!!Vortrag von Rita Panesar, panesar@gmx.de Jahresausstellung der HfBK 03/07/03 Kurze Vorstellung: - Historikerin - Promoviere im Fach Vergleichende Religionswissenschaften (Universität Erfurt) über "Diskursive Sinnsuche - Religion in Zeitschriften des Kaiserreichs und der Weimarer Republik" - Politik und Lohnarbeit: arbeite im Bereich Entwicklungszusammenarbeit für internationale Jugendaustauschprojekte und gebe Trainings für Interkulturelle Kommunikation !!Zum Aufbau: 1. Religion und Moderne 2. Kaiserreich und Weimarer Republik: Orientierungslosigkeit im Bildungsbürgertum 3. Der Neue Mensch auf der Suche nach Neuer Religiosität 4. Beispiel Zeitschriften oder: "Wie baue ich eine Weltanschauung?" 5. Beispiel Erlöser oder: "Der Hunger nach dem Heiland - Rabindranathh Tagore in Deutschland" 6. Esoterisch, totalitär, faschistisch? !1. Religion und Moderne Max Weber, ein immernoch gerne zitierter Soziologe, der sich um die Jahrhundertwende intensiv mit Religion und Religiosität befasst hatte, amüsierte sich 1910 in seinem Vortrag "Wissenschaft als Beruf" über die Schwärmerei und religiöse Sinnsuche seiner Kollegen und Schüler: "Noch nie aber ist eine neue Prophetie dadurch entstanden (...), daß manche moderne Intellektuelle das Bedürfnis haben, sich ihre Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren, und sich dabei dann noch daran erinnern, daß dazu auch die Religion gehört hat, die sie nun einmal nicht haben, für die sie aber eine Art von spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierter Hauskapelle als Ersatz sich aufputzen oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie - auf dem Büchermarkt hausieren gehen."1 Max Weber bezieht sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Verleger Eugen Diederichs, 2 dessen Verlag zu einem Sammelbecken für Reformbewegungen und Sinnstifter der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik wurde. Noch heute erscheint in seinem Verlag die sogenannte "Diederichs Gelbe Reihe" mit Veröffentlichungen über asiatische Religionen, Mittelalterliche Mystiker, Sufi -Gelehrte und Philosophen. Auch Max Webers Zeitgenosse Fritz Klatt, ein Pädagoge, der seinerseits der zoroastrischen Mazdaznan -Bewegung anhing, betrachtete die religiöse Sinnsuche seiner Zeitgenossen eher skeptisch. So schrieb er 1924 in seiner Aufsatzsammlung: Ja, Nein und Trotzdem: "Sie gehen zu Rudolf Steiner oder zur Heilsarmee oder zu bestimmten Pfarrern oder Wundermännern, oder sie lesen auch nur gewisse Bücher und lassen sich ihre Gedanken dadurch aufpflügen. Auch sie blühen auf, werden zu ‚ganz anderen Menschen', aber plötzlich, ohne eigentlich ersichtlichen Grund, brechen sie zusammen, oder verdüstern ganz und gar und fangen an Gespenster zu sehen. Es ist klar, daß Verwandte, Bekannte und gute Freunde, die der "Wandlung" zunächst einmal wohlwollend oder übelwollend gegenübergestanden haben, nunmehr schreien: Das kommt davon und wir haben es immer schon gesagt, und überhaupt, diese verrückten ‚neuen Ideen'."3 !!Forschungslage: Die Vielfalt an religiösen Sinnstiftungen und Lebensreformbewegungen der Jahrhundertwende, von denen hier die Rede ist, sind erst in den letzten zwei Jahrzehnten wieder verstärkt von Wissenschaft und Kulturbetrieb in Augenschein genommen worden. - Historiker hatten sich vorher eher sozial - und wirtschaftsgeschichtlichen Themen zugewandt. Religion galt als fremdes Terrain. Glaube und Religiosität als etwas Nicht -Historisierbares. - Theologen nahmen sogenannte "Neue Religionen" zwar ins Blickfeld, thematisierten sie aber zumeist aus konfessioneller christlicher Perspektive abwertend als etwas Abseitiges. - Hinzu kam das Fortschrittsparadigma, nachdem Religion sowieso der Vergangenheit angehört. In einer aufgeklärten, rationalistischen Welt, so dachte man, würde Religion ohnehin früher oder später von der Bildfläche verschwinden. Das neue Interesse an Lebensreformbewegungen und religiösen Sinnstiftungen um die Jahrhundertwende resultiert zum einen aus der Feststellung, daß - Religion keineswegs verschwunden ist in der Moderne. Zwar ist ein Rückgang an institutionalisierter Religion zu verzeichnen. Die Kirchenaustrittsbewegung begann Ende des 19. Jahrhunderts, parallel wuchs aber in allen westlichen Gesellschaften das religiöse Interesse an Spiritualität, religiösen Übungen und Denkformen: Ein Fünftel des gesamten Buchmarktes wird heute von Esoterik -Büchern ausgemacht! - Es scheint so, als bringe die Moderne (Fragmentierung der Öffentlichkeit, Technisierung, Individualisierung, Beschleunigung) nicht ein weniger, sondern gar ein Mehr an Religion hervor. Die Frage ist, ob die Moderne überhaupt ohne Religion, Sinnstiftung auszuhalten ist? Wenn man sich die Heilssuchen von heute und die Heilssuche in den 20er Jahren anguckt, gewinnt man den Eindruck, als provoziere ein schneller, gesellschaftlicher Wandel, der subjektiv als krisenhaft oder identitätsbedrohend erlittenen wird, verstärkt Bedürfnisse nach religiöser Identitätsvergewisserung oder Sinndeutung. Das Interesse an Neuen Religionen und Heilssuche heute resultiert aber auch daraus, - daß mit dem sogenannten linguistic turn die Frage "Wie sind die Dinge?" von der Frage "Wie repräsentieren sich die Dinge?" abgelöst wurde. - Und daß in den cultural studies Kulturen als unterschiedliche Sinnsysteme und Selbstverständlichkeiten ins Blickfeld rücken. Hier ist auch meine persönliche Motivation zu sehen, mit der ich mich der Thematik nähere: Was mich interessiert, ist die Vielfalt von Kulturen, von verschiedenen Selbstverständlichkeiten, von Religionen. Ich finde es spannend wie Weltanschauungen konstruiert werden, wie sie sich in wechselseitiger Bezugnahme verändern, wie sie sich repräsentieren. Ich