© Prof. Dr . Bernahrd H.F. Taureck, veilchenstr. 2a, 30 175 hannover
I
Sowohl mit einem Votum für als auch mit einem Votum gegen die USA machen es sich spätestens seit dem 11. 9. hierzulande zwei Gruppen allzu leicht. Pures Pro und pures Contra entlastet von jeglicher Analyse und gibt einem Wunsch nach blindem Handeln diejenige Sicherheit, mit der auch Sackgassen und Abgründe für Autobahnen gehalten werden. Eine dringende Frage wird auf diese Weise nicht gestellt. Sie lautet: Ist die geopolitische Zielsetzung der USA nach dem 9. 11. noch dieselbe wie vor diesem Datum?
Der US-amerikanische Politologe Zbigniew Brzezinski, von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater des Präsidenten Carter, hat die geopolitischen Ziele der Vereinigten Staaten 1997 in seinem Buch The Grand Chessboard.American Primacy and its Geostrategic Imperatives klar dargelegt. Negativ formuliert, wollte man eine globale Anarchie und das Entstehen eines neuen Machtrivalen nach dem Ende der Sowjetunion verhindern. Positiv ging es darum, für die Lebensdauer mindestens einer Generation eine US-Welt-Hegemonie sicherzustellen und diese auf dem Wege geteilter Verantwortungen speziell mit den Europäern stabilisieren. Die US-Hegemonie war als Vorherrschaft mit drei Eigenschaften gedacht. Sie sollte pluralistisch, indirekt und auf Konsens gegründet sein. Zum primären Ort der Handlung wird dabei Eurasien, definiert als Wohnsitz von 75% der Weltbevölkerung und als die vier Großregionen Europa, Russland, der Nahe und der ferne Osten einschließlich Chinas.
Brzezinskis Überlegungen sind deshalb von besonderer Relevanz, weil sie die tatsächlichen geostrategischen Leitziele der US-amerikanischen Außenpolitik klar zusammenfassen. Der Leser fragt sich bei genauerem Hinsehen allerdings, ob sich in die gesamte Zielsetzung nicht doch ein Widerspruch eingeschlichen habe. Hegemonie heißt, wie man den Terminus auch wendet, "Vorherrschaft über mehrere" und damit die Struktur einer Beherrschung vieler durch eine einzige Macht. Wie verträgt sich eine Weltherrschaft eines politischen Systems mit den drei genannten Eigenschaften des Pluralismus, des Indirekten und des Konsenses? Die Herrschaft eines Systems kann nicht pluralistisch sein, außer in dem Sinn, dass die Beherrschten irrtümlich der Ansicht sind, sie hätten Teil an den maßgeblichen Entscheidungen des sie beherrschenden Landes. Eine pluralistische Hegemonie schließt somit die Erzeugung und Aufrechterhaltung einer Täuschung bei den Beherrschten ein. Dasselbe gilt für den Konsens. Die Beherrschten stimmen jeweils den Befehlen des herrschenden Landes zu. Ihre Zustimmung ist verdeckter Gehorsam. Brzezinski spricht auch von einer "gütigen" (benign) Hegemonie. Die geostrategische US-Hegemonie sei insofern gütig, als sie den USA und den anderen mehr Vor- als Nachteile bringt. Trotzdem gilt: diese Hegemonie ist und bleibt ein unumkehrbarer Befehlszusammenhang, der insofern funktioniert, als die Bedingung der Indirektheit gewahrt bleiben kann. Das bedeutet jedoch nichts anderes als die gelingende Täuschung der Beherrschten. Deutlicher: 75% der Weltbevölkerung soll glauben und so handeln, als ob die Akzeptierung einer US-Vorherrschaft ihrer eigenen Überzeugung entspricht. Brzezinski selbst hat gar keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass die neue Hegemonie sich auch mit alten imperialen Kennzeichnungen beschreiben lasse. In dieser Hinsicht gehe es erstens darum, Verschwörungen seitens der Vasallen zu verhindern, zweitens Tributpflichtige gefügig (pliant) und geschützt zu halten und drittens "die Barbaren davon abzuhalten zusammenzukommen." Die von der Minderheit der USA beherrschte Mehrheit der Weltbevölkerung erscheint in dieser Optik als Vasall, als tributpflichtig und als barbarisch.
