Autor: Bernhard Taureck | |
Filmnotizen © taureck Das Kraken-Haus oder die gelebte Utopie Film: Vincenzo Terracciano, Ribelli per caso, 2001. Krankenzimmer in einem Krankenhaus, das eher ein Kraken-Haus ist mit der üblichen Entehrung, Missachtung des Aufklärungsrechts der Patienten, Verordnung von kaum essbarer Diät. Der Film ist anfänglich hyperdokumentarisch, Ästhetik light, Interessegehalt 0% wie im Sortiment der Fromages blancs für Übergewichtige. Vorsicht! Der Betrachter ist nämlich selbst ein Patient geworden, er findet keinen Ausweg mehr aus der Entmenschung infolge medizynischer Niedertracht. Dann das Erwachen, die Revolte als Geheimessen hinter von innen verschlossener Stahltür. Ohnmacht der Feuerwehr, der Polizei, Forderungen der Revoltierenden. In diesem Strom eine Liebesromanze zwischen Lehrer und Krankenschwester, die als nur gespieltes Ablenkungsmanöver vor deren Gang in die Küche begann. In diesem Strom die Lebensgeschichte eines Mannes, der mit der Nachricht einer Krebskrankheit im inoperablen Stadium zu sich findet, der Medizyn die Stirn bietend. (Er hat nicht zu sterben gelernt, er hat aus der Garantie des verkürzten Lebens selbstbestimmter zu leben gelernt.) Das Ende eine Verwandlung des Kraken-Hauses in Tanz und Tanzrhythmus, eine utopia vissuta. Herr Lehmann (Leander Haussmann), oder: Vom Leiden des deutschen Films Westberlin 1989, die aus Kneipenstatisten bestehende psychosoziale Infrastruktur des Westens. Im Zentrum das wortfähige Individuum Frank, genannt "Herr Lehmann", liebes- und freundschaftsfähig. Eine Liebesbeziehung scheitert, ein Freund, ein in Eisen arbeitender und vom Kneipendienst lebender Bildhauer erleidet kurz vor seiner Ausstellung einen Nervenzusammenbruch. Als Lehmann sich an seinem 30.Geburtstag wegen dieser Psychose und wegen seiner gescheiterten Beziehung am Tresen besäuft, wird die Mauer geöffnet. Die Vereinigungsfeier nimmt die Züge der Besäufnisse des Westens an. Lehmann verbrüdert sich mit einem großen Hund, der Whiskey mag. Das Allgemeine ist zerstört. Im Westen hat es dem Alkohohl – Drogen werden wegen ihrer Kriminalisierung gemieden - Platz gemacht, im Osten wird es von sprachperfektionistischen Volkspolizisten parodiert, bevor das System in den Whiskey-Westen ausläuft. Frank Lehmann ist ein des Allgemeinen fähiges Individuum. Indem er geduzt und gleichzeitig "Herr Lehmann" genannt wird, ist er als homo generalis markiert. Doch das Allgemeine bleibt aus. Der Einbruch der Historie in das Private erweist sich als Privatisierung des Historischen. Diese wichtige Botschaft wird in ihrer kulturellen Sterilisierung gezeigt, weshalb der Film bedeutsam ist. Der Film geht zu viel Kompromisse mit vermeintlichem Realismus ein. Die De-Generalisierung des Sozialen wird nicht perspektiviert, sondern als unmittelbar abbildbar suggeriert. Das ist vermutlich das Leiden des deutschen Films der Gegenwart: Nirgends wird das Filmische Gegenstand und als Gegenstand genutzt. Man glaubt an Sozialkritik und gibt mit der ungebrochenen Abbildbeziehung von Geschehen und Kamera ein unerschüttert biederes Ordnungsmuster vor. Eine Chance zur medialen Dekonstitution deutet sich an, wird aber vertan: Lehmann greift der Köchin Wort "Lebensinhalt" als Metapher auf, wonach das Leben bloß ein Gefäß sei. Hier hätte der Film zum filmischen Takeoff ansetzen und die furchtbare Diagnose der Privatisierung des Historischen – die deutsche Wahrheit über Deutschland – transrealistisch verallgemeinern können. Doch vielleicht ist die Verweigerung auch Methode: Um das Mögliche in seiner Ungenutztheit anzudeuten. 1789 von Ariane Mnouchkine Ariane Mnouchkine hat 1973 ihre 700malige Inszenierung der 1789-Revolution im "Théâtre du soleil" in einen Film transponiert, der nicht einmal in einer Fassung mit Untertiteln in Deutschland gezeigt wurde. Vielleicht haben Deleuze und Guattari Recht, wenn sie bemerken, dass man sich in Deutschland vergeblich bemühe, die Révolution zu verstehen. Und was hat man in diesem Lande nicht alles versucht: Goethes misslungenes und am liebsten verschwiegenes Drama "Die natürliche Tochter", Schillers Pathosgeste des Zurückweichens, Büchners "Dantons Tod", Peter Weiss’ Sade-Marat-Stück. Der 1789-Film erreicht durch häufige Marionetten, durch farceartige, zirkusartige Darstellungsweise einen maximalen Realitätsgehalt. Die von ständiger Konterrevolution bedrohte Emanzipation wird durch Verfremdung echter und deutlicher als in pseudo-realistischen Filmen. Das übertriebene Pathos gibt dem echten Affekt der Teilnahme Raum und wir folgen dem Wort Marats, die Volksaufstände (les émeutes populaires) haben die Konterrevolution verhindert. Soviel Leidenschaftlichkeit ist hier zu Lande niemals für Emanzipation, sondern für Rassismus mobilisiert worden. (Nur der alte Kant hat sich zu einer Zeit, als sich alle von der Revolution abwandten, insbesondere Schiller und Goethe, in seinem Königsberg zu den Zielen des Jakobinismus bekannt!) Und es bleibt hier offensichtlich unverständlich, wie es überhaupt möglich ist, Emanzipation mit Begeisterung zu verschmelzen. Das ist die Wurzel unserer politischen Armut. Ein Derrida-Film als negative Theologie des Deutschen Wieder ein Film über Derrida (von Kirby Dick und Amy Ziering Kofman, Musik von Ryuichi Sakamoto, USA 2002). Derrida in Paris und in den USA, Derrida in French and Derrida in English. Einblicke in das Privatleben, Bilder seiner Frau Marguerite mit ihm, Bekanntschaft 1953, Heirat 1957 in den USA. Ob er sich selbst einer Psychoanalyse unterzog? Nein. Von einem Nervenzusammenbruch ist die Rede, von le futur, das sein und l’avenir, das kommen wird. Was er Hegel oder Heidegger fragen würde? Über ihr Sexualleben, das sie verschweigen und über das wir nur durch andere Hinweise haben; auch das seine würde er nur dissimuliert mitteilen. Und über die Liebe? Das könne er im Allgemeinen nicht beantworten. Da habe man schon genauer zu fragen: Wer oder was? Werde jemand als Einzelner oder werden Qualitäten geliebt? Und so fort, Dekonstruktion, träumender Bildrhythmus, Neugier, die sich bricht wie eine klimaänderungsbedingte Brandung an Felsen. Beachtlich noch und leicht verwehend im Rhythmus der Opsis: Er – der mit fünfzehn Jahren einen Roman über einen Räuber schrieb, der seine Beute zurückbrachte – er vermöge eines nicht: Er vermöge nicht zu erzählen! Wenn irgendwo die différance, die Verschiebung/Verschiedenheit in seinem Leben wurzelt, dann und genau dann hier. Weshalb? Weil Erzählen nicht Verschiebung, sondern Ankündigung und Erreichung, Einlösen des Angekündigten ist. Wer einen nicht-narrativen Bezug zu seiner Welt hat, für den steht alles aus und kommt oder kommt nicht. Das indirekt Mitgeteilte oder das sich vermutlich ganz unbeabsichtigt Mitteilende ist jedoch etwas gänzlich anderes: Es gibt ein Jenseits zu diesem Gemisch aus amerikanischem Englisch und Französisch. Etwas, auf das Derrida ständig verweist und im Hinblick auf welches die Bilder und Interviews nur schwankende Gestalten sind. Was ist es? Es sind die Deutschen Heidegger, Hegel und Freud. Ohne sie verblasste der Film zu unverbindlichem Smalltalk, zu müdem Humor, zu Fragmenten, zur Flüchtigkeit des Fließens einer imaginären Zeit, mit dem er beginnt. Die Deutschen aber werden nicht zitiert. Zitiert wird Derrida in episierenden Kola und in englischer Übersetzung. Das Deutsche kann in einer anglophonen Welt, die das Französische nur insoweit zulässt, als der Franzose zugleich auch Englisch spricht, nicht erscheinen. Es ist ausgeschlossen. Indem auf es als Ausgeschlossenes jedoch beständig verwiesen wird, erhält es die Stellung einer unaussprechlichen Göttlichkeit oder eines Stellvertreters dafür. Der Streifen produziert eine Mystifikation deutscher Philosophie, eine negative Theologie einer nicht als Sprache erscheinenden Sprache. Derrida selbst zitiert Deutsch, man vergleiche Sauf le nom, sein Text über Angelus Silesius, mit deutschen Texten. Europäische Sympathiegemeinschaft