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Jammerprosa

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<font color="cc9900">Jammerprosa
<font color="339900">Jammerprosa
von Astrid Dahaba

Zur Thematik mit den Arbeitslosen: Ich sehe, dass die meisten Hartz IV-Opfer mit der Zeit ihren Elan verloren haben. Man hat Bewerbungen geschrieben und Hoffnungen gehabt. Nach jeder Enttäuschung hat man sich an seinem eigenen Schopf wieder herausgezogen. Nach zwei Jahren intensiven Bemühens hat das Spuren an Körper und Geist hinterlassen. Man muss sich ständig aufmöbeln und Ziele haben, ansonsten geht man unter. Ein Restposten an Würde versucht man zu erhalten.
Doch manchmal gibt es im Leben tiefe Phasen, wo man nur noch die Decke über den Kopf ziehen und die Fensterläden herunter lassen will und der Kühlschrank leer bleibt. Wo man im Haus nur noch mit der Jogginghose rumläuft, sich nicht mehr schminkt und morgens einen starken Kaffee braucht und abends eine Flasche Rotwein trinkt. Wo man klagt und jammert und niemand da ist, der einem hilft. Und die gutgemeinten Ratschläge erreichen dich nicht mehr, weil sie doch wirklich nicht weiterhelfen. Und der gute Freund spürt, dass er hilflos ist. Auch deswegen, weil er merkt, dass wir unser Geschick oftmals nicht in unseren Händen haben, sondern dass es von den gesellschaftlichen Umständen und politischen Entscheidungen bestimmt wird. Und irgendwann merkst du, dass du schwach und ohnmächtig geworden bist. Weil der finanzielle Existenzkampf dir all deine Kraft geraubt hat. Weil die Demütigungen der Arge dir den letzten Funken Energie und Würde ausgespieen hat.

Und in deiner Not wendest du dich weiter an Freunde. Du weißt aber, dass du nicht ewig jammern kannst, dann ziehen sie sich zurück. Du kannst nicht mithalten und in die Kneipe gehen, kannst nicht mit ins Theater oder ins Kino gehen und du siehst, dass sie in Urlaub fahren, dass sie im Beruf stehen, dass ihre Kinder wohl geraten sind und sie einen Partner haben, mit denen sie ihre emotionalen Geschichten aufarbeiten können. Sie erhalten Anerkennung im Beruf (wenn es gut läuft) und Zuwendung in der Beziehung (wenn es auch gut läuft).

Und dann wirst du zum Außenseiter. Dein Partner ist dein Fernseher, dein Kontakt zur virtuellen Welt ist dein Computer mit Internetanschluss, deine Gespräche führst du über das Telefon, deine Begleitung zu Behörden und Supermärkten sind Bus und U-Bahn. All das kostet Geld. Dann hast du mit anderen Fixkosten nur noch 225,- Euro zum Leben - einen Monat lang!

Dann siehst du, dass deine Haare struppig und glanzlos aussehen, weil du dir einen guten Frisör nicht mehr leisten kannst, dann läufst du in Klamotten herum, die schon bessere Tage gesehen haben. Dann wirst du immer dicker, weil du nur ständig die Aldi- oder Penny-Produkte in Folien geschweißten Verpackungen kaufen musst, um zu überleben. Das Essen hängt dir zum Hals heraus. Aus Frust isst du nur noch die ungesunden Sachen. Irgendwann magst du auch nicht mehr kochen und an Markttagen gehst du mit gebeugten Schultern an den bunten und frischen Obst- und Gemüse-Ständen vorbei. Dann ist dein Selbstwertgefühl auf dem Nullpunkt angelangt. Dann bist du nach gesellschaftlichen Maßstäben unansehnlich und nicht hoffähig geworden.

Und die Freunde führen ihr eigenes Leben weiter. Manchmal ist dies auch an einem seiden Faden aufgehängt. Sie müssen sich um sich selbst kümmern.

Irgendwann fängst du an, bunte Kreise zu malen.

Diejenigen, die noch ein finanzielles Polster haben und/oder in einer Beziehung gut verbandelt sind, haben besserere Karten. Und auf diesen sind die Kreise schon gedruckt. Ihr Habitus ist ein anderer. Deshalb haben sie auch die Energie, weiterzuarbeiten und an dem gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Und die anderen ...</font color>




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<b>Astrid 06 Febr 06</b>
Ich versuche eure Aussagen auf das für mich Wesentliche zusammenzufassen: Die Kunst kann eingreifen, um einen Dialog wiederherzustellen; Werte können überdauern oder sie sind flexibel; zu jedem Argument gibt es ein Gegenargument; sein Wissen und seine Leidenschaft als Wert für die Gemeinschaft weitergeben; wir haben ein kulturelles Projekt vor uns ...

