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Die sich ausweitende Krise und das Gespenst einer faschismusartigen Architektur. Überlegungen unter Einbeziehung von Nietzsche und Heidegger
Zuerst soll über Architektur (I), dann über Politik gehandelt werden (II). Dann wird es um eine Verbindung beider in der Zukunft gehen (III). Danach erst soll es gehen um die Möglichkeit des Rückgriffs auf bestimmte Philosophien in jener Zukunft, das heißt auf Heidegger und Niezsche (IV).
I. Zur Architektur
Architektur [wörtliche Bedeutung eines griechischen von den Römern als «architectura» übernommenen Wortes lautet etwa: Oberbaumeisterei, aus archí (zu archein, herrschen) und tékton, Baumeister - somit bezeichnet das Wort «Architektur» nicht nur die Bautätigkeit, sondern deren interne Herrschaftsorganisation]
findet statt in einem Kraftfeld von
erstens Kunstwollen (Ullrich Schwarz sprach 1995 von dem Architektonischen als Erkennbarwerden der Spur des Nichtidentischen),
zweitens Gestaltung von räumlicher Öffentlichkeit und
drittens Bauoptionen von Eigentümern.
Hinsichtlich der Architektur als Kunst schrieb Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert: «Ohnehin ist die Architektur vermeintlich unverständlicher als Malerei und Bildnerei [Bildhauerei], weil sie nicht das Menschenleben darstelle; sie ist aber als Kunst gerade so schwer oder so leicht zu verstehen als diese beiden.»
Der berühmte italienische Architekturhistoriker Leonardo Benevolo stellt dar, dass die liberalistische Stadt eine obskure Grammatik der Hauseigner und des Einzelhauses war. Sie sollte abgelöst werden von einer post-liberalistischen Architektur, die nicht vom Haus, sondern von der Wohnung und der Wohnungsvervielfältigung ausging, aus der heraus sich der öffentliche Raum strukturieren lässt. Dies wurde jedoch gestört und behindert durch diejenigen, die ihre Häuser und nichts als ihre Häuser in das spatium publicum stellen wollten. In den ärmeren Erdregionen ergab sich daraus ein hierzulande nicht gekanntes Phänomen, nämlich das Anwachsen von Bauten der Ärmeren ohne Baugenehmigung.
Doch auch in Deutschland, Europa und Nordamerika wächst bekanntlich die Armut und die politische Hilflosigkeit im Umgang mit ihr. Welche Folgen könnte dies für die Architektur unserer urbanen Räume haben? Verschiedene Szenarien drängen sich auf. Ich möchte sie grundsätzliche Szenarien nennen.
A. Szenario des Verfalls. Urbane Zonen zerfallen, werden Orte von Raub und Bandenkriegen wie in den failed states des Globus oder wie einst in Rom nach dem Untergang des Imperium Romanum.
B. Szenario eines architektonisch geführten Klassenkampfes. Hier würden die Reichen ihre Luxusschuppen, bewacht von Security-Leuten mit Schnellfeuerwaffen, bauen und umbauen und die Armen ihre Slums gegen Polizeieingriffe verteidigen oder anzünden. Eine Variante dieses Szenarios kennen wir spätestens seit Herbst 2005 als: Paris-Centre, Paris-Banlieue.
C. Szenario des Ausgleichs. Dieses Szenario ist das am meisten verbreitete und am wenigsten leicht zu begreifende. Es liegt der europäischen Baupolitik nach 1945 in diffuser Weise zugrunde und kommt nicht überall zum Tragen. Sozialwohnungen einer- und Bankwolkenkratzer andererseits. Sachsenhausen und Frankfurt-City. Doch das gibt es nur in Frankfurt auf dem europäischen Kontinent. In Paris denkt man etwa an die HLM-Gürtel und die Grande Arche de la Défense.
Dieses dritte Szenario gab es auf internationale Weise schon in zwei Jahrzehnten vor 1945. Es trägt den Namen Neoklassizismus. Was besagt er? Er versorgt die Armen mit Siedlungen und versucht öffentliche Gebäude als gebaute Bedeutung zu errichten. So im Pariser Palais de Chaillot und im Musée National d'Art Moderne (1935-37), so die Tate-Gallery in London so in der National Gallery of Art in Washington (1937-41), so in der Lomonossow-Univ. von Moskau. So der Palazzo della Civiltà Italiana von Bruno Ernesto La Padula in Rom. So das Reichstagsgebäude in Helsinki 1927-31.
Eine Variante dieses Neoklassizismus war die NS-Architektur. Sie baute eine Arbeiterstadt um ein Riesenindustriewerk in Wolfsburg, sie baute Trabantenstädte wie Braunschweig-Mascherode oder Braunschweig-Lehndorf, sie schuf einen künstlichen See mit zwei bedrohlich fauchenden Breker-Löwenstatuen, einer Stele mit einem Olympischen Fackelträger auf einer Erdkugel und in der Geste des Hitlergrußes (Maschsee in Hannover), sie erweiterte den Klassizismus am Münchner Königsplatz durch Ehrentempel und Großbauten, sie schuf die heutige Straße des 17. Juni zwischen dem Reichstag und der Siegessäule in Berlin.