bin eine leidenschaftliche Erkunderin von Kulturen und Szenen und spiele mit dem Gedanken, einen Religionsbaukasten oder eine Weltanschauungsmaschine zu basteln. (Wo genau der Unterschied zwischen Kultur, Religion, Weltanschauung, Sinnstiftungsangebot, Szene liegt, wäre ausführlicher zu diskutieren, ich benutze im Folgenden je nach Kontext mal den einen, mal den anderen Ausdruck.) Die Weimarer Republik gibt mit ihren vielfältigen Entwürfen ein ideales Feld, um den Fragen nach Kultur und religiöser Sinnstiftung nachzugehen, weil sich hier unendlich viele verschiedene Entwürfe entwickelten, durchdrangen, zusammenschlossen, spalteten, neugründeten und wieder auflösten. Sie können als Versuche gesehen werden, eine angemessene Haltung zur Moderne zu finden. Diese angemessene Haltung, adäquate Position, Sinn suchen wir noch immer - auch heute haben vor allem Intellektuelle, Künstler, BildungsbürgerInnen, Jugendliche, die sich mit der Frage "Was tun?" und "Woran glauben?" beschäftigen, nicht unbedingt befriedigende Antworten gefunden. - Die religiösen Bewegungen der Jahrhundertwende liefern angesichts des Utopieverlust der eigenen Gegenwart Inspiration, Anschauungsmaterial und Hinweise auf Gefahren. Denn klar: Nach der Weimarer Republik wurde Deutschland nationalsozialistisch und es gilt natürlich auch die Fragen im Auge zu behalten: Wo fängt Faschismus an? Wie konnte es dazu kommen? Bzw. Was müssen wir heute anders machen damit es nicht dazu kommt. !2. Kaiserreich und Weimarer Republik: Orientierungslosigkeit im Bildungsbürgertum Begeben wir uns also in die Vergangenheit und versuchen wir uns zunächst zu vergegenwärtigen, wie die Situation der damaligen BildungsbürgerInnen, KünstlerInnen, Intellektuellen, die maßgeblich für die Gründung von Lebensreformbewegungen und anderen Sinnstiftungsangeboten verantwortlich waren, ausgesehen hat. Industrialisierung, Technisierung, Urbanisierung (1871 hatten nur 4,8 % der deutschen Bevölkerung in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern gelebt, 1910 waren es bereits 21,3%.4 ) hatten für die Bürger der Jahrhundertwende ein deutliches Anwachsen des Lebensstandards bedeutet; zunehmend rückten aber auch Luft - und Gewässerverschmutzung, die Ortsbilder zerstörende Mietskasernen und Industrieanlagen ins Blickfeld. Vor dem Lumpenproletariat konnte man die Augen ebensowenig verschließen wie vor der "Volksseuche" Alkoholismus.5 Die Großstadt war für viele Bildungsbürger 'große weite Welt' und gleichzeitig Moloch, ein lautes reizüberflutetes, chaotisches Durcheinander, in dem die Menschen nur noch als anonyme Masse, nicht mehr als Individuen wahrgenommen wurden. Der radikale, grundlegende Wandel in nahezu allen Lebensbereichen führte zu einer gewissen Euphorie, vor allem aber zu tiefer Verunsicherung und zu Protest. So entwickelten sich im bildungsbürgerlichen Mittelstand kulturpessimistische Strömungen, welche beharrlich mit dem "Untergang des Abendlandes" drohten oder eine eigene Vorstellung von dem, was Fortschritt ausmachte, bildeten: "Agrarromantiker" und "Großstadtfeinde" gründeten Landkommunen und Obstbausiedlungen und versprachen "neurotischen Städtern" die Wiedererweckung ihrer Sinne; Wandervogelverbände, Antialkohol -, Vegetarier -, Kleiderreform -, Sexualreform -, Naturkost -, Naturheilkunde -, Nacktkulturbewegungen bildeten ein dichtes Netz alternativer wilhelminischer Kultur, das nach dem Ersten Weltkrieg zum Teil weiterbestand.6 Die Technisierung und Urbanisierung hatte aber auch direkte Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Situation der BildungsbürgerInnen. Das Bildungsbürgertum, das sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts als geistige Führungsschicht der Nation verstanden hatte,7 sah sich nicht nur von Industriekapitänen und Verbandsführern überflügelt, sondern zunehmend auch vom Ingenieur, der im Bewußtsein der Allgemeinheit zum neuen Alleskönner und Schöpfer avanciert war.8 Ingenieure bauten die neuen Tempel und Kathedralen, Fabriken und Bahnhöfe etwa, in denen die Geschwindigkeit und Entgrenzung, die Auflösung von Orten und die damit verbundenen Schattenseiten symbolhaft thematisiert wurden (Sanduhr, Dämonen, griechische Gottheiten wie Hermes Merkur, Folie: Elektritizität und Dampfkraft als die neuen Götter, Frankfurt/Main Hbf).9 Vom Ersten Weltkrieg hatten sich große Teile des Bildungsbürgertums erhofft, daß er ihrer wirtschaftlichen Krise und der Orientierungs - und Haltlosigkeit ein Ende setzen würde. Man hoffte auf apokalyptische Reinigung durch einen karthartischen Krieg, vor allem aber suchte man in der Nation zu einer identitätsstiftenden Gemeinschaft zusammenzuschmelzen.10 Aber die erhoffte Wiedergeburt des deutschen Geistes blieb aus.11 Stattdessen sahen sich große Teile der deutschen Gesellschaft durch die Niederlage und die im Versailler Vertrag festgelegten Reparationszahlungen materiell angegriffen und ideell gedemütigt. Viele hungerten und betrauerten gefallene Söhne, Ehemänner, Väter und Freunde. Massenstreiks und bewaffnete Kämpfe im Ruhrgebiet, kommunistischer Aufruhr in München, Bremen und in Mitteldeutschland sowie der Kapp -Putsch, vor allem aber das Scheitern der menschlichen Vernunft angesichts des Ersten Weltkriegs, lösten Verbitterung und Resignation aus. !3. Der Neue Mensch auf der Suche nach Neuer Religiosität So wie die Deutschen verzweifelt nach Möglichkeiten suchten, ihre materielle Basis zu sichern, so suchten sie auch nach neuen Weltanschauungen, Glaubensgrundsätzen und Idealen, die ihnen Perspektiven vermitteln und Halt geben konnten. Die christliche Kirche war von einer den gesellschaftlichen Ton bestimmenden Autorität zum "Sonderbereich" degradiert worden,12 die Zahl der