sich vereinigt. Ich möchte, um ihn herauszuheben gesprächsweise probieren, ihn ‘Doxa‘ zu nennen.

“WIE [ein Hauch von Kopfstimme und Tremolo, ca. viermalige
Dauer im Vergleich zum Sprechen]… LEBT IHR [Tonhöhensprung nach oben, dem fragenden Sprechen gleich]… DAS LEBEN
[etwas lang gezogen]… IM FABRIZIERTEN [nicht gesungen]
… COMMON SENSE ?“ [ein Hauch von Anheben der Tonhöhe, etwas lang gezogen halten]. Gesang von K. Alsleben,
2009 Rechenzentrum der Universität Lüneburg.











22.07.2009
Heidi:

Lieber Kurd, ich wünschte, ich könnte hören, WIE Du diesen Satz singst! Ich denke gerade über Jacques Rancière nach, der schreibt: "Das Problem ist nämlich die Frage, ob die Subjekte, die im Gespräch gezählt werden, 'sind' oder nicht 'sind', ob sie sprechen oder Lärm machen [...] Es ist die Frage, ob die gemeinsame Sprache, in der sie das Unrecht aufzeigen, wirklich eine gemeinsame Sprache ist." (Das Unvernehmen,Ffm. 2002, 62)

Kurd 22.7.09: Wenn Du kommst, werde ich singen.

Heidi: Der Streit um den Common Sense und darum, ob es sich um einen fabrizierten oder um einen zwanglos-ästhetisch/politischen CS handelt, steht und fällt ja damit, ob die Stimmen auf die richtige Weise gehört werden! Wie die Auseinandersetzungen im Iran gerade zeigen, kann das Internet in dieser Hinsicht den richtigen Streit anzetteln, aber wie wir wissen, kann die Kommunikation im Netz auch nach hinten losgehen.

Kurd: Ohne Massenmedien weiss ich vom Iran wenig. (Wir sind ohne Fernsehen, um praktikabel ‘fabriziertem Common senses‘ einigermassen aus dem Wege gehen zu können.)

Heidi: Vielleicht geht es darum, im normalen Betrieb der scheinbar reibungslosen Kommunikation Störungen einzuführen, die dann gelegentlich zu glücklicher Ratlosigkeit führen. Das würde heißen, eine Situation zu erzeugen, in der etwas Neues entsteht, welches die althergebrachten Maßstäbe durch eine zwanglose Verwicklung vorübergehend außer Kraft setzt. In politischer Hinsicht wäre damit ein universeller Anspruch verbunden, jedenfalls in der Hinsicht, dass das Neue in seiner Verhandelbarkeit sichtbar wird.

Das Perfide am fabrizierten Common Sense ist dagegen, dass Selbstverständlichkeiten vage und dadurch unsichtbar bleiben. Man könnte hier auch statt Common Sense von Ideologie sprechen. In besonderen Situationen hingegen werden Konturen des vormals Vagen erkennbar.
"Das Universelle ist dabei immer singulär im Spiel, in der Form des Falls, in dem seine Existenz und seine Erheblichkeit strittig sind. Es ist immer lokal und polemisch im Spiel, gleichzeitig als verpflichtend und als nicht verpflichtend. Man muss zuerst (an)erkennen und (an)erkannt machen, dass eine Situation einen Fall von verpflichtender Universalität darstellt. Und dieses (An)erkennen erlaubt nicht, eine vernünftige Ordnung der Argumentation von einer poetischen, wenn nicht irrationalen Ordnung, von Kommentar und Metapher zu trennen." (Rancière, 68)

Genau genommen heißt das, dass die jeweils angenommene Universalität, die sich ja auch aus dem fabrizierten Common Sense speist, zur Disposition steht, d.h., im ersten Durchgang trage ich meinen Antrag auf Universalität ganz alleine. Ob der Antrag durchkommt, hängt nicht nur davon ab, was ich sage, sondern auch, WIE ich es sage. und die Möglichkeiten, wie ich etwas sagen kann, hängen von den grundsätzlichen Bedingungen ab, in denen ich sprechen kann und gehört werden kann. Eine Form davon ist gegenwärtig das Internet. Der fabrizierte Common Sense gebärdet sich als Konsens. Im Internet gibt es viele Konsens-Zombies. "Aber der ausschließende Konsens löst sich nicht nur in Ausnahmemomenten und durch Spezialisten der Ironie auf. er löst sich so oft auf, wie sich besondere Welten der Gemeinschaft, Welten des Unvernehmens und der Meinungsverschiedenheit öffnen. Es gibt Politik, wenn die Gemeinschaft der argumentativen und der metaphorischen Fähigkeiten jederzeit und durch jeden Beliebigen sich ereignen kann." (Rancière, 72) Was kann zu diesem Ereignis beitragen? Wie entsteht ein Gegen-Common Sense? Wie kann der Common Nonsense sichtbar gemacht werden? (Satz auf einer Tonhöhe gesungen, nur 'sicht-' wird einen Halbton höher intoniert.)

