Antiurbanismus und der Mythos vom natürlichen Leben
von Christoph Laimer

Im Grünen fings an und endete blutigrot
Kurt Tucholsky 1919

Es mag romantisch sein, die Heilung von gesellschaftlichen Übeln in ländlicher Umgebung oder unter unschuldigen, unverdorbenen Provinzlern zu suchen (so es solche gibt), aber es ist Zeitverschwendung. Glaubt denn wirklich irgend jemand, daß die Antworten auf die großen Fragen, die uns bewegen, aus homogenen Siedlungen kommen könnten?
Jane Jacobs 1961

In der Ablehnung von Urbanität und Großstadt finden sich die unterschiedlichsten politischen Strömungen wieder. Gemeinsam ist ihnen meist eine Verherrlichung von Natur und dem Leben in kleinen Gemeinschaften. Der folgende Überblick versucht Kontinuitäten des Antiurbanismus aufzuzeigen und die dafür verwendeten Argumentationslinien herauszuarbeiten.

Großstadtfeindschaft und Agrarromantik als Folge der Aufklärung

Konservative Kulturkritik

Der Ursprung von Großstadtfeindschaft und Agrarromantik ist in der konservativen Kulturkritik des 19. Jahrhunderts. zu suchen. Der Konservativismus entstand mit der Kulturkritik und kann als indirekt durch die Aufklärung hervorgebrachte Ideologie verstanden werden. "Konservatives Denken ist aufklärerisches Denken, das sich gegen seine eigenen Konsequenzen wendet." Die Befreiung des Subjekts aus den feudalen Eingebundenheiten und die damit verbundene Umstrukturierung löste Traditionen, gesellschaftliche Zusammenhalte und schichtenspezifische Strukturen auf , was in den bürgerlichen Schichten als "Kulturkrise" empfunden wurde. Mit seiner Forderung nach einer Rückkehr zum "alten Wahren" gerät der Konservativismus in einen Widerspruch, weil er einerseits die "Überzeitlichkeit" der "ewigen Werte" postuliert, jedoch gleichzeitig gegen ihren drohenden Verlust ankämpft.
"In dieser Zeit findet eine Transformation des aufklärerischen Naturideals in das Konservative statt. Das konservative Naturideal beruht jedoch, gemäß der Ideologie des Konservatismus, auf einem anderen Verständnis der Mensch-Natur-Beziehung, als jenem der Aufklärung. Das Ideal der Aufklärung war ein auf Emanzipation von Naturzwängen gerichtetes, denn durch die Einigung im Gesellschaftsvertrag auf der Basis der Vernunft sollten die Menschen Autonomie gegenüber der `Natur` erlangen. (...) Das Naturideal der Aufklärung ist, im Gegensatz zum konservativen, konstruktivistisch, denn Natur gilt nicht als vorgegeben, der man sich passiv anzupassen hat, sondern als zu bearbeitende und umzugestaltende."
Im Konservativismus wird aus dem ästhetischen Prinzip der Konstruktion ein organizistisches - "schöne Landschaft kann nur als gelingende Anpassung des Menschen an den Lebensraum interpretiert werden." Wurde die Natur und das Land von den Angehörigen des Bürgertums früher gegen den "unnatürlichen" Hof gewendet, war später die Stadt das Feindbild. Sie stand für "Unnatürliches" wie Rationalität, Atheismus, Abstraktion, Wissenschaft, Theorie, Spekulation. Die Natur wurde somit "objektiv konservativ" (Ludwig Trepl) und privates Rückzugsgebiet für Bürger. "Natur wird im konservativen, idiographischen (...) Weltbild also nicht als etwas beherrschbares angesehen, dem der Mensch gegenübersteht und das er benutzen kann, sondern kann als sinnstiftende Instanz fungieren." "Die idiographische Position verhindert durch ihre Bindung an organische Ganzheiten die individualistische Autonomie- und Emanzipationsvorstellung des gegnerischen aufklärerischen Weltbildes. Die anti-industrielle Haltung des idiographischen Weltbildes hat ihr Vorbild in der vorindustriellen Ordnung des Feudalismus: Leibeigene der `Mutter Erde´ leben danach in `naturgemäßer´ Lebensform. Die Bodenbindung der Menschen und insbesondere der Bauern repräsentiert die Einheit Mensch/Erde bzw. Volk/Raum, weil diese sich durch die Arbeit an die konkrete Natur binden lassen und sich mit ihr auseinandersetzen."
Als Begründer einer Tradition, die sich dem Kampf gegen die Großstadt als Symbol des modernen Industriestaates verschrieben hat, gilt der deutsche Kulturhistoriker und Novellist Wilhelm Heinrich Riehl. In seinem Mitte des 19. Jahrhunderts erschienenen Hauptwerk "Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik" sieht er die Familie als Keimzelle der Gesellschaft durch den Prozess der Verstädterung bedroht. Das Leben in der Großstadt zerstöre die Familien und führe zur Vereinzelung der Individuen. Die Nerven der Individuen würden durch das Wuchern der Stadt "ruiniert". Im städtischen Raum verortete er den "Nährboden für den socialistischen Geist der Gleichmacherei" . Vorbild und Orientierungspunkte für konservativ-nationale Kulturkritiker wie Riehl bildeten die bäuerliche Agrargesellschaft und Aspekte des europäischen Mittelalters.
Mit Riehls Schriften war der Rahmen für die Großstadtkritik und die Agrarromantik für die nächsten achtzig Jahre vorgegeben: "Verstädterung und Landflucht, soziale Risiken, Proletarisierung, Vereinzelung, schleichende Erkrankung der Gesellschaft und des Staates, städtischer Bevölkerungsanstieg und Entleerung des ländlichen Raumes sowie überhaupt der Verlust der bäuerlichen Lebenskultur und damit der Sieg von Kriminalität, Krankheiten und der Niedergang der Moral blieben bis zu den Nationalsozialisten die zentralen Topoi konservativer Kulturkritik."

