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Der Unfall ist universal

Ein Interview mit Paul Virilio über Katastrophen, Kriege und andere Begleiterscheinungen des menschlichen Fortschritts

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Paul Virilio
Er ist ein Denker des Krieges und der Katastrophe. Seit er als Zehnjähriger die Bombardierung von Nantes miterlebt hat, prägten die Bilder der großen Zerstörung sein Denken. Auf ihnen baute Paul Virilio eine Art Phänomenologie des Krieges auf. "Archäologie der Bunker" hieß die Ausstellung, die den französischen Philosophen und Urbanisten 1974 über Frankreich hinaus bekannt machte. Virilio fordert seither ein "Museum der Katastrophe", das er mit der Ausstellung "Ce qui arrive", die derzeit in der Pariser Fondation Cartier zu sehen ist, vorübergehend verwirklicht hat. Der Unfall erscheint dort als etwas, das sich ereignet, das uns zufällt, das sich aber über den Zufall hinaus als unausweichlich und somit schicksalhaft erweist. Auch der "erste Welt-Bürgerkrieg der Globalisierung", der für Virilio am 11. September 2001 begonnen, ist in seinen Augen ein Unfall. Alles ist Unfall, worin sich der Fortschritt unserer Gesellschaften als ihre eigentliche Zerbrechlichkeit zeigt. Der Krieg gegen Irak, so Virilio, ist verloren, bevor er überhaupt begonnen hat. Mit Paul Virilio sprach Martina Meister.
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FR: George W. Bush würde sicher dem alten General Clausewitz Recht geben, der sagte, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie behaupten, diese Definition sei überholt. Was ist der Krieg?

Paul Virilio: Das Attentat vom 11. September markiert eine große, historische Zäsur in der militärischen Ordnung, vergleichbar mit Hiroshima. Ich glaube, dieses massive Attentat, bei dem man sich eines Unfalls, eines Flugzeugunglücks bedient hat, bewirkt wie Hiroshima einen Wandel der strategischen Ordnung. Wir sind in einen post-clausewitzschen Krieg eingetreten. Der Krieg Clausewitz' ist ein politischer Krieg, mit politischen Strukturen wie Staaten, Fahnen, Kriegserklärungen. Das verschwindet mit dem großen Terrorismus. Der größtmögliche Unfall ist eine mögliche Form des globalen Konflikts geworden.

Inwiefern?
 
Weil von nun an die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaften, die eine Zerbrechlichkeit des Fortschritts ist, so groß ist, dass der Unfall selbst zu einer Macht geworden ist, derer sich verschiedene Gruppe zu bedienen versuchen. Das heißt, Georg W. Bushs Kriegsziel, Irak, korrespondiert in keiner Weise mit diesem strategischen Wandel. Die USA hinken einen ganzen Krieg hinterher. Und das auf Grund ihrer klassischen militärischen Stärke! Ich würde sogar sagen: Ihre Hypermacht ist ihre Hyperschwäche in dieser neuen Form des Krieges. Man kann einen Krieg, in dem man seinen Feind nicht mehr kennt, nicht gewinnen. Das ist die radikale Neuigkeit. Amerikas politische Schwäche gründet in seiner militärischen Hypermacht.

Sie meinen, Amerika hat diesen Krieg bereits verloren?

Ja, weil dieser Krieg nicht der Bedrohung entspricht. Bush verhält sich wie jemand, der an einer Frage vorbeiantwortet. Wenn man Recht bekommen will, muss man auf die Frage antworten, nicht aneinander vorbeireden. In Afghanistan haben wir das bereits gesehen. Es gab zwar, im Gegensatz zu Irak, einen guten Grund, aber selbst dieser Krieg antwortete nicht auf die Bedrohung.

Was wäre denn die adäquate Antwort?

Vergleichen wir die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts mit denen des 20. Das 20. Jahrhundert war Sarajewo, 1914, der Erste Weltkrieg. Europa wollte keinen Krieg, es gab ein Attentat und alle fanden sich in einem Krieg wieder, der den Beginn des Niedergangs Europas markiert. Die Gründe für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kennen wir alle. Das Attentat von New York nun hatte nicht etwa einen dritten Weltkrieg zur Folge, sondern den ersten Welt-Bürgerkrieg. Der erste Bürgerkrieg der Globalisierung. Er ist ein unkonventioneller Krieg, ein Krieg ohne Struktur, und daher unmöglich, einzudämmen. Ich möchte betonen: Wir haben es hier nicht mehr mit einem lokalen Bürgerkrieg wie in Spanien in den Dreißiger Jahren oder wie jüngst in Jugoslawien zu tun. Es handelt sich um den ersten globalen Bürgerkrieg, um den ersten zivilen Weltkrieg der Globalisierung, den islamistische Gruppierungen und andere Pressuregroups und Terroristen führen, indem sie sich die Schwäche der Staaten zunutze machen. Die Staaten sind heutzutage nämlich allesamt schwach, weil die Globalisierung den Nationalstaat nicht gestärkt hat. Es betrifft nicht nur die so genannten Schurkenstaaten, wie Bush sie nennt, sondern alle, selbst die USA sind schwach. Schauen Sie sich Putin an: Nicht einmal ihm gelingt es, die Destabilisierung durch die tschetschenische Bedrohung in den Griff zu kriegen.