4.8.09
Kurd:
Sozusagen alleine einen Antrag zu stellen, finde ich nicht so gut - mensch ist natürlich mit Anderen zusammen, es ist, will ich mal sagen, zu keinem Zeitpunkt mein Antrag.

Nicht wahr, wir können so sagen, bevor wir uns auseinandersetzen, müssen wir uns zusammensetzen, das hiesse:
Ø_ Also, Menschen sind im Small talk und merken, dass ihre Vorstellungen differieren, also:

1._ Sie setzen sich zusammen und im ästhetikologischen Code entwickeln sie wechselseitigen Respekt. Mensch exponiert sich, sinnt sich einander an, erkennt sich an, baut Vertrauen auf und hat formlose Absprachen, die einzuhalten einem wichtig sind, Gewissensangelegenheit sind. (Das geht relativ spontan, kann wohl auch etwas dauern, ‘ästhetikologisch‘ stammt von G.A. Baumgarten.) - Das halten wir für das Feld offiziöser Austauschkunst.

2._ Sie setzen sich auseinander und erreichen in verschiedenen Graden von Konzilianz, Argumentation, Überreden und Verhandeln formale Übereinkünfte hinsichtlich der Differenzen - etwa Weisungsbefugnis, Entgelt etc. (Das allein einen Antrag stellen finde ich, wäre Auseiandersetzen.)

Ø_ Am extremen Ende, um mit Differenzen umzugehen, steht psychischer Zwang und Gewalt.
Die obigen 1. und 2. bedeuten keine Alternativen, sondern eine Reihenfolge (sie kann auch wechselnd in Unterschritten laufen).

Zwei Dinge gehen mir durch den Kopf:
1. Vielleicht ist es zu keinem Zeitpunkt MEIN Antrag, in dem Sinn, dass er mir gehört (Antrag meine ich hier natürlich vor allem im übertragenen Sinn). Ich habe keine Ahnung, woher ein Einfall kommt, wie etwas verändert werden kann, woher eine Vision kommt oder woher die Kraft, Widerstand zu entwickeln. Diese Einfälle oder Visionen oder Kräfte sind nicht mein Eigentum. Ab wann überhaupt von geistigem Eigentum gesprochen werden kann, so zeigen gegenwärtige Diskussionen, wird ohnehin immer schwieriger. Es geht mir also nicht um das Urheberrecht an Ideen und Kritik, sondern um die Verantwortung dafür. Ich glaube, dass es gut ist, alleine verantwortlich zu sein, wenn ich etwas einbringe/beantrage. Auch wenn andere diese Idee/Kritik teilen oder sie zusammen entstanden ist. Dann sind eben alle Beteiligten jeweils alleine zusammen verantwortlich. Ich gebe zu, dass ich an diesem Punkt sehr mit Lévinas und Kant übereinstimme. Wenn ich diese Idee von einsamer Verantwortung aufgebe, weiß ich nicht, wie Kritik aber auch nicht, wie zwangloses Ansinnen funktionieren können.
2. Die Form. Wenn wir über Common Sense im Rahmen von social software nachdenken, dann muss ich die Form des Austauschs ernstnehmen. Deine Differenzierung in Zusammensetzen und Auseinandersetzen finde ich wichtig: Sie nimmt im Netz und dort je unterschiedlich ganz verschiedene Formen an: Ob es sich um einen Chat, um einen Bilderchat, um Blogs, um Foren, um Internetvideokonferenzen handelt, etc.. Wichtige Unterscheidungskriterien sind wahrscheinlich der Grad der Anonymität und die Menge der Beteiligten und die Geschwindigkeit. Wenn der Kreis zu groß ist, kann wohl nicht mehr von einem offiziösen Rahmen gesprochen werden, aber auch wenn er überschaubar bleibt, ist die Art und Weise im Netz eine ganz andere. Dadurch, dass wir hier im Swiki kommunizieren, bin ich z.B. ungeschützter, weil potenziell jeder unser Gespräch nachlesen kann. Das hat Vorteile und Nachteile. Gerne würde ich noch ein bisschen über die Vor- und Nachteile der Netzkommunikation sprechen. Tiqqun hat ja eine relativ pessimistische Sicht vom Netz, ich habe daran meine Zweifel. Die problematische, historisch kontingente und politisch kritikwürdige Genese von etwas (z.B. des Internet, z.B. der Idee von Kreativität) bedeutet ja noch nicht, dass das Ergebnis deswegen in jeder Hinsicht fragwürdig ist. Die historisch kontingente Idee von Ästhetik/Kreativität/zwanglosem Ansinnen, etc. halte ich gegenwärtig für sehr hilfreich, um Kritik, Mutualität, Anerkennung zu denken. Die fragwürdige Entstehungsgeschichte des Internet hält mich nicht davon ab, viele Formen des Austausches, die dadurch möglich werden, für ausgesprochen nützlich zu halten. Was meint ihr?