Kirchenaustritte stieg stetig. Die kirchliche Theologie, die doch Gesamtinterpretation der menschlichen Erfahrungen zu sein beanspruchte, konnte im Zeitalter der Wissenschaften, vielfach keine befriedigenden Antworten mehr geben. Der Darwinismus hatte zum Beispiel ganz andere Thesen von der Herkunft des Menschen in die Öffentlichkeit gebracht, zu denen es Position zu beziehen galt. In ganz Europa erhebe sich "eine Welle religiöser Not und Verzweiflung, eines Suchens und Sichängstigens", beobachtete der Autor Hermann Hesse, der einen Aufsatz zur "Sehnsucht unserer Zeit nach einer Weltanschauung"13 veröffentlichte, man rede von der "kommenden Religion" schon wie von einem künftigen Staatenbund.14 Angesichts der "transzendentalen Obdachlosigkeit" (George Lukács)15 traten eine Reihe neuer Lebens - und Weltdeutungen und neuer Sinnstiftungsangebote in die Öffentlichkeit, die zum Teil in scharfer Konkurrenz zueinander standen und versuchten, sich auf dem Markt der spirituellen Möglichkeiten zu behaupten. Einige, wie etwa die Anthroposophie und die völkisch -germanische Religion traten einen regelrechten Siegeszug an, aber auch Neu -Buddhisten, Gnostiker, Rosenkreuzer, Astrologen und Spiritisten hatten einen beträchtlichen Kreis von Mitgliedern oder Anhängern. Ein Zeitgenosse sprach ironisch vom "Himmel Fimmel".16 Und Carl Christian Bry, ein scharfer Kritiker der sogenannten "Verkappten Religionen", zählte in der Einleitung zu seinem gleichnamigen Buch von 1924 auf: "Esperanto, Sexualreform, rhythmische Gymnastik, Übermenschen, Faust -Exegese, Gesundbeten, Kommunismus, Psychoanalyse, Shakespeare ist Bacon, Weltfriedensbewegung, Brechung der Zinsknechtschaft, Antialkholismus, Jugendbewegung, Genie ist Wahnsinn, Fakir -Zauber, Haß gegen Freimaurer und Jesuiten, endlich das weite Gebiet des Okkutismus ...". Das "Hexenalphabet" reiche von Abstinenz bis Zahlenmystik, von Astrologie bis Zionismus und von Antibünden - mit dem Antisemitismus an der Spitze - bis zum Yoga oder der Wünschelrute. 17 !4. Beispiel Zeitschriften oder: "Wie baue ich eine Weltanschauung?" Was mich interessiert, ist nun, ob es zwischen all den verschiedenen Weltanschauungen, die in die Öffentlichkeit traten, Gemeinsamkeiten gibt. Nach welchen inhärenten Regeln wurden sie - bewußt oder unbewußt - gebaut? Gibt es Gemeinsamkeiten, Charakteristika, die diese Neuen Religionen auszeichnete? Nach welchen Regeln läuft der schöpferische Prozeß beispielhaft ab? Ihr habt die Hefte, die ihr erstellt habt mit einer Fülle von griffigen Einzelbeispielen im Hinterkopf: Vielleicht treffen die Charakteristika zu. !!Synkretismus Kombination verschiedener Elemente fremder Religiosität (Weber: "Seele ausmöbeln") - zunächst sie waren die religiösen Entwürfe nicht neu sondern setzten sich vielmehr aus einer Vielzahl von Einzelelementen außerhalb der Konfessionen zusammen. Religionsstifter und Lebensreformer bedienten sich etwa bei asiatischer Religiosität - die ja seit Schopenhauer, Goethe, den Schlegel -Brüdern und den vielfach erschienen Übersetzungen eine regelrechte Mode in Europa bildete (es gehörte etwa zum guten Ton, eine Buddhastatue im bürgerlichen Wohnzimmer stehen zu haben). Man bediente sich in der Antike, bei völkischen Religionen etwa Skandinaviens wie bei den deutschen Mystikern des Mittelalters. - Der Herausgeber der Zeitschrift die Neue Metyphysische Rundschau (1897 -917) (Folien Neue Metaphysische Rundschau Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Religion), Paul Zillmann schlug den Adepten der von ihm gegründeten "Waldloge" Übungen in nicht wenigen Bereichen parallel vor: Astrologie, Divination, Tarot, Geomantie, Alchemie, Spagyrik, Kabbala, Zahlen und Buchstaben, Petakle, Talismane und kleinere Künste der Graphologie, Phrenologie, Physiognomie, Chiromantie, Kristallomantie, Traumdeutung u.a.m. erhalten. - Und Wilhelm Schwaner, der Herausgeber der vor allen in Volksschulehrerkreisen gelesenen christlich -völkischen Zeitschrift "Der Volkserzieher" kombinierte in seiner sogenannten "Germanenbibel", die die christliche Bibel als Grundlagenwerk ablösen sollte, Texte diverser Staatsmänner, Philosophen, Mystiker und Dichter18: Bismarck, Meister Eckerhardt, Goethe, Schopenhauer, Fichte, Wagner, Pestalozzi, Lagarde, Bismarck und Treitschke: insgesamt 44 Männer. Auffällig ist bei diesen Versuchen durch Rückgriff auf Altes eine neue Religion zu stiften, daß keine klare Trennungen zwischen den Bereichen Religion und Nicht -Religion gezogen wurden. Das entsprach einem Trend der Zeit: Auch Bereiche, die vormals als profan definiert worden waren wurden nun durchaus als sinnstiftend und damit religiös aufgeladen. (Bahnhöfe: Technik und Elektrizität. In sozialistischen Zusammenhängen: die Arbeit. Auch Bereiche wie Familie, Volk, Kultur und Nation wurden sakralisiert.) - Ganz wichtig war auch ‚Bildung' als Religion (Reformpädagogik, durch Bildung zur Selbsterkenntnis und Selbsterlösung) - Auflösung der Grenzen von Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie !!Individualisierung Eine Anzeige des Eugen Diederichs Verlags (Folie) war unterschrieben mit "Allen, die ihren Weg auf eigene Weise gehen wollen, die ein Bedürfnis nach Religion und Schönheit der Seele ohne Dogmenauslegung und pedantische Gelehrsamkeit haben, liefert der Verlag seinen soeben erschienenen Katalog ‚Zur Kultur der Seele'".19 - In den konstruierten Traditionen konnten sich die Individuen frei bedienen und sich ihre eigene Patchworkreligion zusammenstellen. - Angesichts der überall wahrgenommenen Beschleunigung und der Auflösung von Verbindlichkeiten (Familie) und Orten fanden sie in den neuen Sinnstiftungsangeboten Befriedigung ihrer Sehnsucht nach erneuter Verwurzelung, Orientierung, Halt. - Besonders