Sie plante ein 250m-Hochhaus in Hamburg und eine Elbbbrücke, beide größer als die Kalifornische Golden-Gate-Bridge oder die US-skycrapers. Vor allem plante sie die Fertigstellung eines in «Germania» umgetauften Berlin: Unterirdische Autobahnen für PkW-Geschwindigkeiten um 200km/h für den Hauptverkehr einer 10-Millionen-Metropole; im Zentrum eine Nord-Südachse von einer Kuppelhalle (nahe des Reichstages) bis zu einem Triumphbogen.
Ein durchgängiges Überbietungsprogramm ist erkennbar: Hitler, der tatsächlich glaubte, er wäre ohne den 1. Weltkrieg eine Art Michelangelo geworden, ließ Speer eine Kuppel nach Art des Petersdomes konzipieren, wobei das Gesamtgebäude San Pietro di Roma 17 mal überragen sollte. (Kuppeln San Pietro und Pantheon 42 m Durchmesser, die Hitler-Kuppel 290 m, maximale Besucherzahl: 150.000 Personen). Überboten werden sollte zugleich Paris, Arc de Triomphe und Champs Elysées (70m, 2 km) durch 7 km und eine Triumphbogenhöhe von 117m, somit 47 m höher als der Arc de Triomphe. Das Branderburger Tor ist 26 m hoch. Der Hitler-Triumphbogen wäre also 91 m höher gewesen als das Brandenburger Tor.) Das Überbietungsgebaren demonstriert zugleich die architektonische Sterilität: die alten Konzepte werden lediglich imitiert, nur in Maßen der Maßlosigkeit. Auch das Olympia-Stadion in Spandau folgte römischen Amphitheatern (allerdings oval und nicht rund), bot aber Platz für 100.000 Besucher, also 30.000 mehr als die römischen Theater maximal boten. Architektur sollte gebaute Bedeutung sein, «Wort in Stein», wie es Hitler aussprach. Die Bedeutung allerdings war nicht vorhanden. Es ging um Selbstsuggestion und Fremdsuggestion. Selbstwusstsein und Einschüchterung waren die Stichworte.
Die NS-Variante des Internationalen Neoklassizismus nutzt das Szenario des Ausgleichs von Wohnungsfürsorge und Riesenbau, indem es den Riesenbau über alles bisher Bekannte zu dehnen sucht.
Dieser Monumentalismus unterscheidet sie von jenem Konzept der futuristischen Architektur Italiens, die Antonio Sant'Elia in seinem Manifest der futuristischen Architektur 1914 als Wunsch zur Beendigung der monumentalen Grab- und Gedenkarchitektur aussprach: «Finiamola coll'architettura monumentale funebre commemorativa.» Das Gegenbild sollte eine Stadt als «immenso cantiere tumultuante, agile, mobile, dinamico in ogni sua parte» sein, die Stadt als bewegte Architektur, verstanden als «Verkehrsproblem als aktiv bejahter Bestandteil der Architektur» (S. Giedion). Doch wer glaubt, dass der Futurismus im Ganzen nicht intrinsisch geöffnet war zum späteren Faschismus, müsste jene Bemerkung aus Marinettis Manifest von 1909 vergessen: «Wir wollen den Krieg verherrlichen, diese einzige Hygiene der Welt, den Militarismus, den Patriotismus» (Noi vogliamo glorificare la guerra – sola igiene del mondo – il militarismo, il patriotismo, Nr. 9).
Das Dritte Reich war ein Imperium der Tarnung. Nicht nur sollte die Shoa getarnt werden. Der Führerstaat selbst tarnte sich als Republik von Weimar und herrschte auf der Basis des Art. 48 der Weimarer Verfassung. Eine dritte Tarnung war der Internationalismus. Die Olympiade von 1936 stellte das kriegs- und genozidbereite Reich als Ort und Hort des Friedens und der Völkerfreundschaft dar. Hitlers Absage an architektonischen Traditionalismus und sein Bekenntnis zum internationalen Neoklassizimus der Architektur von 1934 bildet einen weiteren Baustein der Tarnung. (Den neoklassizistisch-internationalen Charakter der NS-Architektur wird passend dargestellt von V. M. Lampugnani (1980) Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts. Hatje: Stuttgart, 133-143)
II Zur Politik
Nun zur Politik und dem, was dort sich anbahnt.
Politik ist seit Jahrzehnten pragmatisch, das heißt sie vermeidet, verhindert und unterdrückt Einfälle und Einbildungskraft. Doch die Jahre des Politpragmatismus dürften gezählt sein. Die Krise der Finanzmärkte und der Realwirtschaft, deren Verknappungsauswirkungen im Alltag in einigen Monaten ankommen wird, diese Krise wird die Politik als das zeigen, was sie war: eine Maschinerie der Umschichtung, die sich als Kompetenz der Problemlösung ausgibt. Der Problemmüll wird nicht beseitigt, sondern er zirkuliert. Politpragmatismus ist eine Ideologie des Unrats, der Unsichtbarmachung des Problemunrats, heiße er Privatisierung von Kriegen und Bildungseinrichtungen, des Gesundheitswesens, der Schleifung von Grundrechten, der Verbrennung von Milliarden, des Lohnsteigerungsverzichts der Lohnabhängigen und der Senkung der Steuersätze für Vermögende.
