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Sprachnot, Gewalt und Talibanation.



Sprachnot, Gewalt und Talibanation
Von Bernhard H.F.Taureck, © prof.dr. taureck, veilchenstr. 2a, 30 175 hannover
I.
Es ist etwas geschehen, was ohne rechte Bezeichnung bleibt. Berichterstattung und Kommentierung der Vorgänge umfasst inzwischen weltweit bereits einige MB, doch in der Bezugnahme auf die Vorgänge herrscht blind tastende Umständlichkeit: Das was am 11. September in New York und Washington geschah, die Terroranschläge, die Angriffe auf die Zivilisation. Es herrscht Bezeichnungsnot. Paradox mit Not und Leere der Bezeichnung kontrastiert das Bündel eingeleiteter und beabsichtigter Konsequenzen, die im Land der Anschläge auf massive Vergeltung und die fern davon in der Umgebung des imperialen Reichstags auf Grundrechteinschränkungen hinauslaufen. Beide Konsequenzen sind Folgerungen, keine Wirkungen. Wie auch immer spätere Geschichtsschreibung – falls sie noch stattfinden kann – ausfallen wird: Zwangsläufigkeit, Determinismus war nicht im Spiel, sondern eilige, vorauseilende, an beschleunigte Fiebervorstellungen erinnernde Eilfertigkeit des Folgerns. Schließen und Folgern sind Tätigkeiten menschlicher Vernunft. Menschliche Vernunft ist fehlbar. Jedoch sind auch falsche Schlüsse noch Schlüsse. Niemand erkennt jedoch einen verborgenen Determinismus, der uns zu irrigen Schlüssen treibt.
Die Not und die Leere der Bezeichnung antwortet jedoch auch auf die bisherige Sprachfreiheit der Botschaft der Gewalt. Die Vorgänge werden zu einer Parodie jener proto-kommunistischen Lobrede Don Quijotes (I.11) auf das Goldene Zeitalter, in welchem Liebesbotschaften ohne "künstlichen Umweg von Wörtern" unmittelbar von Herz zu Herz getauscht wurden. Die Brände, der Schutt, die sich in den Abgrund Stürzenden, die grausig beim Einsturz Erschlagenen sind sprachfreie Botschaften des Hasses von Herz zu Herz. Es findet eine paradoxe Koinszidenz der Sehnsucht nach einem idyllischen mit einem terroristischen Jenseits der Sprache statt. In dieser Sehnsucht gedeiht Lust auf Gegengewalt, die ohne nennenswerte Sprache sich längst durch Technologien simulierter Gewalt (TV-Sendungen, Filme, Computerspiele) in die jungen Gehirne eingenistet hat. Wie man hört und in e-mails an ihre deutschen Schulfreunde liest, fiebern junge US-Bürger dem großen Bumbum an einem orientalischen Ort entgegen.

II.
Montaigne hat am Ende des gewalttätigen 16.Jahrhunderts aufgedeckt, dass wir Menschen des Westens dasjenige "barbarisch" nennen, was nicht Teil unserer eigenen Zivilisation ist. Samuel Huntington hat mit seinem Buch The Clash of Civilisations an alteuropäische Ängste vor dem selbsterzeugten Feindbild "orientalischer Despotismus" angeknüpft und die jetzt aufblitzenden Szenarios eines Endkampfes der Werte vorweggenommen. Doch welche Werte will Europa im Schulterschluss mit den USA auf welche Weise verteidigen? Wenn eine zum Opfer gemachte demokratische Gesellschaft ohne Identifikation der Täter, ihrer Motive und ihrer Hintermänner anderen Gesellschaften mit massiver Vergeltung bis hin zur Staatsvernichtung droht, so wird damit kein demokratisches, sondern ein Muster verhasster totalitärer Gesellschaften befolgt. Dies gilt um so mehr, als - wie Richard Rorty in seinem ZEIT-Beitrag vom 17. 9. bitter beklagt – die eigene Bevölkerung dabei nicht befragt wird.
Wenn die Vorgänge Huntington bestätigen, dann bestätigen sie noch mehr Montaignes Entdeckung über die Blindheit des Westens über seine eigene Barbarei. Wenn das Losungswort Vergeltung massiver Art lautet, massive retaliation, dann schlage ich vor, künftig von Talibanation zu sprechen. Dieses Wort vereint die Logik des Angriffs und des Gegenangriffs. Um lebensbedrohliche Angriffe zu parieren, wollen wir selbst lebensbedrohlich werden. Die Barbarei außer uns war nur Schein.