wichtig wurde die persönliche individuelle Erfahrung, das religiöse Erleben des "Heiligen". Selbst im deutschen Monistenbund, der sich gegen Jenseitsglauben und Religiosität wandte und in der Naturwissenschaft die neue allgemeinverbindende Weltanschauung erblickte, suchte man auf das Bedürfnis nach religiöser Erfahrung zu reagieren: Im Resumee des Hamburger Monistentages, von 1911 wurde beispielsweise beschrieben, wie "objektiv -wissenschaftliche Vorträge, die sich auf verschiedene, sehr allgemeine Fragen bezogen, in einer tausendköpfigen Hörerschaft Gefühlsstürme ausgelöst" hatten. "Gefühlsstürme von einer Reinheit und Stärke, von einer Großartigkeit und Innigkeit, wie sie in solchem Grade bisher früher nur der Glaube, das nationale Empfinden und die Kunst zu erzeugen vermocht hatten."20 - Angesichts der Sehnsucht nach individueller religiöser Erfahrung wuchs auch das Interesse an vermeintlich "Echtem", "Authentischem". In diesem Zusammenhang ist auch die Freikörperkultur, die Feier der Nacktheit zu sehen. Sowie die Suche nach der Ursprache, nach möglichst Ursprünglichem, Archaischen, Echtem. Besonderen Einfluß auf die Reformbewegungen der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik hatte Friedrich Nietzsche. Nachdem er "Gott" für "tot" erklärt hatte, feierte er die Geburt des ‚Neuen Menschen', des Individuums, das die verstaubte, bürgerliche Kultur verwarf, um sich selbst Normen zu schaffen. Auch seine Prognose der Wiederkehr des Dionysischen, also des Rauschhaften, Extatischen spiegelt sich in der Sehnsucht der Individuen nach religiösem Erleben. !!Mystik Mystik wurde zur modernen Religiosität der Intellektuellen und Künstler Statt Fremderlösung durch Jesus Christus bzw. den Priester suchte man jetzt nach Eigenerlösung. Auch der Protestantismus wurde übrigens zunehmend katholisiert (mit Weihrauch kann man sinnlich erfahren). Das Ritual kam wieder in Mode. !!Abgrenzungsstrategien Der herrschende konservativ verengte Wissenschafts - und Religionsbetrieb wurde im Gegensatz dazu von den meisten Sinnstiftungsangeboten kritisch als tot und dogmatisch, als künstlich, gespalten und unecht verurteilt. !!Gemeinschaft Obwohl Religion nun vielfach individuelle Religiosität war, und jeder seinen ganz persönlichen religiösen Style in Abgrenzung zu den anderen suchte, hörte das Streben nach Gemeinschaft nicht auf. - denn die Vereinzelung wurde durchs als schmerzhaft empfunden - man suchte nach Geborgenheit - angesichts Konfessionsspaltung, Vielfalt der Parteien in Demokratie, angesichts der Trennung von Kunst -Religion -Wissenschaft wuchs der "Hunger nach Ganzheit" (Peter Gay21).(Ganzheitsmetaphern: Wald, Mittelalter, in dem alles noch eine Einheit darstellte) Alle Zeitschriften, die ich für meine Dissertation untersuche, und die sich zunächst an einzelne LeserInnen gewandt hatten, gründeten früher oder später einen Bund, eine Loge, einen Verein oder eine Hochschule, um den Gläubigen Zusammenhalt und Gemeinschaft zu stiften bzw. ihre Gedanken zu fundieren und manifestieren. Mittel um Gemeinschaftsgefühl zu stiften waren - ein spezifischer Jargon (direkte Ansprache, Intimität: Verbindlichkeit oder Wissenschaftlichkeit, Fachjargon, um Konzept plausibel zu machen. Euphorie, Emotionalität: Werbung) - aber auch Texte, Erkennungszeichen, Mitgliedskarten, Bundesabzeichen oder Symbole auf Titelseiten !!Praxis Besondere Bedeutung maßen die religiösen Entwürfe und Reformbewegungen der religiösen Praxis zu. Hier auf der Erde, im Diesseits galt es, sich zu bewähren und auf das zukünftige Heil hinzuarbeiten. Die meisten Lebensreformbewegungen sind nach dem Schema: Paradies - Sündenfall - Erlösung gestrickt, wobei dann die jeweilige Reformbewegung, das Sinnstiftungsangebot genaue Angaben machte, wie die Erlösung von dem Sündenpfuhl - der als unerträglich wahrgenommenen Gegenwart - zu erreichen sei. Der jeweilige Weg, war ein Heilsweg. Man war nicht Vegetarier, weil man kein Fleisch mochte, oder es ablehnte, Fleisch zu essen, sondern weil man hoffte durch Vegetarismus Heil zu erlangen. !!Erlöserfiguren Eine besondere Rolle bei der Gründung von Religionsgemeinschaften spielten außerdem Erlöser, Heilandsfiguren und Führer, da sie als perfekte Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Massen fungierten und die eigene Verantwortung für Leben und Sterben zumindest gedanklich auf sie und ihre Macht zu schieben war. !5. Beispiel Erlöser oder: "Der Hunger nach dem Heiland - Rabindranathh Tagore in Deutschland" Als Beispiel möchte ich den Siegeszug des indischen Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore anführen, der 1921, 1926 und 1930 Deutschland besuchte, um Freunde zu treffen und für eine Zusammenarbeit des 'Westens' mit dem 'Osten' zu werben. Er übernahm dabei die in Kreisen britischer und indischer Intellektueller verbreiteten Vorstellungen, daß sich die 'östliche' Kultur, die er wie andere mit Indien gleichsetzte, durch ihre spirituelle Tiefgründigkeit auszeichne und daß sich 'Osten' und 'Westen' gegenseitig ergänzten. Sein erster Besuch, den er als Sechzigjähriger 1921 unternahm, löste eine regelrechte Tagore -Mode aus. (Folie Berliner Illustrierte) In den Auslagen zahlreicher Schaufenster waren seine Bücher ausgestellt, sein Porträt wurde an Litfaßsäulen angeschlagen, es gehörte zum guten Ton, einige Bände Tagore im Bücherschrank stehen zu haben. Wo immer der Autor seine Gedichte rezitierte oder Vorträge hielt, wurde er stürmisch empfangen und die Auflagen seiner bei Kurz Wolff verlegten Bücher schossen in die Höhe (Folie Tagore und Kurt Wolff). In Berlin war Tagore das Ereignis der Saison. Zu seinen Vorträgen, in denen er für die Zusammenarbeit von 'Ost' und 'West' warb