Naturschutz als Heimatschutz

Um die Jahrhundertwende entstanden die ersten Gruppen, die sich gegen die Naturzerstörung in Folge der Industrialisierung organisierten. Der Kampf gegen die Naturzerstörung war für die Bildungsbürger, Beamten und Selbstständigen, die die soziale Basis der Bewegung bildeten, von Anfang mit "Heimatschutz" verknüpft. Als Vater der Bewegung gilt der Musiker Ernst Rudorff. Das Leben am Land galt ihm als "natürliche Daseinsform (...) bei der jedes einzelne Glied der Gesamtheit auf seine Rechnung kam" Ähnlich wie Riehl sah Rudorff, Mitbegründer des Bund Heimatschutzes, einen ständischen Agrarstaat als Ideal an. Städte galten ihm als Orte für "gewinn- und vergnügungssüchtiges Volk" Die Kritik an der modernen Architektur und der Denkmalschutz waren neben dem Natur- und Landschaftsschutz zentrale Betätigungsfelder für den 1904 gegründeten Bund Heimatschutz. In den folgenden beiden Jahrzehnten änderte sich die Ideologie der Natur- und Heimatschutzbewegung: Galt die Kritik anfangs der Industriegesellschaft im Allgemeinen, sahen sich die AktivistInnen nun von der historischen Entwicklung überrollt. Die organische Eingebundenheit des Menschen in ein Naturganzes schien nach Krieg, revolutionären Aufständen und Demokratisierung von den "ökonomischen Notwendigkeiten" verdrängt. "Die Zerstörung der heimatlichen Landschaft wurde nicht mehr der fortschreitenden industriellen Produktion, sondern der Degenerierung und drohenden Entartung des deutschen Volkes angelastet." Hans F. K. Günther, erster Präsident des Bundes Heimatschutz nach 1918, schreibt: "Anders als durch eine Mehrung der Minderwertigen auf dem Weg der Fortpflanzung lässt sich die allerorts beobachtete Erscheinung, dass unsere gesamte Umwelt ständig trüber und häßlicher wird und stumpfere Züge annimmt, in ihren tieferen Ursachen nicht erklären."
Als einen Klassiker des Antiurbanismus könnte man Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes" lesen. Aus der Einleitung zum ersten Band: "Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum (und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende." Spenglers Großstadtfeindschaft unterscheidet sich nach Dieter Münk von derjenigen seiner konservativen, nationalen und völkischen Zeitgenossen: Spengler hielt die Utopie eines Agrarstaates für sinnlos und bezeichnete die völkischen AktivistInnen der Siedlungsbewegung als "Witzfiguren der Geschichte", Deutschtümelei bleibt ausgespart.