Gerade in der Auseinandersetzung innerhalb der beiden Parteien zeigt es sich, wie unterschiedlich hier die Herangehensweisen der zwei "Fraktionen" ist. Immer wieder dieser Streit. Oder nehmen wir den Konflikt mit den islamischen Fundamentalisten. Im Großen oder im Kleinen: Es gibt kaum Bemühungen, den gemeinsamen Nenner zu finden. Die meisten Protagonisten bestehen auf ihren ureigenen Blickwinkel auf unsere Welt. Dessen Werte religiös, politisch oder sonst wie geprägt sind.

Zitat von Kurd: Hannah Arendt berichtete 1945, dass die Deutschen keine Realitätswahrnehmung mehr hätten und nur den wechselnden Parolen folgten.
Genau dies passiert jetzt wieder: Es wird gesagt, dass der Staat sparen müsse, und zwar auf Kosten der Armen. Es gibt bestimmte Denkmuster, die wiedergekäut werden, von Politikern und Medien. Kaum jemand verlässt diese Parolen und versucht selbst neu zu denken. Nach Hannah Arendt bedeutet Freiheit: ein Denken ohne Geländer. Das bedeutet auch: Bin ich frei, besteht die Gefahr abzustürzen.

Hannah Arendt hat faschistische und kommunistische Systeme untersucht und ein gemeinsames Wesensmerkmal entdeckt: Es gibt ein Bündnis von Mob und Eliten.
Im kapitalistischen System nennt man das neudeutsch: Lobby. Die Herrschaft bestimmt unsere Sichtweise und den Blick auf die Gesellschaft. Genauso wie wir Frauen oftmals von männlichen Denkschablonen und Verhaltensweisen geprägt werden.

Wenn Politiker das Wort Freiheit in den Mund nehmen, dann bedeutet das Ausbeutung. Millionen von Menschen leben unter dem Existenzminimum und aufgrund der Arbeitslosigkeit werden es immer mehr.

Eine Freundin sagte letztens:
Ich glaube, dass die Menschenliebe in unserer Gesellschaft auf der Strecke geblieben ist, was vieles erleichtern würde. So aber schotten sich viele ab, da sie Angst vor ihren Ängsten haben und sind dann auch blockiert, anderen zu helfen. Wenn ich z.B. Eberhard einlade, kommt immer sein Spruch: Ich kann mich doch von dir nicht aushalten lassen! Was für ein blöder Stolz! Ich habe immer geholfen, das gibt mir doch auch ein Stück Menschsein, aber so ist unsere Gesellschaft gepolt.
Selbstdenken produziert: Fass dich selbst am Schopf.