und bengalische Gedichte rezitierte, kamen in Hamburg, Berlin, München und anderen deutschen Großstädten weit mehr Menschen, als die Vortragssäle fassen konnten. (Folie Ankündigung) Tagore selbst machte der enorme Erfolg skeptisch, aber er fühlte sich auch geschmeichelt. Er hatte den Eindruck, seine Mission stehe unter einem guten Stern, und das deutsche Bildungsbürgertum sei wie er an einer Zusammenarbeit des 'Westens' mit dem 'Osten' interessiert. Sein Erfolg von 1921 gründete sich aber weniger auf den Inhalt seiner 'Botschaften', als vielmehr auf seine äußere Erscheinung, seine Persönlichkeit. In der materiellen wie emotionalen Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tagore zum Hoffnungsträger, zum Heiland. Nationalliberale und konservative Bildungsbürger stilisierten Tagore gemäß einer in der Romantik konstruierten Idealvorstellung zum 'vollkommenen', ganzheitlich gebildeten Menschen, der in seiner Person Dichter, Philosoph und Priester vereint. Sie charakterisierten ihn nicht, wie etwa diejenigen Inder, die auf Völkerschauen vorgeführt wurden, als 'edlen Wilden'. Tagore galt als aristokratischer Vertreter der geistigen Elite Indiens. Viele Weimarer Zeitgenossen hingen noch der romantischen Vorstellung an, daß sich innere Schönheit äußerlich niederschlägt und beschrieben den Sechzigjährigen mit seinen sanften Gesichtszügen dem gelockten weißen Haar als schön. Er entspreche dem klassischen Schönheitsideal der Antike und sei der 'Goethe Indiens', hieß es vielfach. Tagore verkörperte für die nationalliberalen und konservativen Bildungsbürger die goldene Vergangenheit, eine Zeit in der sie als vermeintliche Träger des 'Geistes' noch Geltung besaßen. Hatten die Bildungsbürger bereits vor dem Ersten Weltkrieg feststellen müssen, daß das Prestige technischen Wissens stieg und daß humanistische Bildung längst nicht mehr einziger Garant für gesellschaftlichen Aufstieg war, so mußten sie nach dem Krieg realisieren, daß zunehmend Angehörige des Mittelstandes an die Universitäten drängten und ihr Privileg auf akademische Bildung ebenfalls gebrochen war. Zusätzlich verzweifelt wegen des verlorenen Krieges, der eine enorme Schuldenlast hinterlassen hatte, die zur Geldentwertung und damit zu wirtschaftlicher Not und Hunger führte, beurteilten die Bildungsbürger ihre Lage als katastrophal. Sie übertrugen ihre Verzweiflung auf die gesamte Nachkriegsgesellschaft und prognostizierten im Sinne des konservativen Geschichtsphilosophen Oswald Spengler den 'Untergang des Abendlandes'.22 Dabei griffen sie auf das mythische Schema von Paradies - Sündenfall - Erlösung zurück. Als Sündenpfuhl empfanden sie die Republik der Nachkriegszeit, in der sie sich zur Bedeutungslosigkeit degradiert sahen. Die Erlösung stellte für große Teile des nationalliberalen und konservativen Bildungsbürgertums eine neue Gesellschaftsform dar, die die Weimarer Demokratie ablösen würde: Als Paradies auf Erden stellten sie sich beispielsweise eine Ständegesellschaft vor, die sie selbst in einer Gemeinschaft der am höchsten gebildeten Menschen, in einer sogenannten 'Geistesaristokratie', an Stelle der gewählten Parteipolitiker anführen würden. Vor allem der Philosoph Hermann Graf Keyserling, der in seiner Darmstädter 'Schule der Weisheit' eine Tagore -Woche veranstaltet hatte, sowie Autoren des neoromantischen Eugen Diederichs Verlags präsentierten Tagore als leuchtendes Vorbild für die Träger einer ersehnten Geistesaristokratie. Keyserling ging davon aus, daß Deutschland anders als die anderen westlichen Nationen 'dem Wesen nach' wie Indien ein 'Kastenvolk' sei. Deshalb würde sich Deutschland ganz automatisch, ohne militärische Aktionen oder politische Reformen gemäß seiner Begabungen in Kasten oder Stände schichten. Keyserling, der Tagore zwar als Vorführobjekt benutzte, Inder aber als weltabgewandt und deswegen unfähig zum Herrschen abqualifizierte, übertrug die Idee einer ständisch gegliederten Gesellschaft von der nationalen auf die internationale Ebene und wies Deutschland, als 'seelisch tiefstem', 'innerlichstem', 'reinstem' und vor allem 'geistigstem' Volk, die Führungsspitze einer internationalen Ständegesellschaft zu. Zu den Deutschen passe weder der französische Zentralismus noch der Englische Parlamentarismus,23 schrieb er 1926: "Die Deutschen sind ein Kastenvolk, hierin den Indern ähnlich; dies liegt an ihrer angeborenen Einstellung.24 Besonders in der bündischen Jugendbewegung bestand aber auch das Bedürfnis nach religiöser Erfahrung etwa der nationalen Religion. Auch hierfür wurde Tagore bemüht. (Folie Nerother Wandervögel in Shantiniketan) Sein selbsternannter Mentor Hermann Graf Keyserling inszenierte ein entsprechendes deutsches Volksfest, das es den Jugendlichen wie Erwachsenen ermöglichte, ihre Nation zu sakralisieren. Als Ort für die Feierlichkeiten wählte Keyserling keine zentrale Stelle, wie etwa den Marktplatz, sondern einen Berg in der Umgebung Darmstadts. Es ging ihm weniger darum, einen Platz in verkehrstechnisch günstiger Lage zu finden, als vielmehr eine Art Weiheplatz, der in einer Umgebung liegt, die die Emotionen anregt. In der Jugendbewegung war die Vorstellung verbreitet, daß die Natur eine Seele besitze, mit der sich die einzelne menschliche Seele oder auch die Seele eines ganzen Volkes verbinden könnte.25 Demnach entstünden durch die Synthese von 'Volksseele' und Natur national geprägte Landschaften. Als Deutsch galt eine Landschaft, wenn sie den Idealen der Romantik entsprach, die ihrerseits wieder auf ein verklärtes Mittelalterbild zurückgingen: Eine mit Bäumen und Felsbrocken unregelmäßig durchsetzte Hügellandschaft, vielleicht im Schatten einer trutzigen Burgruine.26 Mit dem Herrgottsberg in Darmstadt