Neuer Krieg und neuer Ausnahmezustand?
Von Bernhard H.F.Taureck © taureck, veilchenstr. 2a, 30 175 hannover
I
Am 11. September vernichteten getarnte Todfeinde der USA Gebäude und Menschenleben in New York und Washington. Seit dem 7. Oktober bombardieren die USA und Großbritannien Afghanistan. Erste Voraussagen, die getarnten Todfeinde würden neue Attentate mit anderen, neuen Instrumenten starten, haben sich bereits nach einer Woche Krieg zu bewahrheiten begonnen.
Niemand kennt mehr nur den wahrscheinlichen Verlauf der allernächsten Zukunft. Die öffentliche Aufmerksamkeit hat sich an eine Art dauernden Ausnahmezustand gewöhnt. Neben "Krieg" ist über Nacht der "Ausnahmezustand" wieder attraktiv geworden. In wenigen Tagen nach dem 11. September hat "Krieg" als Wort und Tat seine völkerrechtliche Ächtung abgestreift und strahlt in neuem altem Glanz. Das Wort "Ausnahmezustand" wird noch gemieden, jedoch die Ministerien für innere Sicherheit in Europa haben ihn faktisch herbeigeführt, indem sie beispielsweise nicht mehr zwischen Militär und Polizei unterscheiden wollen. Der liberale Staat, so wird von philosophischer Seite zu Recht gewarnt, dürfe zum Schutz seiner Grundrechte nicht die Grundrechte antasten.
Übereilt fragte und antwortete man beispielsweise wie folgt:
Wer wen bekämpft? Die Zivilisation natürlich die Barbarei.
Wer wessen Feind ist? Natürlich die Fundamentalisten gegen die freie Weltordnung.
Wer böse ist und wer gut? Böse, wie könnte es anders sein, sind die weltherrschaftshungrigen Al-Qaidas und wie immer sie sich nennen, gut ist die Nato.
Wer wofür und wer wogegen ist? Wir natürlich für globalisierte Marktwirtschaft, die anderen für ein mittelalterlich-vormodernes Kalifenreich.
All diese Antworten laufen auf Polarisierungen hinaus wie Zivilisation gegen Barbarei, Freiheit gegen Fundamentalismus, Gut gegen Böse, Moderne gegen Vormoderne. Es ist, als ob der eine gemeinsame Globus in zwei Teile zerschnitten würde und als ob das Schneiden von zwei Seiten betrieben würde, von Aktionen aus dem Nirgendwo und von Seiten der Allianz, die bombt und der schnell Ziele ausgehen.
II
Über Nacht scheint es dazu gekommen zu sein, dass Feindschaft wieder zu einer Art Rechtsbegriff wurde. Den Rauchwolken in den USA folgen Rauwolken in Afghanistan und diesen folgen Rauchwolken im Nahen Osten. Feindschaft als Rechtstitel: Das ist die Gefahr, das ist der sich ausbreitende Brand des Ausnahmezustands. Wer glaubt, er habe ein natürliches Recht zur Liquidierung des anderen, darf sich nicht wundern, wenn dasselbe Recht auch von den Feinden beansprucht wird. Die Folge könnte sein, dass keine Ordnung mehr die Zustände zu bestimmen vermag, sondern dass es der Ausnahmezustand ist, der alle Ordnungen bestimmt und zerfetzt.
Niemand weiß zur Zeit, ob dieser Ausnahmezustand ganz still und versteckt bereits begonnen hat. Wir haben keinerlei Erfahrung mehr mit dem Phänomen "Ausnahmezustand". Gewöhnt an berechenbare Vorgänge, haben wir verlernt, mit der Möglichkeit des Unberechenbaren zu rechnen. Außerdem haben wir bisher trotz aller sich ankündigenden Katastrophen Glück gehabt. Die Endzeit, so glaubten viele, hätte mit Seveso, mit Tschernobyl, mit dem Golfkrieg, mit BSE beginnen können. Immer wieder fanden wir Auswege, immer wieder haben wir uns, wie es in der Antigone des Sophokles heißt, als "ungeheuerlich" krisenfähig bewährt. Doch was seit dem 11. September geschieht, scheint den bisherigen Horizont zu sprengen. Unsere ungeheure Stärke wird durch etwas Unheimliches herausgefordert. Dieses Unheimliche hat keinen Namen, doch wir wissen: Wir, unsere Zivilisation, die gesamte Moderne und ihre Zukunft, sie soll nicht weiter existieren.