Der Politpragmatismus hat sich mit seinen Milliarden (480 für die Banken, 100 als Konjunkturpakete, 150 für Wirtschaftsfonds, 5 für Länderfonds, 5 für Abwrackprämie, Steuerentlastungen für Unternehmen von 3, Nachtragshaushalte mit einer zusätzlichen Nettokreditaufnahme von 47,6 Milliarden €) bereits in einen Zustand der Aufblähung begeben. Der Frosch in jener Fabel von La Fontaine, der gern so groß sein wollte wie eine Kuh, blies und blies sich auf. Was dann geschah, ist bekannt.
Auch der Politpragmatismus wird sich aufblähen und überdehnen. Wenn dies geschehen wird, dann wird eine Zeit eines Großkonfliktes kommen zwischen
− einem Votum für den Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit, das Privilegien abschaffen und eine volkssouveräne Demokratie schaffen möchte
− und einem Votum für Freiheit, das eine nicht existierende Demokratie für sicherungsbedürftig erklärt und im Namen geschürter Angst vor einer bedrohten Demokratie eine Oligarchie installieren möchte.
Enthält das nicht zu viel Prognose über das, was niemand derzeit wissen kann? So mag es scheinen, wenn wir etwas vergessen, was wir eigentlich wissen, aber vielleicht nicht recht wissen möchten. Eine postpragmatische Oligarchie hat nach dem Untergang einer vormaligen Parteienpolarisierung bereits längst die Regierungsgeschäfte übernommen im Italien von Signore Silivio Berlusconi und im Frankreich von Monsieur Nicolas Sarkosy. Beide Potentaten sehen sich keiner ernst zu nehmenden Opposition mehr gegenüber und haben auch keine solche zu erwarten. Zudem lese man die Analysen von Colin Crouch' Buch «Post-Democracy» (Polity Press: Cambridge 2005), der die Demokratien bereits weitgehend als Instrumente in den Händen wirtschaftlicher Interessensverbände sieht.
III Politik und Architektur in der Zukunft
Für den Fall, dass diese zweite Option, die als Betrug konzipiert ist, sich durchsetzt: Welche Richtung könnte Architektur in diesem Fall einschlagen? Negativ könnte man sagen: Man will die gescheiterte postliberalistische Architektur nicht fortsetzen, ebenso wenig wie die ironische Stilmischung der Postmoderne. Im Hintergrund stehen dann die drei grundsätzlichen Szenarien von Verfall, architektonischem Klassenkampf und Ausgleich. Verfall kommt deshalb nicht in Frage, weil man sich als siegreiche, post-pragmatische Ordnungskraft versteht und diese auch in Stein darstellen möchte. Architektonischer Klassenkampf kommt ebenfalls nicht in Frage, weil man sich ja als Sieger nach der Überdehnung des politischen Pragmatismus fühlt. Folglich bliebe: das Szenario des Ausgleichs.
Es bekäme also in meiner Voraussage eines Sieges der getarnten Oligarchie in politischer Zeit nach dem Ende des Politpragmatismus eine Architektur des Ausgleichs von Arm und Reich, somit eine zweite Chance für das, was zuvor der Neoklassizismus tat. Könnte sie erneut neoklassizistisch und faschistisch, zumindest faschismusaffin genutzt werden? Dies und genau dies ist zumindest eine von drei Optionen dieser Oligarchie. Die beiden anderen Optionen lauten: Weitermachen wie bisher im Sinne eines unauffälligen Ausgleichs, nichts bauen, was den Verdacht auf Oligarchie nährt und bestätigt. Eine andere Option besagt: Bisher unbekannte Bau-Formen des Ausgleichs finden. Was hätten wir zu erwarten? (Prognosen sind bekanntlich immer dann besonders schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.)
Die Option «So weiter wie bisher» geriete in einen störenden Kontrast zum Anspruch auf Überwindung des bisherigen Pragmatismus. Die Option des gänzlich Neuen ist einer Oligarchie schwer zumutbar, die das effektiv Neue, nämlich die Ersetzung der bisherigen Republik durch Demokratie, ja verhindert. So folgt, dass allein der Rückgriff auf und die Fortsetzung des Ausgleichsmusters wahrscheinlich ist. Diese Fortsetzung kann eine faschismusaffine Architektur fördern und hervorbringen. Eine oligarchische Internationalisierung der Politik kann eine internationale Baukunst faschismusaffiner Art nach sich ziehen. Worin die Formensprache dieser Architektur bestehen würde, ist offen. Eine Bedingung allerdings hätte sie zu erfüllen: Sie müsste kontrastverstärkend wirken zwischen Wohnungsversorgung der Bevölkerung einer- und den Repräsentationsbauten andererseits. Es müsste neben Wohnhäusern auch wieder besonders auffällige, größer dimensionierte Bauten geben, die das ausdrücken, von dem die Oligarchie will, dass es die Volksmehrheit will. Die Frankfurter Bankwolkenkratzer reichten dann nicht mehr aus.