Ergänzen ließen sich diese Überlegungen durch Samuel Huntingtons Thesen über einen "clash of civilisations". Huntington bietet keine eigene geostrategische Option der USA, sondern setzt die Hegemonie-Option mit anderen Mitteln fort, indem er ein Feindbild der westlichen Zivilisation zeichnet, in das die alten westlichen Ängste vor Hunnen, Mauren, Mongolen, Türken, Russen und Chinesen auferstehen können. Die USA haben laut Huntington die Aufgabe, ihre technologische und militärische Überlegenheit gegenüber dem Islam und China zu erhalten. Dies lasse sich am besten durch eine Ausdehnung der NATO und durch die Zügelung der militärischen Entwicklung Chinas und der islamischen Länder erreichen.
Insgesamt darf man vermutlich von einer aktuellen Erneuerung des politischen Realismus noch über den Neorealismus hinaus sprechen. Realismus hieß: Nur die eigene Macht liefert in einer grundsätzlich anarchischen Welt eine Chance zum Überleben. Der Neorealismus ersetzte die Anarchie der Staaten durch den Gedanken internationaler Systeme, die gleichsam wie ein Markt für Berechenbarkeit und Stabilität sorgen können. Das vertrat das einflussreiche Buch von K.N. Waltz, Theory of International Politics von 1979. Der aktuelle Realismus fügt hinzu: Demokratien sind nicht, wie man lange Zeit im Anschluss an den Philosophen Kant glaubte, in der Regel friedfertig und auf friedliches Verhalten abonniert. Der Kölner Politologe Werner Link stellt deshalb fest, dass nicht die Demokratie eine Voraussetzung für internationale Sicherheit, sondern dass diese eine Voraussetzung für den Erfolg liberaler Demokratien sei.
II
Wenn wir diese drei Gesichtspunkte bündeln, so ergibt sich als geopolitische Strategie der Vereinigten Staaten vor dem 11.9. 2001 folgende allgemeine Intention: Hegemonie über Eurasien mit dem Ziel eines wechselseitigen Vorteils für die USA und 75% der Erdbevölkerung. Diese Hegemonie schließt sowohl eine Zügelung der militärischen Entwicklung Chinas und der islamischen Länder als auch den demokratisch legitimierbaren Einsatz von Krieg ein. Hat sich diese Strategie seit dem 11. 9. geändert oder nicht? Es gibt sicherlich Verfechter der Ansicht, wonach alles beim Alten geblieben ist. In diesem Fall wären jedoch zwei Modifikationen zu beobachten. Der hegemoniale Zugriff der Vereinigten Staaten auf einen asiatischen Teil Eurasiens hat sich beschleunigt und die Hegemonie ist dabei, ihren verdeckten in einen offenen Gefolgschaftsanspruch einzutauschen.
Doch man könnte auch probeweise anders urteilen und fragen: Bereiten die USA als Reaktion auf die extremistische Bedrohung nicht eine Art Kolonialismus des 21. Jahrhunderts vor? Niemand vermag diese Frage derzeit mit Sicherheit zu beantworten. Gleichwohl gibt es Verhaltensweisen, die sich zumindest hypothetisch einem kolonialistischen Paradigma oder einer kolonialistischen Option zuordnen lassen. Dieses Paradigma wäre primär durch die Rückkehr von Attributionen der Feindschaft geprägt, die ihrerseits den Status von Rechtsverbindlichkeit gewinnen. Feinde der US-Geostrategie würden auf diese Weise einen Teil derjenigen Rechte einbüßen, die sie als Menschen besitzen. Sie würden, anders gesprochen, in vieler Hinsicht das Recht verlieren, Rechte zu haben. Damit entstünde eine Menschengruppe anderer Ordnung. Bisher behilft man sich damit, diese als "Terroristen" zu kennzeichnen, bleibt jedoch eine begründete Definition dieses Begriffs schuldig. Es ist nicht nur verständlich, sondern legitim, dass die USA und ihre Verbündeten sich wirksam gegen die Risiken extremistischer Bedrohung schützen. Doch zu bezweifeln ist, ob das kolonialistische Paradigma dazu das wirklich angemessene Instrument zu bilden vermag, da zu befürchten steht, es könnte noch mehr Todfeindschaft gegen die USA als zuvor erzeugen. Das kolonialistische Paradigma hat bisher verschiedene Merkmale: Es beruht erstens auf einer vorauseilenden Entrechtung von Menschen durch Verdächtigung. Zweitens führt es im Inneren der Staaten (bisher USA und Großbritannien) zur Bildung einer abweichenden, die Menschenrechte suspendierenden Jurisdiktion (Diskussion über die Wiedereinführung der Folter in den Vereinigten Staaten, Internierungen, Militärgerichtsbarkeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Möglichkeit der Korrektur von Justizirrtümern). Drittens führt die kolonialistische Option zu kriegerischen Intervention und zur Bildung von Regionen von Quasi-Vasallen ohne eigene Souveränität, aber mit geduldeten Massakern. Das Kosovo war dafür nur eine Art europäisches Vorspiel. Der interventionistische Griff nach den orientalischen und asiatischen Teilen Eurasiens scheint mit der Destruktion Afghanistans begonnen zu haben und könnte sich demnächst zum Beispiel auf den Irak ausdehnen, der ohnehin bereits zum interventionistischen Dauerfall wurde.