Siedlungsbewegung, Lebensreformbewegung

"Vor dem Hintergrund von Oswald Spenglers und Ludwig Klages` Lebensphilosophie und ihrem Dualismus von Tod und Leben, dem Gegensatz von Stadt und Land, von rationaler Kälte und mystischer Naturverbundenheit, von krankmachender Architektur und gesunder Natur, aber vielleicht auch von jüdisch und germanisch/arisch/deutsch zogen sie (die AnhängerInnen der Siedlungs- und Lebensreformbewegung; Anm. C.L.) die Konsequenz, bereits in ihrem eigenen Leben so natürlich wie möglich leben zu wollen." . Die SiedlerInnenbewegung deckte politisch ein breites Spektrum ab und war keineswegs nur rechts. Vor dem ersten Weltkrieg standen ökologische und landwirtschaftliche Aspekte im Vordergrund, danach rückten immer mehr völkische und religiöse Ideologien ins Zentrum des Interesses der SiedlerInnen. Die Ansicht, dass das Stadtleben zu Degenerations- und Entartungserscheinungen im deutschen Volk führt und diese nur durch naturnahes Leben, gesteuerte Zuchtauswahl und arteigene Spiritualität zu verhindern sind, konnten die SiedlerInnen z.B. bei dem Biologen Willibald Henschel nachlesen, nach dessen Ideen 1919die völkisch-rassistische Siedlung Donnershag gegründet wurde.

Blut-und-Boden-Ideologie und Großstadtfeindschaft

Die Vorstellung, dass durch die Landflucht die Reinheit der "arischen Rasse" in Gefahr sei, prägte zunehmend das Denken der völkischen IdeologInnen, parallel dazu nahm der Antisemitismus zu. Ansätze dazu gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg: Der völkische Antisemit und Literaturhistoriker Adolf Bartels wusste, "daß die großstädtische Dekadenz im letzten Grunde auf jüdische Einflüsse zurückzuführen" sei. Sein Schüler Bruno Tanzmann, Mitbegründer der "Deutschen Bauernhochschulbewegung" bezeichnete in den 1920ern Juden/Jüdinnen als "geborene Todfeinde der Deutschen" und Großstädte als deren "Hochburg". Die Rettung sah Tanzmann in der Bauernschaft, die aufgrund ihrer Verwachsenheit mit der Scholle "rassereinen Geblüts" sei. Hitler sprach von der "Verjudung" der Großstadtmenschen und bezeichnete das deutsche Volk als Volk von "Pflug und Scholle".
Etliche später einflussreiche Nazis waren Mitglieder der SiedlerInnenbewegung. Besonders hervorzuheben sind die Artamanen, die Rudolf Höß, Walter Darré und Heinrich Himmler zu ihren Mitgliedern zählten. Die Landflucht und die negativen Auswirkungen der Verstädterung auf das deutsche Volk waren die zentralen Themen der Artamanen. Als Lösung des Problems sahen sie den "freiwilligen Arbeitsdienst" von Jugendlichen auf dem Land. Die Hoffnung, dies würde in Folge zu einer verstärkten Ansiedlung am Land führen, wurde jedoch eher enttäuscht. Den Artamanen kann ein erheblicher Einfluss auf die spätere NS-Agrar- und Siedlungsideologie zugesprochen werden. Der "Landdienst" der HJ ist als eine Fortsetzung des "Arbeitsdienstes" der Artamanen zu sehen.
Der Artamane Richard Walter Darré, später Reichsbauernführer und Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, trat 1930 der NSDAP bei und fungierte als "agrarpolitischer Berater". Er war es, der "Blut-und-Boden" zum politischen Schlagwort und bedeutenden Aspekt der Nazi-Ideologie machte. Die Lebensweise und Arbeit des deutschen Bauern, die die Verbundenheit mit der Scholle sicherten, galten Darré als Garant für die Erhaltung der "Rassereinheit". Darrés Bedeutung in der Nazihierarchie nahm zu dem Zeitpunkt ab, als er durch seine Vorstellung über die Funktion der in den eroberten Ostgebieten angesiedelten Bauern und Bäuerinnen mit der SS in Konflikt geriet. Die SS sah die Bauern nicht als Berufslandwirte, sondern als Wehrbauern, die sich der Arbeitskraft der "rassisch minderwertigen" unterworfenen Bevölkerung bedienen sollten. Diese Vorstellung war Darré, dem ja gerade die Arbeit des Bauern der wichtigste Aspekt war, fremd. Die SS sah in den im Waffendienst stehenden "Wehrbauern" einen "Bauernadel", der "zugleich als Gegengewicht gegen die Entartungserscheinungen der großstädtischen Zivilisation dienen sollte ".
Ein weiterer wichtiger Ideologe des Antiurbanismus und des Blut-und-Boden-Gedankens war der Sozialanthropologe und Rassenkundler Hans F. K. Günther, der in der "Entstädterung des Geistes ... die erste Aufgabe" sah und ein Buch mit dem Titel "Die Verstädterung. Ihre Gefahren für Volk und Staat vom Standpunkte der Lebenserforschung und der Gesellschaftswissenschaft" verfasst hat. In der Verstädterung sah Günther die Gefahr der "Entwurzelung" selbst der Menschen, die über die "besten Erbanlagen" verfügen, "einer Entwurzelung, deren Wesen darin besteht, daß der menschliche Geist sich von den Lebensgrundlagen der Gattung Mensch entfernt, daß der Mensch denjenigen Lebensmächten zuwider lebt, die ihn zum Menschen gemacht haben (...)" Dem "Vermassungsphänomen" der Moderne sollte nach Günther eine "Volksordnung von germanischen Adelsbauern" entgegengestellt werden.
Als der Großstadtfeind schlechthin kann Alfred Rosenberg bezeichnet werden, der zwar innerhalb der NS-Führungselite eine Randfigur blieb, dessen Bücher jedoch enorme Auflagenzahlen erreichten. Rosenberg trat dafür ein, Städte auf 100.000 EinwohnerInnen zu begrenzen, wenn er auch einige Zentren zu 500.000 EinwohnerInnen als "seelische Notwendigkeit" betrachtete. Auch ihm galt die Landflucht in die Großstadt als Gefahr für das deutsche Volk: "Man sieht heute dies volkmordende Hinströmen von Land und Provinz zu den Großstädten. Diese schwellen an, entnerven das Volkstum, zerstören die Fäden, welche den Menschen mit der Natur verbinden, locken Abenteuer und Geschäftemacher aller Farben, fördern dadurch das Rassenchaos. Aus der Stadt als Zentrum einer Gesittung ist durch die Weltstädte ein System von Vorposten des bolschewistischen Niedergangs geworden (...)" An anderer Stelle kritisiert er, dass "bestes Blut ungehindert in die blutverseuchende Weltstadt" ströme. Amerikanische Städte und hier besonders New York führte Rosenberg gerne als abschreckendes Beispiel an. Seine stadtplanerischen Vorstellungen ließen Rosenberg wie viele Großstadtfeinde den Blick zurück ins Mittelalter und zur Gotik, der eine spezifisch deutsche Qualität zugeschrieben wurde, wenden.