Erläuterung: Kurt Groenewold fragte in der Diskussion sehr passend, wie «faschismusaffin» zu verstehen sei. Ich schlage als Antwort nunmehr vor: Faschismusaffin ist jede Art von Politik, die sich nicht selbst als faschismusnah definiert, sondern als «demokratisch», «progressiv», «modern» usw, die jedoch faktisch das kontrasverstärkende Ausgleichszenar des Italo- und Germanofaschismus praktiziert. Eine Bezeichnung wie «faschismusaffin» soll jenes inflationär entleerte Adjektiv «faschistisch» ersetzen.
Ist das nicht zuviel Prognose? Geht das nicht über den Horizont seriöser Voraussagen hinaus?
Leider nicht.
Wir finden bereits heute Zeichen, die auf eine oligarisch-internationale Architektur hinweisen oder die zumindest so verstanden werden können. Auf drei Typen von Phänomen sei hingewiesen.
Erstens: Es existiert eine als bruchlos empfundene Integration von NS-Architektur in die post-1945-Baukunst und Stadtarchitektur. Die Stadtrandsiedlungen Lehndorf und Mascherode in Braunschweig, der Hannoversche Maschsee mit Reichsadler auf der Stele ohne Hakenkreuz, aber der Inschrift von 1936 («Wille zum Aufbau gab werkfrohen Händen den Segen der Arbeit – Freude, Gesundheit und Kraft spende fortan auch der See!» in Frakturschriftlettern), der Münchner Königsplatz, das dortige Haus der Kunst, das Olympiastadion in Spandau, die Straße des 17. Juni und die urbanistisch als ganze nicht entnazifizierte Stadt Wolfsburg sind Beispiele längst akzeptierter architektonischer Physiognomien dieses Landes.
Zweitens: Wir finden eine gewollte Hybridarchitektur, welche ältere Bauten oder Nachbauten mit zeitgenössischer Architektur verschweißen. Das Paradebeispiel dafür ist die Rekonstruktion des Braunschweiger Schlosses aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts samt seiner Quadriga und seiner Reiterstandbilder vor dem Schloss. Diese Repräsentationsmaschine einer Adelsoligarchie des 19. Jahrhunderts beschränkt sich allerdings auf die Standbilder und die Fassade. Der größere Rest ist ein gigantisches Einkaufzentrum. (Das Shoppingcenter, so schreibt der portugiesische Nobelpreisromancier José Saramago im Mai 2009 in der Tageszeitung «Diario de Noticias», sei das Symbol einer totalitären Fassadendemokratie.)
Drittens: Zunehmend findet, so neuerdings wieder im Hannoverschen Einkaufszentrum am Hauptbahnhof, eine Wandauflockerung durch Dünnsäulen statt, eine Art Addition von grauen Klopapierrollen aus Recyclingpapier. Hier scheinen die Vierkantsäulen des Neoklassizismus durch Rundung und Verdünnung ersetzt, eine ebenso zaghafte wie abstoßende Innovation, vielleicht auch eine Parodie auf jene Stützelemente, wie sie der frühe, noch geometrievernarrte Le Corbusier verwendete.
Viertens: Ein Blick auf jene Länder, die sich zwar nicht als Demokratien verstehen, von unseren pseudodemokratischen Republiken sich indes durch ihre offenen Bekenntnisse zu autokratischen Besitzansprüchen auf die Regierung unterscheiden, zeigt überdeutlich einen Zug zum Gigantismus. Hier werden noch kaum wahrgenommene Signale ausgesandt, Vorboten vielleicht einer für die kommenden Oligarchien der westlichen Welt interessanten Höhenblüten. In Algier wird eine Moschee gebaut, deren Minarette 214 Meter Höher erlangen sollen. Diese Maßlosigkeit besitzt indes ein Maß, denn es soll die Minaretthöhe von 210 m der Hassan-II-Moschee in Ed Dar el Beida (Casablanca) übertrumpft werden. Marokko ist längst ein Zentrum des modernen westlichen Party-Orientalismus geworden. Der Monarch ließ die Kosten seiner 1993 fertiggestellten Moschee, die zum üppigsten Tempel des Globus mit einem beweglichen Dach, 20.000 Quadratmetern und max. 25.000 Besucher fassend, wurde, aus Zwangssteuern finanzieren. Das Bauwerk – architektonisch außen wie innen die Sprache des maurischen Mittelalters sprechend und in dieser Hinsicht nichts lernen wollend - wirkt wie ein Muster eines uns noch bevorstehenden oligarischen Ausgleichs: Es wird als Geschenk des Monarchen an sein Volk dargestellt. Doch die Opposition übermalte bei Nacht «Hassan-II-Moschee» mit «Medschid asch-Schab» (Moschee des Volkes.)