Ich muss meine Frage wiederholen: Wie können wir uns vor der neuen Form der Bedrohung schützen?

Zu allererst, indem wir ein neues Verständnis von der Wissenschaft der Katastrophe schaffen. Hannah Arendt sagte, der Fortschritt und die Katastrophe seien zwei Seiten der selben Medaille. Man kann die Substanz nicht vom Unfall trennen. Je mächtiger die Substanz ist, das technische Objekt, die Energie, desto mächtiger ist die Katastrophe. Das Gute des Fortschritts und das Verhängnisvolle des Unfalls hängen eng zusammen, sie bedingen einander. Wir brauchen daher ein politisches Verständnis von der größtmöglichen Katastrophe. Denn auf Grund des Fortschritts und der daraus resultierenden Fragilität unserer Gesellschaften ist die "Große Katastrophe" so verheerend wie der Krieg.

Denken Sie an das erste Attentat auf das World Center 1993. Da gab es die Schuldigen. Was wollten sie? Sie wollten sich die baulichen Schwächen der Türme zunutze machen. Sie wollten einen Turm auf den anderen stürzen lassen und 200 000 bis 250 000 Menschen auf der Wallstreet unter ihren Trümmern begraben. Mit 600 Kilogramm Sprengstoff, einem alten, geliehenen Lieferwagen und vier, fünf Männern hätten sie eine Katastrophe vergleichbar mit der Hiroshimabombe bewirkt. Für mich heißt das, dass die eigentliche Macht nunmehr im großen Unfall liegt, den Terroristen mit minimalen Mitteln verursachen.

Ihre Idee, ein Museum der Katastrophe einzurichten, wie auch Ihr Plädoyer für die Wissenschaft der Katastrophe sind letztlich Versuche, die Katastrophe zu domestizieren. Sie wollen etwas musealisieren, was längst nicht mehr zu beherrschen ist...

Nein, weil eine Wissenschaft des Unfalls, schon Aristoteles sagt das, unmöglich ist. Aber es kann und muss eine Philosophie des Unfalls geben. Sie existiert aber nicht. Wir müssen eine Philosophie der Technik entwickeln, die eine Philosophie des technischen Unfalls umfasst. Die ganze Zukunft der Philosophie hängt davon ab, wie sie mit dieser eschatologischen Dimension umgeht. Mit dem Gedanken des Endes. Denn der Fortschritt ist eschatologisch. Wenn Dénes Gábor, der ungarische Nobelpreisträger, sagte, alles was technisch machbar sei, werde man machen, dann kam darin seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Technik ein Fatum ist, ein Schicksal. Das heißt: Wir brauchen eine Politik angesichts dieser Eschatologie. Wir haben zwar ökologische Parteien, die im Grunde schon Parteien des ökologischen Unfalls sind, aber das ist nicht genug. Wir müssen eine Intelligenz der Endlichkeit entwickeln. Wir müssen diese Grenze denken, wie wir auch die Grenze der Biowissenschaften denken müssen. Es muss unweigerlich eine Philosophie der Katastrophe geben. Wir haben es mit der Rückkehr des Tragischen zu tun in der Ordnung des Theaters, wie Nietzsche es gedacht hat, also im Sinne der Wissenschaft und Technik.

Was in Ihrer Ausstellung "Ce qui arrive" irritiert, ist die Tatsache, dass Sie Unfälle mit Attentaten und Kriegen, also willentlichen Aktionen vermengen...

Der Terrorismus ist anonym, heimlich, wahllos und in gewisser Weise flüchtig. Er spielt selbst mit dieser Ambiguität. Denken Sie doch nur an die Synagoge von Djerba. Man wusste nicht, ob es ein Autounfall war oder ein Attentat. Es herrschte Unsicherheit über den Charakter des Ereignisses, mit der die Terroristen spielen. Sie benutzen die Unsicherheit des Unfalls, und seine Macht. Denken Sie an das World Trade Center: Da gab es zwei Flugzeugabstürze, keinen Sprengstoff, keine Bombe. Mit ein paar Männern, ein paar Teppichmessern und zwei Flugzeugen wurden 3000 Menschen getötet, während in Pearl Harbour mit dem Aufwand einer ganzen Kriegsmaschinerie 2500 Menschen vernichtet wurden. Diese Unsicherheit ist Teil der Strategie des neuen Krieges.