Steht der seit 100 Jahren vorausgesagte Untergang des Abendlandes oder steht ein Kampf der Kulturen bevor? "The clash of civilizations will be the battle line of the future" – Samuel Huntingtons These von 1993 bestätigt sich derzeit im Urteil vieler. Was enthält diese Voraussage im Licht der Ereignisse vom 11.September? Huntington behauptete, der Islam habe seit 1300 Jahren blutige Grenzen und es sei möglich, dass sich in der 1,1-Milliarden muslimischen Weltbevölkerung zwischen Afrika und Asien eine Politisierung des Islam bilde, die aktiv werden könne gegen die Ideen der liberalen Demokratie und des Glaubens an freie Märkte. Die Angriffe auf New York und Washington lassen sich mit dieser Hypothese in der Weise verbinden, dass der Westen nunmehr in einen Kriegs- oder Kampfzustand mit jenen finsteren Mächten auf dem Boden einer anderen Religion eintritt, ein Krieg, in welchem sich beweisen soll, ob hier Zufälle oder ob Notwendigkeiten am Werk sind.
Statt längst entschiedenem Untergang des Abendlandes und statt Endkampf um das Gute gibt es eine dritte Möglichkeit. Sie lautet: Verringerung der Wahrscheinlichkeit der Häufung schädlicher Zufälle. Dieses Ziel kann vermutlich durch eine neu organisierte Zusammenarbeit von Politik und Polizei sowie durch politische Maßnahmen erreicht werden, die politisiertem Fundamentalismus keine Nahrung mehr gibt. Für diejenigen, die glauben, der westlichen Zivilisation sei am 11.September durch die Tat der Krieg erklärt worden, ist das dritte Reaktionsmuster viel zu wenig. Doch könnte es nicht sein, dass weniger hier mehr bedeutet?
III
Dies ist vermutlich die Frage, deren Beantwortung über das entscheidet, was morgen der Fall sein soll. Versuchen wir daher, sie einmal provisorisch zu klären und zu beantworten. Eine These sei an den Anfang gestellt. Sie lautet: das zweite Reaktionsmuster, der Entscheidungskampf, könnte dazu führen, dass diejenigen Traditionen des Islam, die Gewalt befürworten, die Toleranztradition dieser Religion in den Hintergrund drängen. Die Folge könnte sein, dass dadurch eine neue Ära des Völkermords heraufbeschworen wird, in welchem Angriff und Gegenangriff aus dem Verborgenen und im Verborgenen immer mehr Opfer fordern und dass Politik zu einem Diktat von Vergeltung und Gegenvergeltung degeneriert. Dies bildet keine Vorhersage, sondern nur eine Art Hochrechnung, die sich leider wie folgt begründen lässt: Wir sind über die Geschichte des Islam hinreichend informiert und wissen, dass er zwei Gesichter besitzt, Gewalt und Toleranz. Muhammad hat sich in Medina einst für den Einsatz von Gewalt zur Verwirklichung seiner Sendung entschieden. Diese Option führte später zu riesigen territorialen Eroberungen einschließlich Spaniens. Doch im Unterschied zu den christlichen Imperien, die nach dem Niedergang der islamischen Reiche entstanden, nahmen die Eroberer keinerlei Massensterben der eroberten Völker in Kauf und versuchten erst recht nicht, sie auszurotten. Im Gegenteil, die Praxis und nachweislich sogar der Gedanke politisch-religiöser Toleranz kommt aus dem Islam. Die Quelle für Lessings Ringparabel zugunsten religiöser Toleranz stammt von einem persischen Mystiker namens ´ Attar. Auch die Sure 2. 257 des Koran sagt ausdrücklich: "Es soll kein Zwang im Glauben bestehen." Bekannt ist ferner, dass unter den Kalifen eine beispiellose Blüte der Künste und Wissenschaften stattfand. Zu einer Zeit, als im christlichen Abendland psychisch kranke Menschen noch als vom Teufel Besessene angekettet und ausgepeitscht wurden, errichtete das islamische Spanien bereits Nervenkliniken mit intensiver, tagesklinikartiger Nachsorge. Wer einmal in Cordoba oder Sevilla die Museen besucht hat, kann dort die Spuren jener überlegenen Zivilisation nicht übersehen. Wenn das Christentum heute eine Religion der Friedfertigkeit bildet, so ist daran zu erinnern, dass der westliche Kolonialismus einst zutiefst mit christlicher Mission verwoben war. Diese konnte, wie bei den Franzosen, zunächst friedlich ausfallen. Diese konnte jedoch auch, wie in Lateinamerika, den Tod von achtzig Millionen Indios als ungeplante Nebenfolge haben. Diese konnte ebenfallls, wie im Ausrottungskampf verschiedener Puritaner gegen die als Halbmenschen oder Teufelskinder wahrgenommenen Indianer, in offenen Genozid münden. Huntingtons Metapher von den "blutigen Grenzen" des Islam dürfte wie eine taktische Ablenkung wirken von der historischen Paradoxie eines gewaltbereiten Islam, der sich tolerant und kulturkonstruktiv verhielt und eines friedfertigen Christentums, das vor Völkervernichtung nicht zurückschreckte.
Aus dieser historischen Paradoxie folgt nicht, dass alle Vertreter des Islam auch heute der Toleranz den Vorzug vor Gewalt geben. Demokratie ist im Koran nicht vorgesehen, sondern in Sure 42.36 nur eine "Beratung untereinander". Selbst der Begriff der "Säkularisierung" kann im Arabischen, wie uns die Islamistik belehrt, nur als lâ dînî ausgedrückt werden, was jedoch "religionslos" bedeutet. Westliche Beobachter des Islam werden vielleicht zu der Einschätzung gelangen, dass der Islam eher als Sieger tolerant ist, als Verlierer und Gedemütigter jedoch auf Traditionen der Gewalt zurückgreift. Kaum bestreitbar ist, dass die Vereinigten Staaten sich infolge ihrer Nahostpolitik eine Reihe von Todfeinden in der islamischen Welt geschaffen haben. Wenn tatsächlich von bestimmten islamischen Kreisen aus Gewalt im Namen einer Wiedereroberung der Welt für legitim erachtet und eingesetzt wird und wenn wir mit Gegengewalt im Namen eines Endkampfes einer freien Welt antworten, so erzeugen beide damit ein noch nicht ganz entschleiertes Gesetz wechselseitiger Vernichtung. Verborgene Aktionen von Spezialtruppen, flankiert von einer Overkill-Streitmacht, können mit Aktionen gezielter Gewalt aus dem Verborgenen auf lebenswichtige Zentren des Westens beantwortet werden. Das Gesetz der neuartigen Völkervernichtung könnte eine zunehmende Deregulierung des Kampfes sein, in welchem ein Durst nach immer massiverer Vergeltung nicht nur das Völkerrecht aufhebt, sondern in welchem das zu Erhaltende selbst geopfert würde.
Seit Beginn des Krieges gegen Afghanistan ist absehbar, inwiefern das Gesetz der Menschenvernichtung bereits kein Gespenst mehr ist. Es existieren drei schwer abschätzbare Risiken: das Risiko immer neuer Attentate; das Risiko eines millionenfachen Völkersterbens in Afghanistan vor dem Wintereinbruch; und schließlich noch das Risiko des Zerbrechens jener Staaten-Allianz, auf deren Herbeiführung die USA so stolz sind. Es ist nämlich nicht unmöglich, dass in Saudi-Arabien oder in Pakistan oder Indonesien die pro-amerikanischen Regierungen von fundamentalistischen Gruppen hinweggefegt werden, die den Krieg gegen Afghanistan mit Heiligem Krieg beantworten möchten. Diese Staaten könnten sich gegen die USA zusammenschließen, sie könnten den Nahen Osten in Brand schießen und sie könnten die Öllieferungen an den Westen lebensgefährlich drosseln. In diesem Fall hätten sich die USA eine weitere sichtbare Front geschaffen neben Afghanistan und neben der unsichtbaren Front ihrer aus dem Verborgenen handelnden Todfeinde. Wie sie hierbei die Oberhand behalten wollen, wäre allenfalls noch Gegenstand von Hoffnung.
Das Folgerisiko des Entscheidungskampfes ist zu groß, um ihn als Gegenstand einer rationalen Wahl zu betrachten. Dass unsere Overkill-Kapazitäten und die militärische Kommunikationsstruktur reichen, um die gesamte Erde unbewohnbar zu machen, wissen wir bereits seit Jahrzehnten. Dass sie untauglich sind gegen einen aus dem Verborgenen operierenden Gegner, sollte uns einzugestehen im Grunde nicht schwer fallen. Setzen wir daher nicht auf eine Häufung schädlicher Zufälle für diesen Gegner. Er beherrscht dieses Geschäft besser als wir. Aktivieren wir mehr die Polizei als das Militär, um die Häufigkeit schädlicher Zufälle zu verhindern. Aktivieren wir vor allem die politische Fantasie zugunsten einer Praxis von Gerechtigkeit, die geeignet wäre, dem Gegner die Legitimation für Gewalt nachhaltig zu entziehen.