Als man den Monarchen fragte, wie sein armes Land sich ein derartig kostspieliges Gebäude leisten könne, fragte er zurück, ob man vergessen habe, wie arm die Bevölkerung von Paris war, als man dort Notre-Dame erbaute. (In einer offenbar aufklärungsfernen Berichterstattung des Deutschlandfunkes am 30. 7. 2009 hieß es dazu sinngemäß: Dass man darauf nichts mehr antworten könne. Aha. Wir werden also vorbereitet auf eine Zukunftakzeptierung, die 800 zurück liegt.) Diese Bemerkung zeigt: Marokko sieht sich nicht grundsätzlich entfernt von einer Zeit vor 800 Jahren, als es noch keine Aufklärung und einen starken islamischen oder katholischen Glauben gab. So weit wird es eine post-pragmatische Politoligarchie nicht bringen. Sie wird neidisch nach Marokko oder Algier blicken und seufzen: Ex ooooooooooooriente luuuuuxus!
Ein weiteres Zeichen für eine real existierende faschismusaffine Architektur unter oligarchischen Vorzeichen ist China. Bernd Liebner wies in der Diskussion darauf hin, dass der erfolgreichste deutsche Architekt auch ein Baumeister des zeitgenössischen China sei. Sein Name ist Albert Speer, der 1934 geborene Sohn des Hitler-Architekten. Speer baute auch in Hannover, Frankfurt, Libyen. Eine faschismusaffine Architektur möchte ich ihm allerdings nicht unterstellen.
IV Möglichkeiten des Rückgriffs auf Heidegger und Nietzsche
Von allen bedeutenden und international stark rezipierten Denkern gibt es genau zwei, die konzeptuell mit den Faschismen und dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden können und müssen: Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. Heidegger war elf Jahre alt, als Nietzsche, seit elf Jahren geistig umnachtet, in Weimar verstarb.
Inwiefern könnte, um mit ihm zu beginnen, Heidegger als Ideengeber für eine internationale Architektur der postpragmatischen Politoligarchie genutzt werden?
Bei Heidegger ist die Sache versteckter als bei Nietzsche. Heidegger hat sich nach 1945 nicht mehr offen zu seiner Interessensgemeinschaft mit dem Nationalsozialismus und zur Unterwerfung unter den Willen des Führers bekannt wie zuvor. Doch er hat sich davon auch nicht distanziert oder jene Interessensgemeinsamkeit seiner Philosophie mit den Zielen der genozidbereiten Raumgewinnung und der rassischen Reinerhaltung des deutschen Volkes in irgend einer Weise ausdrücklich zum Gegenstand werden lassen.
Sein Darmstädter Vortrag von 1951 Bauen, Wohnen, Denken, bei dem - neben Alfred Weber und Ortega y Gasset - sowohl ehemalige NS-Architekten (Paul Bonatz, Wilhelm Kreis, Richard Riemerschmid) wie die Modernisten Hans Scharoun, Hans Schwippert, Sep Ruf und Egon Eiermann anwesend waren, beruht, zusammenfassend gesagt, auf der Beschwörung eines Gegensatzes von Wesentlichkeit und Unwesentlichkeit. Die Wesentlichkeit ist gekennzeichnet durch ein vormodernes Verständnis des Menschen als eines sterblichen Wesens, das auf der Erde unter dem Himmel wohnt und eine intrinsische Beziehung zu den Nicht-Sterblichen, den Göttern besitzt. Diese Bezugsvierheit von sterblich/göttlich, Erde/Himmel exemplifiziert Heidegger am Schwarzwaldhof und der bäuerlichen Einfachheit des Wohnens. Das wesentliche Wohnen geschehe als Schonen: «Das Geviert zu schonen, die Erde zu retten, den Himmel zu empfangen, die Göttlichen zu erwarten, die Sterblichen zu geleiten, dieses vierfältige Schonen ist das einfache Wesen des Wohnens.» Diesem Wesentlichen stellt Heidegger das «Tektonische der Architektur», die «Kraftmaschinentechnik» und den «Ingenieurbau» gegenüber. Wir wissen, dass Heidegger das Technische als Verhängnis des Wahrheits- und Seinsentzuges der Moderne beurteilt. So mag es nicht wundern, dass in einer Zeit der extremen Wohnungsnot (1948 wurde der Bedarf an Wohnungen auf fast 7 Millionen geschätzt) als Folge eines von Deutschland gewollten Krieges gar nicht interessiert. Die «eigentliche Wohnungsnot», so Heidegger, sei «älter als die Weltkriege» und wurzele in der «Heimatlosigkeit des Menschen.»
Wie sollen wir diese Voten heute deuten? In der Darmstädter Diskussion von 1951 hat man Heidegger weder angegriffen noch verteidigt. Vielleicht wollte man ihn nicht provozieren. Eine Gegenposition vertrat einzig der Politologe Dolf Sternberger, der das Element «der freien Gesellschaft» einfordert. Die Heimatlosigkeit könne nur durch eine Verbindung von «Wohnung, Arbeit, Gesellschaft» beendet werden. (Bei Wielens 1994, 45)
Drei Lesarten dieses Heidegger-Textes scheinen möglich: eine romantische, eine architektonisch-fortschrittliche und eine latent nationalsozialistische. Die romantische Lesart besagt Verklärung von Vergangenem (dort: das Mittelalter) zu einem Reich der Fantasie, das echter, wahrhaftiger, ursprünglicher ist als das Gegenwärtige. Der Schwarzwaldhof als Exempel der Rettung des Gevierts von Himmel, Erde, Menschen und Göttern wird zum verklärten Templum des Wesentlichen. Nun ist Heidegger kein Freund der Romantik und versteht die von ihm gedeuteten Dichter Hölderlin und Rilke nicht als Romantiker. Doch es mag Interpreten geben, die gleichwohl die romantische Lesart favorisieren.