Andererseits kann man eine Gegenbewegung beobachten, nämlich den Versuch, die Unfallverursacher zur Verantwortung zu ziehen. Hier in Deutschland gab es gerade einen Prozess gegen die Ingenieure, die das Rad eines ICE konstruiert haben, der in Eschede verunglückt ist. Lässt sich daran nicht der Versuch ablesen, den Unfall zu beherrschen und auch seine Verursacher zur Verantwortung zu ziehen?

Absolut. Das gleiche gilt übrigens für Tschernobyl. Die Familie des Chefs des Atomkraftwerkes musste unter Personenschutz gestellt werden, weil die Leute sie massakrieren wollten. Der Mann war natürlich nicht schuldig. Er war verantwortlich, aber nicht schuldig. Das ist die ganze Debatte von Schuld und Verantwortung. Wer ist schuldig? Die Wissenschaft, der Wissenschaftler, der Techniker oder Ingenieur? Wieder haben wir es mit einem eschatologischen Problem zu tun, aber dieses Mal mit einem juristischen. Die Justiz wird sich auch die Frage der Endlichkeit stellen müssen.

Die Justiz hat ganz offensichtlich noch keine Antworten...

Völlig richtig. Wir sehen das an der Antinori-Affäre und an den Realianern, angesichts derer die Justiz völlig hilflos ist. Damit tut sich wieder die Möglichkeit des Justizunfalls auf. Ein Unfall der Wissenschaft stellt die Frage nach dem Unfall der Justiz. Wir stehen vor dem GAU, der das Wissen, das juristische, das technologische und das politische Wissen beschädigen wird. Das meine ich mit Endlichkeit und Eschatologie: Wir stehen auf Grund unserer Macht und unserer Erfolge, nicht etwa auf Grund unserer Schwäche, unserer Dummheit und unserer Irrtümer, vor einer Grenze. Darin steckt ein unerhörtes Paradox. Dasselbe gilt für die Amerikaner. Die USA sind eine ohnmächtige Hypermacht. Dieses Paradox ist der eigentlich wunde Punkt eines Krieges im Irak.

Interessanterweise hat man im ersten Golfkrieg gerne von den "intelligenten Waffen" gesprochen, jetzt stellen wir fest, dass die Waffen der Terroristen womöglich die intelligenteren sind...

Außerdem nutzen sie die Macht des Schicksals statt der Übermacht der Armee. Das ist ein sehr wichtiger Gedanke, den ich erläutern will: Die alten Staaten waren mächtig auf Grund ihrer militärischen Stärke, das weiß jedes Kind. Heute aber setzen die Terroristen mithilfe des Prinzips der Verunsicherung genau an der Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft an, am Erfolg der modernen Gesellschaften: an den Gebäudekonstruktionen, an den Flugzeugen, Atomkraftwerken, an Gas- und Elektrizitätswerken, was zu einer Macht an sich wird. Eine unerhörte Macht. Eine Macht des Schicksals, denn diese Fragilität unserer Gesellschaft ist unser Schicksal. Unser Schicksal ist es, sterblich zu sein. Das Schicksal eines Bootes ist es, unterzugehen. Das eines Flugzeuges, abzustürzen. Es ist dieses Schicksal, das sich die Terroristen zunutze machen. Das ist genial - und ganz abscheulich zugleich!

Sie haben beim letzten Golfkrieg viel über die Bilder und ihre Macht geschrieben. Wir haben live und in einer Endlosschleife dem Einsturz der Türme beigewohnt. Welche Zerstörungen haben diese Bilder angerichtet?

Wir haben uns nicht klar gemacht, dass dieses Attentat ikonoklastisch, das heißt bilderstürmerisch war. Die Taliban wurden weltweit als Bilderstürmer bekannt, als sie die beiden Buddhastatuen von Bamiyan zerstörten. Das war ein klassischer Bildersturm der bildhauerischen Repräsentation. Sie haben denselben Bildersturm angesichts der westlich-kapitalistischen Repräsentation an den Türmen des World Trade Centers wiederholt. Das war ein architektonischer Bildersturm. Jetzt kommt aber noch ein dritter Bildersturm dazu, unserer, den wir uns nicht einmal bewusst gemacht haben: Der Bildersturm der Fernsehanstalten, einer der Präsentation, nicht mehr der Repräsentation; einer der live gesendeten und endlos verbreiteten Präsentation des Attentats. Es gibt nur noch ein Bild, und dieses wird endlos wiederholt. Das einzige vergleichbare Beispiel, das mir einfällt, ist die Mondlandung. Auch da gab es nur ein einziges Bild und die ganze Welt musste an dieses Bild glauben.

