Autor: Heiko Idensen | |
... Es hat nie wirklich Autoren gegeben. Am Anfang war ein Text? Und der Text generierte andere Texte, überlagerte sich mit Bildern, Metaphern, Briefen, Schriftrollen, Traumresten, Einritzungen ... Jemand hatte das alles gehört und aufgeschrieben: die Märchen, die Mythen des Alltags, abgeschrieben und heruntergeladen aus dem Internet. Die Wolken, die vorüberziehen. Andere hatten weitergeschrieben, korrigiert, gelöscht, umgeschrieben, übersetzt, Briefe verschickt, Reden gehalten, Lieder gesungen, Theaterstücke aufgeführt ... aber Autoren, die hat es niemals gegeben, nur Texte ... "Odysseus reist durch eine nur in der Sprache geborene Erlebnisidee, in die reale Erinnerungsmomente eingeflossen sind, ohne daß sie direkt in einen aktuell sich ereignenden Lebenszusammenhang eingebettet wären. Unmittelbar erlebt ist allein der epische Text im Vollzug seines Entstehens und seiner Wahrnehmung. Ob dahinter eine wie in diesem Fall plurale Autorschaft steht, die sich der Obersignatur Homers bedient, oder ob es wie beispielsweise für Vergils ‚Aeneis' eine personal konkretisierbare Autorschaft wäre, ist nicht von entscheidendem Belang. Wesentlich ist die unmittelbare und vor allem wiederholbare Erlebnispräsenz von Sprache und daraus resultierendem Werk, in der sich Urheber und Nutzer treffen" (Kleinschmidt, Erich (1998): Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen und Basel, 45). Jeder Text ist Bestandteil verschiedener textproduktiver und - rezeptiver Prozesse: Textmaschinen, Sprachspielen, Auf- und Entladungen, Referenzen, die sich aufbauen, abbrechen, vertiefen und vernetzen ... Differenzen und Wiederholungen von Lese- und Schreibakten ... Adressierung von Informationen Autorenschaft wird - je nach dem technischen Stand des Kommunikationssystems - als ein kulturelles Paradigma produziert und stellt somit in gewisser Weise einen medialen Effekt des jeweils vorherrschenden Informationssystems der Wissensverarbeitung dar. Der Autor ist insofern schon immer Bestandteil eines komplexen kulturellen Netzwerks gewesen: "Als Autoren werden diejenigen informationsverarbeitenden Systeme bezeichnet, die über ihre Sinnesorgane Informationen aufnehmen und diese zu Manuskripten verarbeiten, die dann von den Druckereien aufgenommen werden. Erst durch Herstellung einer Beziehung zu Verlegern und/oder Buchdruckern können die ‚Schreiber' also zu Autoren und damit zu Elementen eines neuen Kommmunikationssystems werden" (Giesecke 1991, S. 400-401). Genauso produziert werden auf der anderen Seite des Kommunikationsprozesses die Leser. (Untersucht man die unterschiedlichen Korrekturverfahren von den Buchmalern über die Rubrikatoren zu den Korrektoren, so fällt auf, dass in der typographischen Datenverarbeitung durch ausführliche Druckfehlerverzeichnisse schließlich sogar der Leser in die Korrekturschleife miteinbezogen wird, indem genau angegeben wird, auf welchen Seiten in welchen Zeilen Korrekturen und Ersetzungen vorzunehmen sind. Vgl. Giesecke 1991, S. 121-123.) Text als Schnittstelle Ein Text stellt eine Oberfläche dar für die Begegnung von Leser und Schreiber, Urheber und Nutzer, Sender und Empfänger ... "Autor und Leser sind durch gleiche Anstrengung und Aufmerksamkeit in der Textarbeit vereint. Die Gültigkeit dieser Konstellation erstreckt sich idealerweise auf einen zeitlich wie kulturell gemeinsamen Textort, wo sich schreibender ‚Leseautor' und dem Formulierungsprozess inhärenter ‚Autorleser' treffen. [...] Die impliziten Interaktionen, die sich im unmittelbaren, weitgehend gleichberechtigten Korrespondenzwissen von Autor und Leser intentional aufeinander