Antiurbanismus in der Ökologiebewegung

Bis 1945 waren in der Ökologie holistische/ganzheitliche Denkansätze weit verbreitet. Vorherrschend war die Superorganismustheorie des US-Amerikaners Frederic Edward Clement. Dem einzelnen Organismus wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt, von zentralem Interesse war der allumfassende Superorganismus. Parallel dazu kann das Denken in den Kategorien Volk und Individuum gesehen werden. Für das Überleben des Superorganismus bzw. des Volkes war das Schicksal des Einzelorganismus bzw. Individuums eher nebensächlich. Konsequent vertreten führte der ganzheitliche Ansatz dazu, alle Lebensbereiche und die gesamte Wissenschaft diesem unterzuordnen. Bei dem deutschen Ökologen Karl Friedrichs klang das 1941 so: "Weiter aber breitet sich die Welle ökologischer Auffassung aus über alle Lebensgebiete: Heimatpflege und Heimatschutz, (Naturschutz-)bewegung, Städtebau, Volk als Gemeinschaft, Wirtschaft als Organismus, usw."
Nach 1945 ließ der Einfluss des Holismus auf die (wissenschaftliche) Ökologie stark nach, experimentell-wissenschaftliche Ansätze konnten sich weitgehend durchsetzen. Ein Revival feierten holistische Theorien mit der Ökologiebewegung der 70er-Jahre und der Diskussion um die "Grenzen des Wachstums".
Eine kritische Aufarbeitung der Verwicklung der Naturschutzbewegung in den Nationalsozialismus fand nicht statt. Zentrale Ideologiebausteine der Natur- und Heimatschutzbewegung tauchten in Publikationen auch nach 1945 immer wieder auf. Während der Phase des Wiederaufbaues gab es in der breiten Bevölkerung kaum Interesse für ökologische Anliegen. Das änderte sich Ende der 60er- / Anfang der 70er-Jahre mit dem Entstehen der Neuen Sozialen Bewegungen.