In diesem Sinne habe ich eine Jammerprosa geschrieben, die ich euch in der Anlage beigefügt habe. Ich würde mir wünschen, wenn es euch inspiriert, mit mir zusammen ein künstlerisches Projekt zu entwickeln.
Viele Grüße, Astrid
<b>Kurd 29 Jan 06</b>
Ich denke es mir so: wenn man einem seine Meinung sagt, dann bedeutet das doch, ihm mit Nachdruck die eigene Wertung, die eigenen Werte, klarmachen zu wollen.
Bestimmt hat man eine Skala von überdauernderen bis flexibleren Werten.
Die herrschende Meinung kann ich als mehr oder weniger eigene Meinung erkennen - anders wäre man unendlich allein.
Aber wohl jeder bezweifelt sie auch ein bisschen oder stark - ein glückliches Gefühl erfüllt einen, wenn sozusagen keine Zweifel sind (bei mir war das in den 60ern mit der Kybernetik).
Neulich früh, wir wohnen parterre, war ich dabei Schnee wegzufegen, dabei sprach mich ein vier Jahre älterer Fussgänger an: Er war in Russland in Kriegsgefangenschaft, Ruhr, alles überstanden - Kopfschuss gehabt, sein Oberst hatte “Halsschmerzen“ (wünschte sich das Ritterkreuz) und schickte einen Stosstrupp: er war nur noch alleine bis nahe an das Maschinengewehrnest rangerobbt, konnte Handgranaten 30m weit werfen, hörte Schreie, hatte es geschafft, bekam Kopfschuss, beim darauf folgenden Angriff wurde er gefunden; der Professor sagte, Junge wir müssen dich operieren, nachher kannst du keinen Stahlhelm mehr tragen - bloss in Schreibstuben und Ordonnanzen oder Propaganda-Kompanie, das war nichts für mich, schliesslich schaffte er es wieder an die Front, noch zweimal verwundet, bloss Fleischwunden, was heisst bloss, …
Die derzeit herrschende Werte haben sich seinen damaligen wohl genähert, glückliches Gefühl kam vielleicht in ihm wieder auf und liess ihn erzählen.
Hannah Arendt berichtete 1945, dass die Deutschen keine Realitätswahrnehmung mehr hätten und nur den wechselnden Parolen folgten.
Otto Laible, mein Professor in Karlsruhe sagte: „Und wer denn gar nichts mehr zustande bringt wird Marinemaler“ (wobei ich mich damals fragte, ob es denn so leicht sei, Wellen zu malen).
Aber natürlich bedeutete es sozusagen, dass Wilhelm II Propagandaaufträge vergab - die Stelle erlaubt, das Wort von der herrschenden Meinung, die die Meinung der Herrschenden ist, anzuführen.
Herrschende Meinung ist demnach (über alles Vorstellbare hinaus) von Mächtigen konstruierbar.
Etwas Seltsames habe ich über die Jahrzehnte beobachtet, auch an mir, das ist eine deutliche Anziehungskraft des neuesten oder des ‘irrealen Trends‘ (in der Grammatik gibt es den ‘Irrealis‘, zB. „Wenn ich ein Vöglein wär“; aktiver Nihilismus, Hoffnung auf die Situation oder Lage nach dem totalen Zusammenbruch).
Ich meine auch, wir sollten uns selbst um die (dynamischen) Werte von uns bemühen.
Und nochmal, weil es zu jedem Argument Gegenargumente gibt, glaube ich, reicht hierbei logische Vernunft nicht aus - wir haben also ein kulturelles Projekt vor uns und gewiss beide Parteien gemeinsam.
<b>Judith 24 Jan 06</b>
Liebe Astrid, lieber Kurd, seid erstmal herzlich gegrüßt, nun versuche ich mich auch mit einzubringen in eure Diskussion.
Ich denke dass Werte etwas sich stetig Veränderndes sind, wie auch wir Menschen uns stetig verändern. In jeder Sekunde wird unser Gehirn neu umgebaut und jeder Augenblick, ob vor dem Fernseher verbracht oder mit Menschen im Gespräch verändert uns.
Insofern ist es außerordentlich wichtig welchen Input wir uns leisten, denn jeder Werbespot und jeder Film, aber auch jedes Gedicht und jedes Bild verändert mich. Wir sollten uns in der Gesellschaft wieder der Brisanz dieser Tatsache stellen, und nicht weiterhin oft wahllos
konsumieren.
Werte ergeben sich in einem auf Gemeinschaft basierenden Gesellschaftssystem mit funktionierenden kleinen Untereinheiten, in dem der Dialog eine Grundvoraussetzung ist.
Hier kann Kunst eingreifen, den Dialog wieder herstellen, nicht stellvertretend für die andren denken, urteilen oder verurteilen.
Daher begrüße ich Kunst, die im Dialog (übrigens nicht nur zwischen Menschen, sondern auch wie Harald Finke zwischen Mensch und Natur) wirkt, direkt und vor Ort ist. Besonders eindrucksvoll fand ich die Galerie im Schaufenster von Christopher Hellmann, in Kiel Garden,
in einem konfliktreichen Stadtteil mit armer, meist wenig gebildeter Bevölkerung. Hier blieben die Stadtteilbewohner vor den wechselnden Ausstellungen stehen und unterhielten sich über die Kunst, miteinander, kamen aber auch bei der Neuinstallation direkt in den Laden und fragten nach ohne Hemmschwelle. „ Was soll das denn nun wieder?“ So können Grenzen,
Sehgewohnheiten, Akzeptanzprobleme überwunden werden. So können Werte wieder lebbar gemacht werden.
Denn ich denke, dass die meisten Werte unstrittig sind, wie z.B. die Menschenrechte, aber wer lebt sie und in welcher Konsequenz?)
So wünsche ich mir Kunst, offen, direkt und vor Ort. Nicht nur in ausgesuchten Tempeln der Kunst, aber ruhig auch da. Kunst sollte so vielfältig wie möglich sein.
Meine Idealvorstellung einer Gesellschaft lehnt sich an die balinesische Kultur an, in der jeder, ganz im Sinne Beuys’, ein Künstler ist.
Die Hälfte des Tages verbringen sie auf gemeinschaftlich geführten Feldern oder entsprechend zum Erwerb und die andere Hälfte verbringt jeder mit der Kunst. So kann ein jeder sein Talent im Singen, Tanzen, Malen oder Maskenschnitzen, entsprechend vielfältiger könnte es in unserer Kultur sein, entwickeln.
Teil dieser Kunst ist, sein Wissen (Fertigkeiten), seine Leidenschaft und den Wert für die Gemeinschaft an die Jugend weiter zu geben.
What a beautiful world.
in dem Sinne alles Gute Judith

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