hatte sich Keyserling eine solche typisch romantische Landschaft ausgesucht. Die DNVP -nahe 'Deutsche Allgemeine Zeitung' hatte darauf hingewiesen, daß der Herrgottsberg "nach Angabe des Führers durch Darmstadt" eine mit romantischen Felszacken durchsetzte Waldpartie sei, in der "Goethe und die Darmstädter Empfindsamen sich mit Vorliebe herumgetrieben hätten."27 Angeblich hatte der Herrgottsberg schon die Sinne deutscher Dichter beflügelt. Berge galten wegen ihrer Nähe zum Himmel als numinose Orte und Sitze der Götter.28 Was den Ablauf des Festes angeht, so weichen die Berichte der Journalisten voneinander ab. In den liberalen 'Hamburger Nachrichten', deren Leserschaft die Ereignisse in Darmstadt aus großer räumlicher Distanz erfuhr, beschrieb der konservative Günther v. Dewitz die Vorgänge - wie auch zahlreiche andere Autoren29 - in psalmodierendem Tonfall.30 Seine Darstellung mutet wie die Schilderung der liturgischen Abfolge eines Gottesdienstes an: "Im Walde bei Darmstadt heißt eine hügelige Erhebung der Herrgottsberg. Dorthin pilgerten am Sonntag nachmittag die Massen des Volkes, um mit Tagore ein Fest zu feiern. (...) Und jubelnd fallen sie wieder ein mit ihren Liedern Deutschland, Deutschland über alles ... klingt's aus dem fernsten Umkreis und pflanzt sich orkanartig fort, bis der deutsche Wald vom Sange widerhallt; und sie grüßen ihn. Wer hat dich du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben, und preisen Gott: Wir treten zum Beten ... und singen, im Herzen vereint mit der Natur und Tagores Empfinden; wir beten an die Macht der Liebe! [...]"31 Nachdem Tagore die Gemeinschaft gesegnet hat, wird die deutsche Nation durch erneutes Singen geheiligt. Die Singenden verschmelzen, laut Dewitz Darstellung, betend zur mystischen Einheit, die über die Grenzen des heiligen Bezirks hinausgeht und die Natur mit umfaßt. Wie die Journalistin Lily Pringsheim anläßlich von Tagores zweitem Deutschlandbesuch 1926 in der linksintellektuellen Zeitschrift 'Der Querschnitt' beschrieb, handelte es sich jedoch weniger um einen Gottesdienst als um ein derbes Volksfest.32 Die Darmstädter Publizistin und Abgeordnete im Hessischen Landtag berichtete, daß die ganze Zeit ein großes Durcheinander geherrscht habe. Kritisch gegenüber jeder Verklärung des Festes beschrieb sie, daß die Gesänge, zu denen der Großherzog seine "Kinder" aufgefordert habe, nicht etwa spontan angestimmt worden seien, vielmehr habe es etwas gedauert, weil so viele Selters -33 und Bierwagen die Aufmerksamkeit der Leute in Anspruch genommen hätten. Die Bürger hätten "Skat und Biergarten um des Ereignisses willen" sein gelassen. Die Frauen hätten ihre in Zeitung gewickelten Kuchen ausgepackt, ihre Kinder hochgehoben und gesagt: "Willste mal das Tagorche sehe? Da obbe der Mann im grauen Gimono is er!" Mit Spott, Sarkasmus, und Ironie beschrieb Lily Pringsheim, wie Tagore "deutsches Familienleben, deutscher Wald und Sing -Sang" vorgeführt werden sollte:34 Plötzlich seien "teutonische Jungfrauen und Jünglinge mit bunten Kitteln und bloßen haarigen Beinen" hervorgestürzt. "Den Jungfrauen flatterten echte deutsche Zöpfe um ihre verschwitzten Gesichter, und sie tanzten "Deutsche Volkstänze" unter "dumpfen Bardengesängen." "[...] als Tagore in fassungsloser Hilflosigkeit nach seinem Wagen verlangte, spannten Jungfrauen und Jünglinge die feurigen Rösse aus und zogen den Weisen selbander durch die beglückte Volksmenge. Mehrere Intelligenzbrillen kamen unter die Räder, Menschenleben wurden nicht verletzt. Gebüsche und Beete litten sichtlich durch die Begeisterung, Staubwolken wirbelten, das Volk raste hinterher, prächtig entfaltete sich deutsches Leben, deutsches Denken, deutsches Gemüt. Tagore reiste etwas erschöpft am Abend fort."35 Tagores Wirkung in der Jugendbewegung basierte nicht auf seinem gesellschaftlichen Status oder seiner politischen Macht, sondern auf seiner Ausstrahlung. Besonders sein väterlicher, beschützender und beruhigender Gestus wirkte anziehend auf die Jugendlichen, die sich oftmals im Generationskonflikt von ihren eigentlichen Vätern distanziert hatten, aber dennoch nach Leitbildern und Autoritäten suchten.36 Immer noch erinnere er sich daran, erzählte der damals 15jährige Pfadfinder Kurt Manck, wie Tagore sich plötzlich unter die Jugend gemischt habe, um die ihm zugestreckten Hände zu schütteln und Einigen - unter anderem auch ihm - die Hand aufzulegen.37 Charisma galt als wesentlicher Charakterzug, der einen Führer auszeichnete. Der Führer, auf den viele Studenten nach dem Ersten Weltkrieg hofften, sollte eine eindrucksvolle Verkörperung von Geistesmacht sein - strahlend, außergewöhnlich, überzeugend, groß.38 1921, als die Tagore -Mode ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde erstmals Max Webers kurze Theorie der "charismatischen Herrschaft" veröffentlicht, die er zwischen 1911 und 1913 verfaßt hatte: "Charisma soll eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit natürlichen und übermenschlichen oder mindestens außeralltäglichen, nicht jedem zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesegnet oder als vorbildlich und deshalb als 'Führer' gewertet wird."39Die Theoretiker der Jugendbewegung beschrieben ähnliche Qualitäten als typische Kennzeichen eines Führers. Hans Blüher behauptete zum Beispiel, daß ein Führer die Personifikation "ungewöhnlicher, Anerkennung und Gefolgschaft heischender Kräfte" sei und seine Legitimation deshalb nicht von einer Wahl oder Bestätigung ableite, sondern sie in sich trage. Niemandem sei ein Führer Rechenschaft schuldig als dem "Geist".40 (Folien Simplizissimus) In der Weimarer Republik war es durchaus keine Seltenheit, daß sich einzelne Personen Erlöser nannten, durch