Gartenstadt und die Klein-Hänschen-Fraktion

Ein äußerst einflussreiches Konzept gegen die Großstadt entwickelte im 19. Jahrhundert der englische Hofjournalist Ebenzer Howard. Sein Schrecken über die miesen Lebensbedingungen der ArbeiterInnen in London war Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Doch wie Jane Jacobs in ihrem Klassiker "Tod und Leben amerikanischer Großstädte" 1961 schrieb, war sein Antrieb auch schlicht und einfach die Ablehnung der Großstadt: "Er haßte nicht nur die Großstadt und Fehler, welche die Großstadt mit sich brachte, er haßte die Großstadt selbst und empfand es als ausgesprochen schlimm und als Beleidigung gegenüber der Natur, daß so viele Leute sich so dicht zusammendrängten. Sein Rezept zur Rettung der Menschen war die Vernichtung der Großstadt." Einer, der die Idee der Gartenstadt aufgriff und sie zur Planung ganzer Regionen erweiterte, war der schottische Biologe und Philosoph Sir Patrick Geddes. "Unter regionaler Planung sollten dann Gartenstädte über große Gebiete verteilt werden; sie sollten mit dem Naturgelände verschmelzen und gegen Landwirtschaft und Wälder abgewogen werden, um ein einziges logisches Ganzes zu bilden." Die Ideen beeinflussten sowohl in Europa als auch in den USA viele ArchitektInnen und StadtplanerInnen. Für Österreich könnte z.B. der bekannte Architekt Roland Rainer erwähnt werden, der auch lange Jahre Stadtplanungsdirektor von Wien war und das Gartestadtkonzept mit dem islamischen Städtebau kombinierte. Jane Jacobs über die Leitlinien der Gartenstadtfraktion: "Die Gegenwart von vielen Menschen ist im besten Falle ein notwendiges Übel, und eine gute Stadtplanung soll danach streben, zumindest die Illusion von privater vorortlicher Abgeschiedenheit zu erreichen." Eine aktuelle Adaption des Gartenstadtkonzepts feiert derzeit unter dem Logo "New Urbanism" in den USA große Erfolge. Ein vermeintliches Gegenkonzept zur Gartenstadt entwickelte 1930 der Architekt und Stadtplaner Le Corbusier mit seiner vertikalen Großstadt. Fünf Prozent der Stadtfläche sollten mit Wolkenkratzern verbaut werden, die größte Fläche des Stadtgebietes war für einen Park vorgesehen. Obwohl die AnhängerInnen der Gartenstadt in Le Corbusier für Jahrzehnte ein grandioses Feindbild hatten und Le Corbusier die üblichen Gartenstadtkonzepte als "Wunschgebilde" bezeichnete, zitiert Jacobs Le Corbusier mit der Aussage: "Die Lösung liegt in der vertikalen Gartenstadt." Sich über beide Fraktionen lustig machend, schreibt sie weiter:"Wenn das große Ziel der Großstadtplanung darin bestand, Klein Hänschen fröhlich im Gras spielen zu lassen, was war dann verkehrt an Le Corbusiers Vision?"
Zur "Klein-Hänschen-Fraktion" darf auch der Biologe Bernd Lötsch gezählt werden, der in der österreichischen Ökologiebewegung lange Zeit sehr einflussreich war und sich in seinem Vortrag "Was ist Stadtökologie?" , gehalten im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Berlin 1984, zur "Großstadtkrise" äußerte. Die Ablehnung von Urbanität wird von ihm mit den üblichen Vorurteilen und reaktionären Pseudotheorien argumentiert: Mit Verweis auf Konrad Lorenz behauptet Lötsch, Menschen würden " in der anonymen Masse von Fremden" zu erhöhter Aggressivität neigen, weshalb der Mensch in "überschaubaren Gruppen" leben sollte, die ihm einen "angestammten Platz (Identität)" bieten. In Hochhäusern sei die Kriminalität (die nicht näher definiert wird) angeblich "siebeneinhalbmal" höher als in "kleinstädtischen Mehrfamilienhäusern". Weil Blut-und-Boden etwas belastet ist, zitiert Lötsch einen Inder, der behauptet "Erdreich und Seele gehören zusammen". Unter dem Motto "Intimgrün statt Sozialgrün" fordert er "privaten, sichtgeschützten Freiraum" unter offenem Himmel. Der Umstand, dass es in Wien angeblich so wenig Schmetterlinge gibt, ist Lötsch Anlass genug, indirekt noch einen Vergleich mit einem Konzentrationslager zu ziehen. Kinder zwischen "monotonen Betonfassaden" großzuziehen "bedeutet eine erschütternde Wohlstandsverarmung, eine Fehlprägung heranwachsender Kinder mit gefährlichen seelischen Langzeitfolgen". In Wirklichkeit brauchen unsere "wertvollsten Geschöpfe (...) einen Auwaldtümpel, eine Schlammlache, (...)." Am selben Kongress wie Lötsch trat damals auch dessen Freund Friedensreich Hundertwasser auf, der ohne Berührungsängste vor Naziterminologien gleich für eine Ökodiktatur eintrat: "Der heutige Mensch ist das gefährlichste Ungeziefer, das die Erde je bevölkert hat. Der Mensch ist ein ökosystemfremder Schädling geworden. Perfekte Ökologie muß den Menschen in seine Schranken verweisen, damit sich die Erde regenerieren kann."