bezogen aufbauen und zur Evidenz gelangen, entziehen sich einer auktorialen Verfügung. [...] Dem Leser fällt zunehmend Autorschaft zu, die aber nicht mehr mit dem ursprünglichen Formulierer zurückgekoppelt ist, sondern die diese Bindungsgemeinschaft nur noch simuliert" (Kleinschmidt, Erich (1998): Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen und Basel, S. 43). Der Text als anderer Schauplatz, als Bühne kultureller Wissenssysteme, als Szenerie, in der sich kollektive Authentifizierungsprozesse abspielen: begriffliche Regelspiele, mobile Organisationsprozesse, in denen die Einbildungskraft wirken kann. "Der Redner hat, um mit seinem Text affektiv auf seine Zuhörer wirken zu können, die Erregung zuvor durch Vorstellungen (phantasiai) zu projizieren" (Kleinschmidt, Erich (1998): Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen und Basel, S. 28). Diese simple Maskierung, dieses auktoriale Rollenspiel mit teils göttlichen Soufflierungen lassen letztlich den eigentlichen Ort textschöpferischer Energie leer, die im Schauspiel von Text-Rezeption und -Produktion immer wieder neu besetzt wird - auch schon in den frühen Reflektionen zu Textualität und Autorschaft klafft die Lücke, die Leerstelle, der slash zwischen Signifikat und Signifikant, den die Moderne/Postmoderne dann so wild und emphatisch bearbeiten wird, eben der Zwischenraum zwischen den Texten : "Zwischen ihnen droht stets das erinnerungslose Schweigen der Texte, jene Grenzüberschreitung aus den sprachlichen Tauschvorgängen mit der Welt in das Vergessen. [...] Die Verweigerung, sich in Texten zentrierend zu äußern, führt zur Verdunkelung der Welt" (Kleinschmidt, Erich (1998): Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen und Basel, S. 29). Schriftlich fixierte Text bereiten (im Vergleich zur direkten oralen Textweitergabe in Dialogen oder eben der klassischen Rede) schon die direkte Adressierbarkeit von Texten jenseits von Autorfiktionen und flüchtiger Rede vor, wie sie jetzt im Netz so schön möglich ist. Das alte ‚väterliche' (Plato) verantwortungsbewusste und eben vor allem personal gebundene orale Überlieferungsmodell von Texten mit klar definiertem Sender/Autor/Autoritätszentrum wird durch eine entsubjektivierte Autorität der Schrift selbst abgelöst, Kommunikationszusammenhänge und Kontexte verschwimmen ... "Der Text wird wichtiger als sein Produzent, der nach der Niederschrift ganz zurücktreten kann, es sei denn, dieser wollte als ein 'Freund der Weisheit' (philósophos) jenen noch weiter kommentierend auslegen" (Autorschaft, S. 31, mit Verweis auf E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter). In dieser Trennung von Autor, Exeget und Leser scheint für die Textgenese letztlich auch schon jene erschreckende Leere auf, die im Laufe der Geschichte immer wieder mit anderen Phantasmen, technischen Projektionen etc. gefüllt wird, bis hin zur momentan gültigen Produktionsanweisung, dass eben das Internet selbst die Texte generiere, die hier fluktuieren ... Die Frage "wer spricht" wird zur Frage nach den ideologischen und ökonomischen Machtverhältnissen kultureller Produktionsweise, die zudem nicht selten die Grundlage bilden für basale gesellschaftliche Produktionsverhältnisse. (Eine Umkehrung der klassisch gedachten Basis/Überbau-Verhältnisse, also zutiefst idealistisch?) "Dies führt in der Textformulierung erst einmal dazu, daß Autorschaft dazu neigt, Masken anzulegen, sich sprechende Protagonisten zu wählen, weil sie sich angesichts der zahlreichen Interaktionen im gesellschaftlichen Beziehungsraum kommunikativ vervielfältigen will. Zugleich wird aber der Formulierende zum Einen, der