Die architektonisch-fortschrittliche Lesart meint Anschlussfähigkeit an jenes eingangs erwähnte postliberale Bauen als Bauen des Stadtraumes aus der vergesellschafteten Art des Bauens als wohnendes Bauen. Doch dieser Deutung steht ersichtlich entgegen, dass Heidegger Architektur als Teil des Technischen sieht und dem wesentlichen Bauen gegenüber stellt. Genau dies verbindet ihn übrigens mit einem berühmten modernen Plastiker, mit welchem er die 18 letzten Jahre seines Lebens in regem Austausch stand, mit Eduardo Chillida. Auch Chillida hält den mathematisierten Raum für eine Fiktion, weil er sich auf den Punkt gründet, der die Dimension Null besitzt: «Ist nicht die Geometrie nur deswegen kohärent, weil der Punkt kein Maß besitzt?» (¿No es la geometria unicamente coherente cuando el punto no tiene medida?» Bei Wielens 1994, o. S.)
Nun zur latent nationalsozialistischen Deutung: Um sie anzugeben, ist daran zu erinnern, was eigentlich Heideggers Fragestellung war und blieb. Sie gilt nicht dem Sein, sondern dem, was uns zu retten vermag. Diese Fragestellung war nach dem ersten Weltkrieg im deutschen Sprachraum verbreitet, Dichter wie Hofmannsthal und Kafka haben sie prächtig parodiert. Heidegger schreibt in seinem Vortrag von 1951: «Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten – das Wort in dem ältesten Sinne genommen, den Lessing noch kannte. Die Rettung entreißt mich nicht nur einer Gefahr, retten bedeutet eigentlich: etwas in sein eigenes Wesen freilassen.» Was aber meint dieses «Wesen», dieses aus dem metaphysischen Kontext gewanderte Wort? Kann es nicht auch als Leerstelle fungieren für «Volk», «Volkseinheit», für Führer-Personen, die uns, wie Heidegger einst hoffte, bewahren vor Erscheinungen wie Bolschewismus und jüdischer Weltverschwörung? All dies wird nicht ausgesprochen. Doch ist es darum ausgeschlossen bei einem Denker, der sich zu keiner Zeit von seiner Interessensgemeinsamkeit mit Hitler distanzierte?
Exkurs für Eingeweihte zum Thema : Heideggers Frage nach dem Raum, mit einer Bemerkung über Le Corbusier
Ullrich Schwarz kritisierte an meinem Hamburger Vortrag vom 29. Juli 2009, ich messe dem kleinen Heideggertext zu viel Bedeutung bei. Wenn ich ihn richtig verstehe, hält er Heideggers Interesse an architektonischen Fragen für marginal. Das mag zutreffen.
Etwas anderes trifft indes mit Sicherheit nicht zu: Die Suche nach einer Räumlichkeit, die verschieden ist von dem mathematisierten isotropen und homogenen Raum - den Panofsky bekanntlich aus der zunächst ästhetisch konzipierten Fluchtpunktperspektive der italienischen Renaissancemalerei ableitete – bestimmt seit § 24 von «Sein und Zeit» von 1927 Heideggers Denken grundsätzlich mit. Im Gegenzug zum cartesischen Raumverständnis als «res extensa» behauptet Heidegger zweierlei: (1) Das Dasein ist selbst primär räumlich als innerweltliche Zu- und nicht Vorhandenheit (auf dieser Begriffsunterscheidung beruht bekanntlich «Sein und Zeit» im Ganzen), (2) der mathematisch-geometrische Raum sei ein Verlust: «Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen verliert mit diesem [dem mathematischen Raum der Dimensionen O, 1, 2...n] ihren Bewandtnischarakter.»
Auch wenn Heidegger weder eine intrinsische Räumlichkeit der menschlichen Existenzweise aufzeigen noch die Entstehung des geometrischen Dimensionenraumes aus der existenzialen Spatialität verdeutlichen konnte (es mag übrigens eine Variante der aristotelischen Abstraktionstheorie der geometrischen Figuren aus den erfahrenen Dingen, verbunden mit einer Fortsetzung von Kants Modernisierung vorliegen, wonach der mathematische Raum und unser Anschauungsraum auf derselben Struktur beruhen) so gilt: «Bauen Wohnen Denken» bildet eine Fortsetzung der existenzialen Raumanalytik aus «Sein und Zeit.»