"Wo sie eine Verwüstung stiften, nennen sie es Frieden (ubi solitudinem faciunt, pacem appellant)", heißt es bei Tacitus über den Imperialismus der Römer. Für die Extremisten gilt dies nicht. Sie verstehen Zerstörung als Teil eines Krieges. Falls die USA einer kolonialistischen Option folgen, so trifft für sie die Tacitus-Feststellung zu. Doch müsste ergänzt werden: Wo sie eine Verwüstung stiften, nennen sie es Frieden, der mehr Feindschaft sät, als auf lange Sicht jemals besiegbar sein dürfte.
III
Vielleicht findet zurzeit in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich tatsächlich ein Prozess einer geopolitischen Modifikation der hegemonialen in Richtung auf eine kolonialistische Option statt. Aus der historischen Erforschung des europäischen Kolonialismus ist bekannt, dass die Fremdbeherrschung von Völkern Voraussetzungen aufweist, die mit der heutigen Situation durchaus vergleichbar sind. Zu diesen Voraussetzungen kolonialistischer Politik gehörte, dass man die eigene Kultur nicht nur als in technologischer, theologischer, politischer, ökonomischer und moralischer Hinsicht überlegen ansah. Vielmehr erblickte man außerhalb ihrer nur Chaos, das es zu ordnen galt. Diese Voraussetzung wird heute von westlichen Politikern und Intellektuellen vielfach nachgestellt. Die Deklaration, jene Attentate vom 11.9. 2001 seien ein Angriff auf die Zivilisation, bildet inzwischen den Obersatz für eine kolonialistische Zweiteilung des Globus in Mächte des Chaos und der Ordnung. Jeder Gedanke an eine Kultursynthese, wie sie die Spätantike erreichte und ebenso jede Selbstschätzung unter Ausschluss kolonialistischer Konsequenzen, wie sie das alte China praktizierte, besitzt in diesem auf Gewalt gepolten Kontext keine Stimme und keine Chance. Auch Theologen verstärken manchmal dieses Schema. Eine Zunahme der Gottesdienste und der politischen Bekundungen von "starkem Beten" für den Erfolg der Ordnungsoption sind keine Fremdkörper in dieser Logik.
Zu jenen neuzeitlichen Voraussetzungen kolonialistischer Intervention gehörte auch ein vollständiger Ersatz jeglicher Politik durch pure und perfekte Verwaltung. Das führte zum Teil dazu, dass die Kolonialisierten selbst bald keinerlei Interesse mehr besaßen an politischer Selbstorganisation. Die hoheitlichen Entscheidungen fielen im Mutterland und den Kolonien blieb nur deren Ausführung. Es ist nicht auszuschließen, dass auch das Ziel der US-amerikanischen Geopolitik, sofern es ein Friedensziel darstellt, langfristig in der regionalen Ersetzung von Politik durch Verwaltung bestehen könnte. Es scheint den Planern am Ende besser, dass in Krisengebieten eigenständige Politik institutionell verhindert wird. Ein Vorteil läge sogleich auf der Hand: Das Gespenst einer Versorgungskrise im Hinblick auf Rohöl, das sich als das wirkliche Blut der Zivilisation erwiesen hat, wäre auf diese Weise vermutlich gebannt. Das gefürchtete Gespenst des omnipräsenten Extremismus träte dann allerdings in einen Zustand der Überernährung ein. So stellt sich eine neue Frage der sozialen Evolution: Survival of the fattest?
Bernhard H.F.Taureck ist Professor für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig