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Kritik der Warenästhetik

bezeichnet primaer das Aesthetische von Waren, insofern dieses von der Funktion, den Wert der Waren zu realisieren, bestimmt ist. Darunter ist also nicht einfach die sinnliche Gestaltung eines Produktes zu verstehen, sondern die zusaetzlich, zur Erhoehung der Verkaeuflichkeit produzierte Erscheinung derselben. – An diese Kernbedeutung schliessen schliessen sich weitere Fragen an: die nach der >Kommodifizierung< des Kulturellen (>Kulturindustrie), der Auswirkung auf individuelle Selbst- und Fremdverhaeltnisse sowie auf das Aesthetische der Kunst.
//1. Die analytische (nicht empirisch-sinnliche) Unterscheidung von Warenästhetik und Produktästhetik basiert auf der von Adam Smith klassisch geprägten und von Karl Marx kritisch weitergeführten Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert als den beiden Bestimmungen der Ware. Ökonomisch dominiert dabei die Tauschwert- oder Wertseite. Der in den Warenkörper gebannte Wert muss "erlöst" (realisiert) werden. Anders wird die Ware zum "Ladenhüter". Aus diesem für die Warenproduzenten existenzwichtigen Realisationsproblem entspringt die Warenästhetik.
Der Verkäufer bemüht sich, wie Goethe sagt, >seine Waren [...] in dem besten Lichte vorzuzeigen [...,] dahingegen der Käufer immer mit einer Art Unschuld hereintritt [...]. Jener weiß recht gut, was er gibt, dieser nicht immer, was er empfängt. [...] alles Kaufen und Tauschen beruht darauf. (Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2.4) Gerade weil die Warenästhetik eine Funktion der Tauschwertseite ist, dominiert in ihr die Erscheinung des Gebrauchswerts. Sie tut dies vor allem Verkaufsgespräch und aller Werbung im Modus eines Erscheinungsüberschusses am Warenkörper. Die Gebrauchsgestalt wird zur Trägerin eines zusätzlichen Versprechens mit ästhetischen Mitteln. Die Seinsweise des ästhetischen Gebrauchswertversprechens lässt sich mit dem Oxymoron (Widerspruchsbegriff) einer ästhetischen Abstraktion beschreiben.
Was den Käufer bewegt, Geld für die Ware auszutauschen, ist deren Gebrauchswert. Doch dieser hat es nötig, realisiert zu werden, er >verwirklicht sich nur im GebrauchDie Waren müssen sich [...] als Werte realisieren, bevor sie sich als Gebrauchswerte realisieren können. Andrerseits müssen sie sich als Gebrauchswerte bewähren, bevor sie sich als Werte realisieren können.vergessen< und unaufgelöst liegen zu lassen. Er verschiebt die Frage auf einen weiteren Widerspruch, der darin liegt, dass jeder Warenbesitzer nur für sich handelt, indem er nur für andere produziert. >Aber derselbe Prozess kann nicht gleichzeitig für alle Warenbesitzer nur individuell und zugleich nur allgemein gesellschaftlich sein.q8/101 Diese zweite Aporie löst Marx auf, indem er den Begriff der >allgemeinen Äquivalentware als genetische Vorstufe des Geldes einführt. Die Äquivalentwareq8/109) – etwa Gold – ist einerseits besonderer Gebrauchswert andererseits immer in Form unmittelbarer Austauschbarkeit und steht so für die Gesellschaftlichkeit der Privatprodukte. Später übernimmt unter bestimmten Rahmenbedingungen Papiergeld diese Funktion.
Aber wie steht es mit der ersten Aporie? >Die Umgangssprache gibt die Antwort [...]: Der Käufer kauft eine bestimmte Ware, weil er sich von ihr den gewünschten Gebrauchswert verspricht.< q7/44 Was den Kauf auslöst, ist das Gebrauchswertversprechen. Dieses weist zwei Pole auf: den einer subjektiven Aktivität und den objektiver Erscheinungsdaten, die jene motiviert und deren Deutung zusätzlich intersubjektiv beeinflusst werden mag (z.B. durch das >Verkaufsgespräch).
Die Tauschbeziehung ist nun aber antagonistisch. Im Wortsinn des griechischen antagonízomai ist Tauschhandeln immer auch >Gegenhandeln<, insofern die Tauschenden entgegengesetzte Interessen vertreten. Das Gebrauchswertversprechen erhält in diesem Antagonismus die Funktion eines Machtmittels des Imaginären, das an Illusion oder sogar Täuschung grenzt. Bei der Täuschung wird die Erscheinung eines Gebrauchswerts zum täuschenden Schein, zur trügerischen Illusion verselbständigt. Der andere soll den Schein für Sein halten und darauf hereinfallen. Täuschung realisiert sich als Selbsttäuschung. Mythen und Märchen stecken voller Gestalten, die solche Verhältnisse darstellen. Der >Wechselbalg hält etwas vom stets lauernden Täuschungscharakter des Tauschens fest. Im Lateinischen drückt sich dies in der gespaltenen Semantik der alienatio (Wegtauschen und Entfremdung) aus; im Deutschen deutet die Wortgemeinschaft von Tauschen und Täuschen darauf hin. Die griechisch-römische Antike stellt den Zusammenhang von Tauschen und Täuschen in der Personalunion des personifizierten Tauschens und Täuschens in der Gestalt von Hermes bzw. Mercurius (von merx, Ware) her, der zugleich Gott der professionellen Tauschakteure, der Händler, und Gott der Diebe ist. Schein und Sein
//2. Wirkungsweisen. – Täuschung ist Betrug, als solcher zwar weitverbreitet, aber doch immer nur >Auswuchs<. Wichtiger ist die Normalform. Die Täuschung, die kein Betrug ist, spielt im Imaginären. Der Sinnlichkeit wird von den Waren oder in Verbindung mit ihnen ein ästhetischer Spiegel vorgehalten. Der archimedische Punkt der Warenästhetik liegt nicht in den Waren, nicht in deren Gebrauchswert, sondern in den Bedürfnissen. Die Bilder, auf welche Bedürfnisse ansprechen, >kommen an. Statt von einem archimedischen Punkt kann man deshalb von einer archimedischen Ellipse der Warenästhetik sprechen: sie läuft um den Warenkörper herum. Ihre beiden Brennpunkte liegen außerhalb desselben: den formell organisierenden Brennpunkt bildet das Verwertungsinteresse, den materialen das Ensemble der Begierden, die im Menschenmaterial brennen. Alles dreht sich ums Subjekt. Aber das Subjekt ist nur Umwelt des Systems, das sich in sich selbst dreht. Darum ist die Zentralität des Subjekts imaginär oder das Imaginäre des Subjekts wird zentral.
Wie jede Strategie kann aber auch das strategische Imaginäre der Warenästhetik sein Ziel verfehlen. Diese intentionale Beschränkung wird durch das vom Feed back des Erfolgs (des Ankommens) oder Misserfolgs gesteuerte periodische Recycling der warenästhetischen Gebilde überwunden. Brecht hat in diesem Sinn die Kinokasse mit dem Filmkritiker verglichen: >Als richtig gilt, was schon einmal fotografiert wurde und ‘durchging', als gut, was ein Honorar erhöhte. (AJ, 2.12.41) Es genügt, dass die Marktakteure an ihrem Gewinnmaximierungsprogramm festhalten, damit dieser permanente Selektionseffekt die Wucht eines subjektlosen Prozesses erhält.
//3. Als Trägerin des Gebrauchswertversprechens liegt die ästhetische Abstraktion vielen verkaufsrelevanten Techniken zugrunde: der Oberflächengestaltung des Warenkörpers, der Repräsentation desselben auf der Verpackung und seiner Dekoration in der Auslage, seiner Situierung im Werbebild und Inszenierung im Werbespot oder in der Schleichwerbung usw. Die ästhetische Abstraktion der Ware wird damit zur Voraussetzung für die ästhetische Besonderung eines Gutes, auf die eine Firma Eigentumsrechte erheben kann. Eines der berühmten klassischen Beispiele ist der Einfall eines Mundwasserfabrikanten, Karl August Lingner, vor hundert Jahren, den Hals der Fläschchen, in denen sein Produkt verkauft wurde, auf eine eigentlich unsinnige Weise umbiegen zu lassen, also eine von der allgemeinen Flaschenform markant abweichende besondere Flasche zu schaffen. Die Serien- und später Massenware Automobil normalisierte sich sogleich als derartiger Markenartikel, dessen körperliche Erscheinung zugleich den Gebrauchswert und die Marke darstellt. Eine derart besonderte Gebrauchsgestalt im Besitz eines Unternehmens stellt ein ästhetisches Gebrauchswertmonopol darq6. Für die Verbindung von ästhetischer Besonderung und sprachlichen Zeichen mit Namenscharakter sind im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sukzessive Schutzgesetze geschaffen worden, die das Eigentumsrecht an Wörtern und Gestalten begründeten.
Das ästhetische Gebrauchswertmonopol gibt seinem Eigentümer zwei neuartige Möglichkeiten: 1. die der Monopolpreisbildung, 2. die der Regeneration der Nachfrage. Letztere, die als >geplante Obsoleszenz (Packard) beschrieben worden ist, lässt sich genauer als ästhetische Innovation einer Ware fassen, welche die ästhetische Veraltung (ästhetische Obsoleszenz) der noch fungierenden Produkte bisheriger Gestaltung bewirktq6/26ff; q7/114ff.
//4. Was der ästhetischen Innovation-Veraltung entgegendrängt, ist die Lust am Neuen und das Verlangen nach Distinktion, gefolgt vom massenhaften Konformismus der Distinktion, dem die Lust an dieser wiederum zu entspringen sucht. Dieses Verlangen setzt folgenden Zyklus in gang und unterwirft sich ihm selbst: Jede attraktive besondere symbolisch-ästhetische Unterscheidung wird gefolgt – oder besser: verfolgt – von einem massenhaften Konformismus der Distinktion, genannt allgemeine Mode. Dem massenhaften Konformismus der Distinktion sucht die Lust an der ästhetischen Unterscheidung wiederum zu entspringen.
Dieser Prozess modelliert nun ständig die warenästhetisch angesprochenen Bedürfnisse. Die Angebote sind nicht einfach Antworten auf die Bedürfnisse, sondern stellen gleichsam deren Fragen um. Jedes Verlangen wird als Nachfrage auf dem Markt 'verstanden' und auf etwas Käufliches bezogen. Der Überschuss aber, der in den Einkaufsrechnungen nicht aufgeht, kommt zwar nicht zu seinem Recht, wohl aber zu seinem Ausdruck (um einen berühmten Satz von Walter Benjamin abzuwandeln). Indem das Wünschen auf Waren bezogen wird, wird der Ausdruck des Wünschens als imaginäre Wunscherfüllung in die Ästhetik dieser Waren gezogen. Dabei wird er von Spezialisten durch alle erdenklichen Filter und Verstärker gejagt und so ins Bedürfnis zurückgespeist.
//5. Die Warenästhetik verhält sich parasitär zu aller Kunst wie überhaupt zu allen symbolischen Formen und ideologischen Mächten. Indem sie von ihnen zehrt, zehrt sie deren Möglichkeit auf. Sie wird zur ästhetischen Parodie im Sinne der >Verwendung von Formen im Zeitalter ihrer Unmöglichkeitin den Zufall ... als desperate Antwort auf die Ubiquität des Scheinsdass er den ursprünglichen Gestus des Sprechens wiederhergestellt hat< unter der Bedingung fortwährenden Angesprochenwerdens über die Medien, dass er >mit dem durch diese Mittel geprägten Menschen rechnet und nun gegen diese Mittel andichtet.
//6. Die Digitalisierung des Scheins hat die Produktivkräfte der Warenästhetik qualitativ gesteigert. Zugleich hat eine Entgrenzung der Warenästhetik in die Welt des unterhaltenden Scheins stattgefunden. "Promotionale" Züge haben sich tendenziell über alle gesellschaftlichen Lebensbereiche und Beziehungsweisen ausgedehntq9/301ff).

Wolfgang Fritz Haug

q1 Adorno, Th.W., 1961, Noten zur Literatur, Bd. II, Frankfurt/M
q2 ders., 1973, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M
q3 Anders, Günther, Bert Brecht. Gespräche und Erinnerungen, Zürich 1962
q4 Benjamin, Walter, >Das Kunstwerk im zeitalter seiner ästhetischen Reproduzierbarkeit, in: Illuminationen, Frankfurt/M 1961, 148-84
q5 Brecht, Bertolt, Arbeits-Journal, Frankfurt/M 1974
q6 Haug, Wolfgang Fritz, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M 1971
q7 ders., Warenästhetik und kapitalistische Massenkultur (I). "Werbung" und "Konsum". Eine systematische Einführung, Hamburg 1980
q8 Marx, Karl: Das Kapital. Bd. 1
q9 Wernick, Andrew, >The Promotional Condition of Contemporary Culture (Auszug aus: ders., Promotional Culture, London: Sage 1991, 181-98), in: Lee, Martyn J. (Hg.), The Consumer Society Reader, Oxford 2000, 300-18


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