Es sollte nicht vergessen werden, dass es einen und genau einen großen Architekten des 20. Jahrhunderts gibt, der von Heidegger zwar nicht rezipiert wurde, und der dennoch erreichte, wovon Heidegger nur philosophisch träumte: Im Unterschied zu den Bauhaus-Architekten Gropius oder Mies van der Rohe hat sich Le Corbusier von der geometrischen Architektur entfernt, indem er orientalische und naturartige Formen (Muschelformen für Ronchamp) aufnahm. Eines seiner letzten, erst 41 Jahre nach seinem Tod fertig gestellten Bauwerke ist die Kirche im französischen Firminy (nahe St. Etienne), die an einen Windmühlenrumpf erinnern mag. Le Corbusier scheint zu erfüllen, was Heidegger fordert, nämlich eine Baukunst des Wohnens, die sich nicht auf geometrischen Raum gründet, sondern die lebensweltlichen Raum schafft. Le Corbusier entwarf Möbel, schuf Plastiken, schrieb und malte. Le Corbusier scheint der moderne Architekt mit der bisher größten Spannweite gewesen zu sein, der nichts von der Moderne opferte, sondern diese operational versöhnte mit gewachsenen Spannungsformen Natur.
Die Berliner Le-Corbusier-Ausstellung im Gropiusbau zeigt 2009 nachdrücklich die Entwicklung Jeannerets (Le Corbusier) vom - wie ich es nennen möchte - Geometristen zum «Polytopologisten» auf, erweist ihn zusätzlich als Innenarchitekten, Möbeldesigner, Dichter, Maler und Plastiker. Sigfried Giedion (Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition (1992) Artemis: Zürich, München, London, 30) warnt: Zwar sei Ronchamp Architektur als Plastik. Doch wehe, wenn dies in weniger fähige Hände gerät! Merkwürdige Warnung. Denn was geschah, als nicht mehr Gropius oder Mies van der Rohe in Glas und Stahl bauten, das kennt fast jeder aus eigener Anschauung auf der Nord- und Südhalbkugel des Globus.
Nun wird man einwenden: Das vieldeutige Heidegger-Votum ist wegen seiner Viel- und Schwerdeutigkeit überhaupt nicht geeignet, um jene Oligarchie zu neuen, gigantischen Repräsentationsbauten zu inspirieren. Heideggers Votum für ein wesenhaftes Wohnen ist architektonisch und politisch nicht operationalisierbar. Es sei zugestanden, dass es keine Bauanleitung darstellt. Doch wer die Rede der Architekten und der Architekturästhetik kennt, weiß, dass hier fast nichts operationalisierbar ist. Hier schwebt, schwingt, durchdringt, durchfließt alles alles. Daraus folgt: Je vieldeutiger ein philosophischer Architekturtext ist, desto mehr vermag er einzugehen in jenes Reden über das, was und wie zu bauen sei.
Doch wirklich allgemeingültig ist dieser Zusammenhang von Vieldeutigkeit und Rede über das zu Bauende nicht. Damit komme ich zu Nietzsche, der viel gezielter über Architektur und über eine künftige Gesellschaft redet als Heidegger.
Nietzsche, der – vielleicht - den US-Architekten Sullivan beeinflusste, bietet keine Architekturtheorie. Er zeigt jedoch mit zwei Aphorismen, dass er über eine hohe Sensibilität für Architektur verfügte. In «Menschliches, Allzumenschliches» I.218 beklagt er: «Wir verstehen im allgemeinen Architektur nicht mehr [...] An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich alles etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimme einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. - Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Dasselbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.» Hier wird Architektur wirkungsästhetisch mythologisiert. Das Bauwerk ist nicht rein ästhetisch als zur firmitas hinzukommende venustas (so Vitruv) aussagbar, sondern als etwas Numinoses, das ebenso anzieht wie erschreckt und zugleich erhaben ist. «Schönheit» hat als ästhetische Kategorie ausgedient und bedeutet Sterilität und Verschleierung. Hier mag man einhaken und notieren: Was Nietzsche hier von der Baukunst von einst behauptet, ließe sich das nicht instrumentell für eine Architektur von heute nutzen? Wozu, ist nicht schwer zu erraten: Für eine Architektur der Einschüchterung. Diese war nach übereinstimmendem Zeugnis der Literatur zur NS-Architektur eine Architektur der Einschüchterung. Auch eine Baukunst der internationalen Oligarchie könnte wieder Einschüchterung kalkulieren. Nietzsche macht sich nicht dafür stark, doch seine Mythologisierung des Gebäudes ließe sich so wenden.