die Straßen zogen und das, was sie für das Heil hielten, lauthals verkündeten. Die Art in der sich die sogenannten "Inflationsheiligen" oder "barfüßigen Propheten"41 in der Öffentlichkeit bewegten und die Aufmerksamkeit vieler Leute auf sich zogen, schwankte zwischen Selbstmitleid als deklassiertes Opfer der Gesellschaft und der heroischen Pose des Sozialrevolutionärs, in manchen Fällen steigerte sie sich bis zum cäsaristischen Übermenschenkult.42 Ludwig Derleth, ein Münchner Bohéme, den Thomas Mann in seiner Erzählung "Beim Propheten" portraitierte,43 war zum Beispiel ein "verkrachter Lateinlehrer und Dichter mystischer Epen",44 der in Paris und Schwabing ergebene Jünger um sich scharte und Papst werden wollte. Und der sogenannte "Kohlrabiapostel" Karl Wilhelm Diefenbach lebte als vegetarischer Maler mit seinen Schülern und Kindern in einem Steinbruch, ließ seine Haare lang wallen, hüllte sich in eine grobgewebte Tunika und eiferte seiner Vorstellung von Urchristentum nach.45 Viele dieser sogenannten "Inflationsheiligen" glichen Tagore was Ausstrahlung oder Aussehen betraf, einige versuchten sich mit ihm zu messen. So verkündete Leonard Stark, der seinen Namen zum Programm machte, einen "fühlbaren" Obrigkeitsstaat proklamierte und auch sein Geschlechtsorgan als Erlösungswerkzeug begriff,46 im Herbst 1921 auf Plakaten in Dortmund: "Das, wovon Rabindranath Tagore, Dr. Steiner u.a. schreiben, das Bin Ich: Ein Mensch des Seins und der Wahrheit."47 Im Frühjahr 1922 prangte sein Bild auf Berliner Litfaßsäulen mit dem lapidaren Vermerk: "Ich bin mehr als Rabindranath Tagore. Stark."48 !6. Esoterisch, totalitär, faschistisch? Die Lebensreformbewegung ist keineswegs ein rein deutsches Phänomen. Religiöse Sinnsuche ist in allen Staaten der westlichen Welt zu verzeichnen. Theosophie, Spiritismus und Okkultismus wurden etwa aus Amerika, England, Rußland und Indien nach Deutschland importiert. Die Alternativkultur, Freikörperkultur, Ökologiebewegung ist jedoch vorwiegend im deutschsprachigen Raum zu finden. Hier war eine spezifische Situation durch Form der Partizipation an der internationalen Staatenkonkurrenz gegeben ("verspätete Nation", Minderwertigkeitskomplex aufgrund mangelnder Kolonialmacht, Versailles: Reparationszahlungen brachten Gefühl der Demütigung.) Die Alternativbewegungen und religiösen Entwürfe erscheinen vor dem Hintergrund der wilhelminischen Kultur als Ausbruchversuche. Sie zeigen eine Vielfalt an Freiräumen, selbstbewußten neuen Lebensentwürfen eines Bildungsbürgertums, das um seinen Status fürchtete. In der Rückschau erscheinen sie in ihrer Gesamtheit als Möglichkeit einer fragmentierten Öffentlichkeit, in der Fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen, nach dem Sinn des Lebens und der Organisation der Gesellschaft selbstbewußt und engagiert öffentlich verhandelt wurden. Aber so vielfältig und plural die Öffentlichkeit der Weimarer Republik erscheint, so deutlich treten Homogenisierungsversuche auf, politische Entwürfe, die Gesellschaft "organisch" oder ständisch zu gliedern. Nicht nur die Entwürfe einer konservativen Revolution49 enthalten völkisches und totalitäres Gedankengut, das uns aus heutiger Perspektive unästhetisch und vor dem Hintergrund des damals wachsenden Nationalsozialismus gefährlich erscheint. !!Wo also fängt Faschismus an? - Bei der Essentialisierung und Substantialisierung von Idealen, Werten oder Eigenschaften? Der Stuhl, den Gott früher besetzt hatte, blieb bei den verschiedenen Sinnstiftungsangeboten nicht leer, vielmehr wurden andere Dinge darauf gesetzt. (Ariosophen: deutsche Rasse; Monisten: Naturwissenschaft und Technik; Metaphysiker: Fluidum, Astralstoff; Nationalliberale Bildungsbürger: Der Deutsche Geist o.ä.) - autoritäre Systeme drohen vor allem dann, wenn diese substantialisierten Ideen genutzt werden, um weltliche Macht zu erlangen bzw. das jeweilige Konzept als Grundlage einer genau abgegrenzten Gemeinschaft festzuschreiben. - - - - - - - - - - - - - -Fussnoten: 1 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1917), Stuttgart 1995, S. 43. 2 Vgl. Justus H. Ulbricht: Wider das "Katzenjammergefühl der Entwurzelung", Intellektuellen -Religion im Eugen Diederichs Verlag, in: Buchhandelsgeschichte 3, 1996, S. 111 -120, hier S. 111. 3 Fritz Klatt: Ja, nein und trotzdem. Gesammelte Aufsätze, Jena 1924, S. 67. 4 Hierzu und zum Folgenden Ulrich Linse: Ökopax und Anarchie, Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München 1989, S. 14f. 5 Elke Hausschild: Strafe als Hilfe? Aus drei Jahrzehnten Hamburger Trinkerfürsorge 1922 - 1950, Vortragsmanuskript zur Tagung "Macht Stadt krank?", (unveröffentl.) Hamburg 1992, S. 2. 6 Vgl. Linse: Ökopax, S. 18. Zur Lebensreformbewegung vgl. grundlegend Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974; Krebs, Diethard / Reulcke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 - 1933, Wuppertal 1998. 7 Vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, S. 201f; ders.: Das wilhelminische Bildungsbürgertum, S. 30. 8 "Dem Ingenieure ist nichts zu schwere, er lacht und spricht: "Wenn/ dieses nicht, so geht doch das!" Er überbrückt die Flüsse und die Meere, die /Berge unverfroren zu durchbohren ist ihm Spaß. Er türmt die Bögen in/ die Luft, er wühlt als Maulwurf in der Gruft, kein Hinderniß ist ihm zu groß, er geht drauf los! [...]." Ingenieurlied, in: Allgemeines Deutsches Kommersbuch, 86. -90. Aufl. (o.J.), Nr. 150, S. 141, hier zit. nach Wolfgang Bickel: Siegeszug der Eisenbahn. Zur Bildsprache der Eisenbahnarchitektur im 19. Jh., Worms 1996, S. 34. Vgl. Detlev Peukert: Die Weimarer Republik, Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 238. 