III
Nicht nur das neue Jahrtausend, sondern vor allem eine neue Selbstbefragung der Zivilisationen könnte am 11. September begonnen haben. Huntingtons Erzählungen sind dazu gänzlich untauglich, sie führen bloß in die Talibanation. Zu nennen sind hier andere Namen. Neben Montaigne wäre an Rousseau oder Adam Ferguson zu denken, die Zivilsation nicht als großen Plan, sondern als Resultat menschlicher Handlungen verstehen und ihren Gang an Zufälle knüpfen. Zufall ist auch das Gelingen des mörderischen Angriffsplans der Unbekannten vom 11. September. Zu nennen ist ferner Paul Valérys Text über die Sterblichkeit von Zivilisationen nach dem Ersten Weltkrieg. Dort stehen die Sätze: "Und wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte für alle hinreichend groß ist. Wir fühlen, dass eine Zivilisation die gleiche Zerbrechlichkeit (fragilité) besitzt wie ein Leben." Nicht zuletzt wäre auch an jene Bemerkungen zu erinnern, mit welchen Lévi-Strauss 1955 seine Tristes Tropiques abschloss: Der Mensch als Wesen, das unumkehrbare Zustände der Desintegration zu schaffen vermag. In diesen und ähnlichen Texten ist ein Bewusstsein davon am Werk, dass Zivilisation immer dann in Gefahr ist, wenn sie nicht mehr als Aufgabe aller Bewohner dieses Planeten wahrgenommen wird.

IV
Doch das State Department, das Pentagon und das White House wollen es anders. Noch vor der Identifikation der Hintermänner werden militärische Schläge angekündigt und die Streitkräfte vorauseilend zu Helden erklärt. Was der Geheimdienst und die omnipräsente NSA verpasste, Früherkennung und Prävention, wird zum Verteidigungsfall der NATO umdeklariert. Ein hausgemachter Irrtum könnte den Irrtum eines "Feldzugs" nach sich ziehen. Wird gar auf "massive Vergeltung" (massive retaliation) gesetzt, so fällt man damit hinter die "flexible" oder "controlled response" zurück, die seit 1967 die verbindliche Verteidigungsdoktrin der Nato bildet.
Die Schöpfer des Nato-Vertrages von 1949 sprachen in Artikel 5 und 6 des Vertrages nicht nur von "Angriff", sondern fügten das Attribut "bewaffnet" hinzu. Es scheint, dass die destruktive Nutzung von Zivilflugzeugen allein eine metaphorische Verwendung von "bewaffnet" erlaubt. Die Nutzung eines Zivilflugzeuges zur Zerstörung von Menschen und Sachen ist keine Waffe im eigentlichen Sinn. Die suicide-weapon bleibt eine Para-Waffe, vermutlich benutzt von nicht-staatlichen Tätern. Jeder Gegenschlag wäre dementsprechend auch nur metaphorisch fassbar. Es scheint sich kein Krieg, sondern ein Gleichsam-Krieg zu entwickeln. Im Visier ist auch nicht ein präzises Gebiet, sondern virtuell erfassbare Zonen, die zugleich in Lybien, Afghanistan, Sudan, Irak, Iran liegen können.
Wenn es zutrifft, dass nunmehr ein sprachlich metaphorisches Operieren stattfindet, das nur noch auf einer metaphorischen Auslegung einer selbst gegeben Handlungsregel beruht, dann wird unmerklich eine nicht bloß riskante, sondern gefährliche Handlungsverkettung ausgelöst. Man begibt sich auf ein Terrain, in welchem man nicht mehr genau weiß, was man tut und nicht mehr genau das tut, was man weiß.
Noch existiert ein Text, der für diese Entwicklung konzipiert wurde und die NATO – Mitglieder an ein anderes Gut bindet, nämlich an friedliche Konfliktregelung. Artikel 1 des Nato-Vertrages formuliert nämlich in folgender Weise ein Gewaltverbot: "Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind." (Meine Hervorhebungen) Sicherlich gilt, dass sich die Vereinigten Staaten infolge ihrer Nahostpolitik in der islamischen Welt Todfeinde geschaffen haben. Doch was eigentlich hindert, dass jene Bemühungen fortgesetzt würden, die 1978 zum Frieden zwischen Ägypten und Israel führten auf der Basis der Tauschformel "land with the promise of peace"?
Falls diese Klausel des Verbots von Androhung und Anwendung von Gewalt nunmehr umgangen wird, besteht keinerlei Aussicht auf Sieg und Triumph des Militärs. Vielmehr kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass der international organisierte Terrorismus – über dessen Gefahr wir spätestens seit den 80er Jahren durch die Forschungen des britischen Politikwissenschaftlers P.Wilkinson informiert sind - nicht nur den 11.September 2001 geplant, sondern sich auf jene Strategie der massiven Vergeltung seinerseits eingestellt hat. Damit wäre jedoch ein bislang noch nicht erprobter Fall des "security dilemmas" möglich, wonach beide Parteien auf das reagieren, was sie denken, dass der andere beabsichtigt und so eine wachsende Destabilisierung erzeugen. Der offiziell deklarierte Weg der "massive retaliation" könnte sich auf der Seite des Westens als die bisher schlimmste Falle für unsere Sicherheit und unsere Zivilisation erweisen.


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