Ein anderer Text – Morgenröte Nr. 169 – lobt wieder den erhabenen Zug der griechischen Architektur, doch diesmal, um es zu kontrastieren mit einer Baukunst, die zu uns passt: «Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) - so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein!» Das gehört zur Kritik der Kultur seiner Zeit, die kaum übertrefflich ist. Auch hat er Politmimen wie Mussolini und Hitler ein halbes Jahrhundert vor deren Erfolgen zu entzaubern verstanden mit zum Beispiel folgenden Sätzen: «Bei allen großen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswert, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Akte des Betruges unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in der Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der wirkungsvollsten Scenerie, überkommt sie der Glaube an sich selbst.» (MaM 52)
Trotz dieser immensen Fähigkeit zur Entzauberung derer, zu deren Berufsverständnis gehört, nicht entzauberungsfähig zu sein – es handelt sich um die Politiker – darf man sich nicht täuschen: Nietzsche erblickt in gleichen Rechten, in Klassen, in der Demokratie Hindernisse auf dem Weg zu einem Staats- und Gesellschaftsverständnis, das in keine andere Politkonzteption übersetzbar ist als eine faschismusartige. Die «Grundidee des Staates» sei «die Erzeugung des militärischen Genius.» Daraus folgt: «jeder Mensch, mit seiner gesamten Tätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewusst oder unbewusst, Werkzeug des Genius ist; woraus sofort die ethische Konsequenz zu erschließen ist, dass «der Mensch an sich», der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt.» ( «Der griechische Staat» 1872, Schlechta 3, 284f.) Dieser Ansicht – die nicht etwa elitär, sondern die menschenverachtender ist als alles sonst Bekannte, indem die Mehrzahl nur den Lebenssinn hat, sich einem fremden Willen zu unterwerfen, der sich als Genius nicht einmal zu legitimieren fähig ist – ist Nietzsche treu geblieben, und es ist erkennbar, dass seine Philosophie am Ende kein Sperrpotential gegen eine Aneignung durch den Italo- und Germanofaschismus besitzt.
Zum Abschluss noch ein Hinweis auf eine Bemerkung aus seinen Nachlassaufzeichnungen aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts: «Zeitweiliges Überwiegen der sozialen Wertgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird. - Maßstab der Stärke: unter den umgekehrten Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.» (Schlechta 3.562) Marx spricht von den Gesellschaftsinstitutionen als Überbau über den Eigentumsverhältnissen. Nietzsche von der Gesellschaft als Unterbau für eine stärkere Menschengattung. Beide verwenden also architektonische Metaphern zur Kennzeichnung der Gesamtgesellschaft. Von Nietzsche aus gesehen, gilt: Dort, wo Marx aufhört, geht es erst richtig weiter. Der Staat ist nur die Basis für höhere Menschen. Von Marx aus gesehen, gilt: Nietzsche lenkt ab von Klassen und Klassenherrschaft. Er will die Existenz von Klassen verdecken mit einer Rede von «Rangordnung», für die er keine Kriterien der Unterscheidung besitzt.
Ausblick auf den nicht unmöglichen Einsturz der neo-oligarischen Türme und Träume
Die internationale Politoligarchie wird versuchen, architektonische Akzente zu setzen, die so leuchtend sind, dass Staat und Gesellschaft als durchaus nietzscheanischer Unterbau für das Große und Glänzende erscheinen, was sich da erheben wird. Die 210-und-214-Meter-Minarette in Ed Dar el Beida und Algier leuchten ex oriente wie einst aus El-Andalus vor 800 Jahren. Doch der Verdacht, dass hier ein Überbau – Überbau besagte ursprünglich «illegitimer Bau» - errichtet wird, wird nicht nur nicht verschwinden, er wird anwachsen und alle oligarchischen Fantasien mit dem Wahnartigen konfrontieren, das sie beseelt.
Zwei Nachträge
Erstens, ein auch heute exakt demonstrierbares documentum architectonicum jener vom NS-Staat praktizierten Gleichzeitigkeit von gigantischer Repräsentation und Versorgung bildet eine vollständig erhaltene Einheit am südlichen Rand der Stadt Braunschweig. Dort nämlich findet sich eine Eingangshalle mit drei 12m-Säulen und zwei Reliefplastiken «Ehre» und «Treue» darstellend. Südlich davon liegen schieferbedeckte weitaus kleinere Wohnhäuser. Es handelt sich um die «Akademie der Jugendführung» (1937-1939), die als zentrale Akademie des Reiches zur Lehre der NS-Inhalte geplant war, wegen des Krieges jedoch nicht mehr in diesem Sinn genutzt wurde. Die Doppelfunktion von Repräsentation und Versorgung der Betroffenen ist unverkennbar. (Im Netz: Wikipedia, NS-Architektur in Braunschweig)
Zweitens
Kurd Alsleben begann die Diskussion am 29.7. mit der Frage nach den Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Architekten und Philosophen. Ich möchte hier wie folgt antworten: Ob sich Architekten und Philosophen treffen und diskutieren, dürfte noch wenig sagen über die intrinsischen Bezüge zwischen Architektur und Philosophie. Es ist sogar zu befürchten, dass auch diese Kommunikation unter das ungeschriebene Gesetz der Globalkommunikation gerät: das Gesetz von Beliebigkeit und Folgenlosigkeit.
Gibt es somit keine Syapsen zwischen beiden Aktivitäten? Es gibt sie, doch sie werden kaum genutzt. Ein Vitalbereich ist jene oben angesprochene Frage einer Räumlichkeit, die nicht mit dem geometrischen Raum identisch ist. Eine andere erblicke ich jener Nutzung architektonischer Metaphern in der Philosophie. (Vgl. Verf. Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie, 143-155, 194f.)
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