Zurück in die Steinzeit

Was für die konservative Kulturkritik des 19. Jahrhunderts das Mittelalter, das ist für die Anarcho-Primitivists des 21. Jahrhunderts die Steinzeit. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung von (Groß-)Stadt, Zivilisation, Demokratie, Industrie und Massengesellschaft, die Verherrlichung von bäuerlichem bzw. selbstversorgendem Leben in kleinen Gruppen und je nach dem "Mother Earth" oder "Scholle". Anarcho-Primitivists sind zwar nicht gerade eine unglaublich bedeutende Gruppierung, aber sie denken viele Ideen und Vorstellungen (Technikfeindlichkeit, Small is Beautiful, Leben im Einklang mit der Natur etc.), die in zahlreichen Ökogruppen herumschwirren, konsequent zu Ende und sind deswegen nicht uninteressant. Nicht zuletzt lassen auch Reality-Shows wie Expedition Robinson im deutschsprachigen Raum oder Survivor in den USA eine gewisse Popularität für die Ideen dieser Bewegungen erkennen. Zentrale Zeitschriften der Anarcho-Primitives (man möge mir verzeihen, dass ich jetzt im Detail nicht zwischen Primitives, Green Anarchists etc. unterscheide) sind die englische Zeitschrift Green Anarchist oder das US-Magazin Fifth Estate. Theoretiker der Bewegung sind z.B. John Zerzan, John Moore und Fredy Perlman.
Es ist verblüffend zu sehen, wie ähnlich die Gedanken von Primitives, die sich als revolutionäre Gruppe sehen, und reaktionären Kulturkritikern des 19. Jahrhunderts sind. Vor allem die Vorstellung, dass sich der Mensch als Individuum von der Natur emanzipiert und versucht, sie zu beherrschen, statt von ihr beherrscht zu werden, ist beiden ein Gräuel. Die Stadt und die Massengesellschaft werden als Fehlentwicklung schlechthin eingestuft. Im Diskussionsforum auf der Website www.primitivism.com gibt es einen eigene "against cities"-Diskussionsgruppe. In einer Stellungnahme von Green Anarchist heißt es"Cities are technology, a complex process that has to be organised in a way that makes a future free and equal society impossible." Stephen Booth, einer der Schreiber von Green Anarchist, ist Verfasser eines Romans mit dem Titel City Death, ein "apocalyptic novel of social collapse. Critiques the city and advocates ist alternatives."
So sehr sich die Ziele von konservativer Kulturkritik und Primitivismus ähneln, so unterschiedlich sind die Erwartungen vom "Leben im Einklang mit der Natur". Für die KulturkritikerInnen förderte das Stadtleben Individualismus und "sozialistische Gleichmacherei", an der Natur schätzten sie die Möglichkeit, sich ihr unter- und somit in eine Hierarchie einzuordnen sowie das Leben in einer Gemeinschaft. Die Primitivists hassen an der Stadt die Komplexität, die Hierarchien unausweichlich macht, und erwarten sich vom Landleben in kleinen Gruppen das Ende derselben sowie die Möglichkeit, als Individuum zu leben.

Christoph Laimer lebt in Wien Gumpendorf

Literatur
JACOBS Jane. Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Braunschweig, Wiesbaden 1993
Technische Universität Berlin. Landschaftsplanung zwischen Rationalität und Natur. Berlin 1993
GEDEN Oliver. Rechte Ökologie - Umweltschutz zwischen Emanzipation und Faschismus. Berlin 1996
MÜNK Dieter. Die Organisation des Raumes im Nationalsozialismus. Bonn 1993
KENNEDY Margit (Hg.) Öko-Stadt - Prinzipien einer Stadtökologie. Materialien zur Internationalen Bauausstellung 1984.