gleich allen ist, im Namen aller und zu allen spricht. Seine Aussage repräsentiert nicht nur eine Identität des eigenen Selbstbewußtseins, sondern sie spaltet sich auf in ein plurales Wahrnehmungsbewußtsein vieler anderer Identitäten. [...] Autorschaft ist im Gegensatz zum physisch konkreten Sänger oder Dichter etwas, das nicht selbstverständlich von Anfang aller Literatur vorhanden wirkt. [...] Autorschaft erscheint funktional als ein Phantasma. Es verleigt, was gegenständlich 'Text' genannt wird, Zusammenhang und überdeckt so die disparat erlebte Wirklichkeit der Texte. Um diese negative, wenn nicht traumatische Erfahrung zu überwölben, bedarf es der Vorstellung von Autorschaft. Sie erlaubt es, die symbolischen Repräsentationen, wie sie in der mythischen Kodierung noch möglich waren, zu ersetzen" (Kleinschmidt, Erich (1998): Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen und Basel 1998., S. 33). Und eben an dieser Leerstelle der Texte, die für viele moderne und postmoderne Texte geradezu konstitutiv war und in verschiedenster Art und Weise zum Antrieb der Textgenese wurde, können wir jetzt ganz konkret in netzwerkunterstützten kollaborativen System arbeiten, nach theoretischen Durchläufen, die eben diese freigewordene Stelle der Texte auf selbstschöpferische, quasi autopoetische Momente der Sprache zurückgebunden hat (Plato, Wittgenstein, Luhmann), bzw. nach einer Wiederaufnahme der Vorstellung einer vorsprachlichen transpersonalen sprachlichen Instanz (chora) etwa bei den poststrukturalistischen Intertextualitätskonzepten (Kristeva). Autorschaft ist also ohne ein ‚produktives Lesen' nicht denkbar. Sprachliche Produktions- wie Rezeptionsakte schließen somit neben grammatikalischen Regeln und sprachlichen Strukturierungen auch diskursive Formationen, Nutzungsregeln, hermeneutische Zirkel etc. mit ein, eben die sprachlichen und kulturellen Sinnproduktionsprozesse, worin eine gewisse Paradoxie der Autorschaft evident wird. Der Autor wird zu einem Mediator, einem Vermittler zwischen den vorliegenden Texten der Bibliothek und einer möglichen Aktualisierung und Neuproduktion. Aus solchen verschiedenen Facetten intertextueller Textgenese, aus Projektionen und Sprachspielen um diskursive Machtverteilungen in Texten können wir nicht nur Figuren des Verschwindens von Autorschaft entdecken, wie sie in der Text- und Theorieproduktion der Moderne und des Poststrukturalismus genügend formuliert und zuweilen auch bis zum Überdruss und zur katastrophischen (medizinischer Ausdruck für Krampf/Lähmung) Lähmung wiederholt worden sind, sondern wir können daraus ebenso Methoden künstlerischer und politischer Entwendung ableiten (cut-up-Methoden, Textmaschinen, offene Textstrukturierungen, Sprachspiele, wie Momente der ‚Entwendung bei den Situationisten oder Operationen der vielleicht letzten Kolonne von Medien- und Kommunikationsguerilleros ...), die sich wie Viren nicht nur im Netz ausbreiten ("I love you"), sondern die auch als open source-Bewegung, sowohl konstitutiv für das Netz (mit seinen Protokollen, Programmen und Kommunikationsstrukturen) selbst sind, als sie auch darüber hinaus Modelle für neue Ökonomie- und Gesellschaftsutopien freisetzen können, auf deren Basis sich möglicherweise auch Widerstandspotentiale gegen hyperkapitalistische dot.com Praktiken bilden . (Vgl. Volker Grassmuck: Freie Software 1/2) siehe auch die Webversion des Aufsatzes: Heiko Idensen “Suchen und Verweisen: Digitale Autor-/Leserschaften”, in:Kodikas/Code. Ars Semiotica, Vol. 24(2001), No. 3-4, S. 224-233 idensen@hyperdis.de http://www.hyperdis.de |
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