im Kleinen L’auberge espagnole. Barcelona für ein Jahr, 2002 von Cédric Klapisch. Xavier will sein finales Ökonomie-Studienjahr im Erasmus-Programm in Barcelona beenden, um dann im Ministerium zu arbeiten. Sein Weg durch die Korridore der Bürokratie wird zeitgerafft und durch Bildparzellierung verfremdet. In Barcelona gerät er in eine paneuropäische WG mit KommilitonInnen aus Andalusien, Belgien (die lesbische Belgierin zeigt ihm, dass die Frauen zunächst nicht Schwänze (les bites), sondern zupackende Zärtlichkeiten wollen), Italien, Dänemark, Deutschland und England. Alle sprechen natürlich Englisch, die Engländerin jedoch oder selbstverständlich nicht eine andere Sprache außer der eigenen, die sich wiederum ganz anders anhört als das, was die anderen für Englisch halten. Unsere Sympathien werden jedoch so gelenkt, dass wir alle in der WG mögen. Als Xaviers Mutter aus Paris anruft und fragt, ob ihr Sohn in der Universität sei (à la fac?, im Populärfranzösisch), kann die irritierte Engländerin nur "à la fuck ?"(ist er zum Ficken?) verstehen. Bissig werden die USA in Gestalt eines Sex als Clownerie verstehenden Amerikaners verhöhnt. Doch es geht gar nicht um Europa. Es geht darum, dass unsere Kultur auseinanderbricht in eine kommunikative Sympathiegemeinschaft im Kleinen und den Zielverlust des Einzelnen in der Maschinerie eines künftigen Berufs. Mehr noch: Als Xavier seinen Beruf sogleich wieder verlässt, um Schriftsteller zu werden und seine Barcelona-Erfahrungen niederschreibt, schleicht sich der Eindruck ein, dass sie unwiederbringlich sind. Ästhetisch gewertet, erreicht Klapisch so eine Selbstbezüglichkeit seines Films, eine Andeutung von Unwiederholbarkeit. Kleine Entstehungsgeschichte unserer Kultur Hors saison 1994 von Daniel Schmid. Ein Mann Mitte dreißig besucht die alte Gabrièle, einst Dame im Kiosk des Grand Hôtels seiner Großeltern, die ihn mit Mickey-Maus-Heften versorgte und ihn bittet, die gesammelten Hefte aus jenem Zimmer mit Meerblick zu retten, bevor das Hotel abgerissen wird. Im verlassenen Hotel leben Erinnerungen auf. Man tanzte hier nach Rhythmen des Rumba und deutschen Schlagern. Die blonde deutsche Sängerin und ihr Pianist träumen von einem Engagement auf einem Ozeanriesen. Eine russische Anarchistin erschießt einen Mann, den sie fälschlich für den französischen Außenminister hielt. Die katholische Mamsell seiner Großmutter nimmt den Kleinen zu einer weihrauchqualmenden lateinischen Messe mit. Seine Großmutter holt den Kleinen dort heraus, entlässt die Mamsell, die in Trunksucht verfällt und die Flammen der Hölle gegen die Großmutter beschwört. Eine andere Katastrophe ereignet sich im Londoner Ritz-Hotel zu der Lehrzeit des Großvaters. Die Schauspielerin Sarah Bernardt verlangt von dem Großvater, der damals ihr Kellner war, eine exakt zu wiederholende räumliche Aufstellung von Geschirr, Getränken und Speisen auf dem runden Einzeltisch, an dem sie speist. Ein anderer Kellner bringt diese Ordnung eines Tages durcheinander, worauf hin Sarah Bernardt in einem hysterischen oder gespielt hysterischen Anfall in wohl gesetztem Französisch das Hotel in Angst und Zittern versetzt. Für Sekunden beobachtet der Kleine durch das Schlüsselloch, wie sich die Belle dame des Hotels entkleidet: Er erwartete nicht, das zwischen den Beinen einer Frau Fell sei. Der Film wird mit einer Art Fast-Margritte-Bild beendet: Ein Fenster öffnet sich, der Schattenrücken des Mannes tritt an es heran, und das Alpenhotel gibt den Blick frei auf das Meer. Indem dieser Film nicht etwa ein Suchen nach Erinnerungen ist – dieses Thema ist doch so öd im Film - , sondern das Erzählen von etwas, was sich nicht als Geschichte erzählen lässt, gibt er uns eine kleine Entstehungsgeschichte unserer Kultur, der des Abrisses dieser Art von Hotel, des Zusammenseins von Unzusammenhängendem, die Unfähigkeit sich zu erinnern und das Gefangensein im Halbvergessenen. |
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