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Lyotard: Essay zur Grammatik des 21. Jahrhunderts



Autor:
W. Reese-Schaefer, Privatdozent fuer Politologie;
Bernhard H.F. Taureck, Professor fuer Philosophie an der Technischen Universitaet Braunschweig
Lyotard: Essays zur Grammatik des 21. Jahrhunderts
Vorwort zur dritten Auflage

I.
Juni 1994, Universität Düsseldorf. Lyotard spricht über die Zukunft der Arbeit als Problem der Zukunft. Er gibt sich improvisierend, bemerkt, er habe nur nebenbei Zeit gefunden, einige fehlbare Überlegungen zu notieren. Es ist ihm Ernst mit der Vorläufigkeit, und das Provisorische wird zu dem wirklich Ernsthaften. Auch im Gespräch – dem letzten, das ich mit ihm führen konnte – wird die Bitte laut, ihn nicht philosophisch zu überschätzen. Er kann sich an fast fünf Jahre zurückliegende biografische Details aus meinem Leben (Zusammentreffen in Hamburg 1989) erinnern und nimmt fragend Anteil am Schicksal des anderen. Zu keiner Zeit beansprucht er irgendetwas, bevor er hier und jetzt etwas geäußert hat.
Wie - wenn wir versuchten, einen neuen Dialog mit ihm aufzubauen, der am 21. April 1998 an den Folgen einer Leukämieerkrankung mit knapp 74 Jahren verstarb? Doch weshalb neu und weshalb Dialog?

II.
Neu, weil auch Lyotard - wie Derrida, wie Foucault, wie Deleuze, wie Levinas – ein Denker des 20. Jahrhunderts war, das chronometrisch abgeschlossen und doxographisch überschaubar ist. Womit dieses Jahrhundert schwanger ging, wissen auch wir nach gut 30 Monaten des neuen Jahrtausends nicht wirklich. Wir können jedoch mindestens vier Erscheinungen und gar Ereignisse benennen, die mit jener Schwangerschaft zusammenhängen:
1. Aus dem Diskurs des Völkerrechts (international law) ist der Terminus Globalisierung in Ökonomie und Politik abgewandert. Es hat den Anschein, dass der Terminus Postmoderne in gleichem Maß aus dem Gebrauch verschwand.
2. Ein Zeitalter der Postbiologie hat begonnen. Die Protagoras-Metapher vom Menschen als Maß für alles wandelt sich in die ungelöste Aufgabe einer kollektiven Selbstbemessung der physio-physischen Ausstattung von Individuen und gar der Spezies Mensch, für die nur Pseudo-Experten bereitstehen.
3. Der militärisch und wirtschaftlich stärkste Staat des Planeten hat damit begonnen, im Namen universalistischer Wertungen Vernichtungskriege gegen absolute Feinde zu führen und gleichzeitig internationale Regelungen zu bekämpfen, welche widerspruchsfrei zur Sicherung der Bedingungen des Gattungsüberlebens gehören.
4. Der Kapitalismus hat eine neue Art des Konsums erfunden: Er hat damit begonnen, das in ihn gesetzte Vertrauen aufzuzehren.
Diese Entwicklungen konnte Lyotard, dessen Ernsthaftigkeit sich nicht auf Vorhersagen einließ, nicht vorwegnehmen. Insbesondere war es unmöglich die Akzeleration vorauszusehen, mit welcher seit 1998 die bezeichneten Entwicklungen sich entfalten würden und vermutlich weiter entfalten.

III.
Warum neuer Dialog mit Lyotard? Nicht bedeuten kann dieser Dialog ein "Zurück zur Postmoderne!", denn Lyotard zufolge hat es diese als Epoche gar nicht gegeben. In Le postmoderne expliqué aux enfants von 1986 heißt es auf Seite 33: « Il me semble que l’essai (Montaigne) est postmoderne, et le fragment (l’Athaeneum) moderne. » Wäre es das, das Fortschreiben einer skeptischen, montaignischen Textualität, einer Preisgabe der Perfektion zugunsten von Emanzipation und perfectibilité?
Lyotard suchte das Zwiegespräch mit anderen, zum Beispiel auch mit Valéry. Dieser klug philosophierende Philosophiekritiker hatte einst geschrieben: "Die Werke des Geistes, Gedichte oder andere, beziehen sich nur auf das, was etwas zur Welt bringen lässt und auf das, was sie selbst zur Welt bringen ließ und auf absolut nichts anderes." Lyotard: "Das ist der Widerstand der Kunst, worin ihre gesamte Konsistenz besteht: dass die Bestimmtheit nicht mit dem Zur-Welt-Kommen zu Ende kommt. (Telle est la résistance de l’art, en quoi consiste toute sa consistance : que la détermination ne vient pas à bout de la naissance. Lectures d’enfance, 1991, 126). Zwei bedenkenswerte Sätze, der von Valéry und der von Lyotard. Es geht dabei nicht um die Frage, ob sich Valéry missverstanden gefühlt hätte, sondern um die Möglichkeit, Kunst als Widerstand – Widerstand gegen die sie determinierenden Faktoren - zu denken.
Das Dialogbedürfnis wird für uns noch brennender hinsichtlich dessen, was Lyotard mit seiner Version des "linguistic turn" der Philosophie hinsichtlich des Status des Kapitalismus zu sagen hat und zu sagen hätte. Hier und genau hier werden in einem deskriptiv-analytischen Stil Konturen jenes Merkantilismus der Konzerne vorgezeichnet, die mit dem aus dem Völkerrecht entwendeten Terminus "Globalisierung" uns täglich ungehemmter unter falschen Modernisierungsdruck setzen. In Nummer 253 von Le différend stehen die Sätze: « le genre économique du capital n’exige nullement l’agencement politique délibératif, qui admet l’hétérogénéité des genres de discours. Plutôt le contraire : il exige sa suppression. » (Das ökonomische Genus des Kapitals fordert überhaupt nicht die Betätigung des Deliberativ – Politischen, welches die Heterogenität der Diskursarten erlaubt. Eher das Gegenteil: sie verlangt ihre Unterdrückung.)

IV.
So wäre die Vermutung erlaubt, dass Lyotard uns eine Art Grammatik jener Vorgänge liefert, die uns vertraut ist in Gestalt einer medial gesteuerten Ideologie der Ideologielosigkeit und die in Gestalt einer von der Erziehung bis zur Parlamentswahl Produktwerbung bleibenden Sprache uns auf dem jeweils erzielbaren niedrigsten Anspruchsniveau lebensweltliche Alternativen entzieht, unkenntlich werden und vergessen lässt.


V.
Die Beiträge dieses Sammelbandes enthalten Spuren von Widerstand aus einer Zeit, als man sich nur erst anschickte zur globalistischen Sprachamputation. Die Entwicklung des neuen Jahrhunderts verschafft ihnen eine traurige Aktualität.
Wer sich zugleich einen lexikalischen Überblick über Lyotards Gesamtwerk verschaffen möchte, sei auf den Lyotard-Artikel von Ashley Woodward verwiesen, der in The Internet Encyclopedia of Philosophy erschienen und unter www.utm.edu/research/iep/l/Lyotard.htm anklickbar ist, gleichsam eine partielle Erfüllung von Lyotards Forderung nach dem Zugang aller zum System der Informationen.

Hannover, im August 2002

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