9 Wolfgang Bickel: Siegeszug der Eisenbahn. Zur Bildsprache der Eisenbahnarchitektur im 19. Jh., Worms 1996. 10 Vgl. Hagen Schulze: Gesellschaftskrise und Narrenparadies (Vorwort), in: Linse: Barfüßige Propheten, S.9 -20, hier S. 19. 11 Vondung: Apokalypse, S. 205. 12 Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch, Deutschland 1870 - 1918, München 1988, S. 118 -123, hier S. 123. 13So der Titel eines Aufsatzes von Hesse, wiederabgedruckt unter dem Titel 'Moderne Versuche zu neuen Sinngebungen', in: Volker Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses 'Siddhartha', 1. Bd., Frankfurt/M. 1986, S. 363 -369. 14Hermann Hesse: Die Reden des Buddha, in: Neue Züricher Zeitung, 16.8.1922, hier zitiert nach Michels (Hg.): Materialien, Bd. 1, S. 161. 15 Justus H. Ulbricht: "Transzendentale Obdachlosigkeit", in: Braungart, Wolfgang/ Fuchs, Gotthard / Koch, Manfred (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: um 1900, Paderborn 1998. 16 Hugo Efferoth: Himmel Fimmel. Eine Studie zur Sektenseuche der Gegenwart (veröffentlicht im Auftrag der Gemeinschaft proletarischer Freidenker Deutschlands), 4. Aufl., Dresden 1923. 17 Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns, hg. v. Martin Gregor -Dellin, München 1979 (Gotha und Stuttgart 1924), S. 34. 18 Ders.: Germanenbibel, Aus heiligen Schriften germanischer Völker, Berlin 1921, S. 7. 19 Vgl. Ulbricht: Wider das "Katzenjammergefühl der Entwurzelung", Intellektuellen -Religion im Eugen Diederichs Verlag, in: Buchhandelsgeschichte 3, 1996, S. 111 -120, hier S. 111. 20 1. April 1912 Heft 1 Herausgeber: Wilhelm Ostwald, Redaktuer: W. Bloßfeld, Zur Einführung, in: Das monistische Jahrhundert 1912 Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Kulturpolitik, (6. Jahrgang der Zeitschrift des Deutschen Monistenbundes), S. 1 -4. 21 Peter Gay: Republik der Aussenseiter, Geist und Kultur in der Weimarer Zeit. 1918 -1933, New York 1968. 22 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes, München 1986. 23 Keyserling: Neuentstehende Welt, S. 55f. 24 Ebd., S. 56, S. 69. 25 George L Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1991, S. 23. Vgl. auch Ders.: Die Nationalisierung der Massen, Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a. M./Berlin 1976, S. 50. 26 Vgl. Rabindranath Tagore auf Burg Hohnstein, in: Leipziger Volkszeitung, 22.7.30. Das eigene ästhetische Empfinden wurde hier auf den Dichter projiziert: "Rabindranath Tagore war sichtbar stark bewegt von dem herrlichen Gesamtbild der trutzigen Burg, die in strahlendem Sonnenschein und Flaggenschmuck den großen Inder empfing." 27 G.R.: Tagore in Darmstadt, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 16.6.1921. 28 Kurt Goldammer: Das Heilige in Naturgewalten, in: Ders.: Formenwelt des Religiösen, Stuttgart 1960, S. 81ff. Vgl. auch Psalm 121,1: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt." 29 Den Sonntag auf dem 'Herrgottsberg' beschrieben im Stil eines biblischen Textes oder einer Legende z.B. Margarete Hopf: Tagoretage in Darmstadt, ohne Erscheinungsdatum und Ort, Privatarchiv Kämpchen (Kämpchen fand den Artikel undatiert u. ohne bibliographische Angaben im Keyserling -Archiv, Darmstadt); Erwin Rousselle: Die Legende der Darmstädter Tagore -Woche (9. -14. Juni 1921), Bonn 1991; auch in: Der Weg zur Vollendung, Mitteilungen der Schule der Weisheit Darmstadt, Heft 2 1921. Deutliche Kritik an Keyserlings Inszenierung übte hingegen Wilhelm Michel: Philosophische Maitage in Darmstadt, in: Das Tagebuch, hg. v. Stefan Großmann, Berlin, 2. Jg., Heft 24, 18.6.1921, S. 748 -752; ders.: Darmstadt, Keyserling und Tagore, in: Feuer. Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur, Weimar, 2. Jg. 1920 -21, Bd. II, S. 650f; ders.: Tagore im Saalbau, in: Hessischer Volksfreund, 11.6.1921. 30 Günther v. Dewitz: Tagore in Darmstadt, in: Hamburger Nachrichten, 20.6.1921. 31 Ebd. 32 Mütter riefen: "Willste das Tagorsche sehe?". Indischer Dichter 1923 in Darmstadt - Wie die Journalistin Lily Pringsheim das Spektakel sah, in: Darmstädter Echo, 21.5.1986, ursprünglich in "Der Querschnitt" 1926. 33 Hessische Mineralwassermarke. 34 Mütter riefen: "Willste das Tagorsche sehe?". indischer Dichter 1923 in Darmstadt - Wie die Journalistin Lily Pringsheim das Spektakel sah, in: Darmstädter Echo, 21.5.1986. Ursprünglich in "Der Querschnitt" 1926. 35 Ebd. 36 Vgl. Karl Prümm: Jugend ohne Väter. Zu den autobiographischen Jugendromanen der späten zwanziger Jahre, in: Koebner/Janz/Trommler (Hg.): "Mit uns zieht die neue Zeit", S. 563 -589. 37 Kurt Manck im Vortrag v. 26.4.1992, gehalten im Rahmen des Tagore -Symposions, Darmstadt (Festival of India) 23.4. - 26.4.1992, Privatarchiv Kämpchen. Die Notiz "auch mir [legte er die Hand auf]" ist im Manuskript des Vortrags nachträglich eingefügt. 38 Hubert Cancik: Religions - und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 41. 39 Max Weber: Grundriß der Sozialökonomik, 3. Abteilung: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 19473, hier zit. nach Helmer, S. 108. 40 Karl Helmer: Aspekte einer Topologie des Führens, in: Knoll/Schoeps (Hg.): Typisch deutsch, S. 101 -120., S. 108. 41 Vgl. grundlegend: Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983. 42 Ebd., S. 29. 43 Thomas Mann: Beim Propheten, in: Gesammelte Werke, Bd. 8: Erzählungen, Oldenburg 1960, S. 362 -370. 44 Hagen Schulze: Gesellschaftskrise und Narrenparadies, in: Ulrich Linse: Barfüßige Propheten, S. 9 -20, hier S. 19. 45 Ebd., S. 19f. 46 Linse: Barfüßige Propheten, S. 224. 47 Ebd., S. 221. Schreibweise i.O., mit Dr. Steiner meint er Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie. 48 Ebd. 49 Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus, Frankfurt/New York 1989. +