Was ist die Folge?

Wir werden Opfer einer Zensur, weil es im Grunde nur noch einen einzigen Standpunkt gibt.

Es gab ein anderes Bild, das uns immer wieder gezeigt wurde: Das von bin Laden. Warum ist es verschwunden?

Bin Laden ist verschwunden, weil Saddam Hussein ihn ersetzt hat. Wir haben es hier mit einer Substitution zu tun. Bin Laden wurde 2002, im Jahr der großen Unsicherheit, benutzt. Als Amerika entschieden hat, Saddam ins Spiel zu bringen, wurde bin Laden aus dem Bewusstsein gestrichen. Wir sind da wieder im Theater der medialen Repräsentation angelangt, das über austauschbare Helden verfügt. Die Katastrophe liegt nicht auf Saddams Schultern, auch nicht auf bin Ladens, sondern auf dieser historisch völlig neuen Form der Bedrohung.

In seinem neuen Buch "Voyous" (Schurken) behauptet Jacques Derrida, es würde sich um einen Stellvertreterkrieg handeln. Stimmen Sie mit ihm überein?

Vollkommen. Meiner Meinung entspricht der Ausbruch des Irak-Krieges dem Ausbruch des ersten Krieges der Globalisierung. Und er wird mehrere Generationen dauern.

Ist dieser Krieg nicht längst ausgebrochen? Unser Gedächtnis für Katastrophen ist sehr kurz, wir haben schon fast verdrängt, dass es nach dem 11. September Djerba, Bali und Kenia gab...

Fügen wir Toulouse noch hinzu, wo im September vergangenen Jahres die Düngemittelfabrik in die Luft geflogen ist. Dort hat man den Staatsanwalt ausgetauscht, es hat auch Bekennerschreiben gegeben. Es sieht also alles danach aus, dass es sich bei dieser Explosion doch um ein Attentat gehandelt hat, das in seiner Dimension für Europa völlig neu wäre. Denn dieses Unglück ließe sich beliebig oft wiederholen, so viele Dioxin-Fabriken gibt es hier in Europa, von den Atomkraftwerken ganz zu schweigen. Wenn der Nachweis erbracht wird, dass es ein Attentat war, wird sich in Europa alles verändern. Dann wird nämlich auch Europa sich aus diesem ersten Bürgerweltkrieg nicht länger heraushalten können.

Das Vergessen ist oft eine Schutzfunktion, in diesem Falle aber hat es etwas Selbstmörderisches...

Deshalb ist mein Museum des Unfalls genauso unvermeidlich wie ein Kriegsmuseum. Niemand würde ihre Notwendigkeit in Zweifel stellen. Ich behaupte nicht, dass sie gut sind, aber sie sind nötig. Genauso wie die großen Konflikte verpflichten uns auch die großen Unfälle zu einer Erinnerungs- und Trauerarbeit. Das ist eine große politisch-philosophische Notwendigkeit.

Sie haben während des ersten Golfkrieges einen Paradigmenwechsel der kriegerischen Ordnung festgestellt. Er war medialer Natur. Wie kann ein Journalist in den medialen Kriegen unserer Zeit im übertragenen Sinn desertieren?

Das weiß ich nicht. Das ist eine große Frage. In ihr entscheidet sich die Demokratie. Denn der Tag, an dem im Namen der freien Meinungsäußerung, zum Massenmord aufgerufen wird, an dem verschwindet die Demokratie. Der Bildschirm ist ein für alle Mal zum eigentlichen Schlachtfeld avanciert. Alles wird dort verhandelt. Ich glaube, dass das Live-Fernsehen eine Präsentation, keine Repräsentation ist. Es ist mehr als eine Abbildung der Wirklichkeit, es ist eine Präsentation der Wirklichkeit. Das macht die Macht der Live-Berichterstattung aus: ihre Präsenz.

Sie haben viel über das Verschwinden des Körpers nachgedacht. Im Augenblick erleben wir das genaue Gegenteil. Fast täglich wird in einem Selbstmordattentat auf dieser Welt der Körper als letzte Waffe eingesetzt. Was genau ist da geschehen?

Sowohl die biotechnische Revolution, also die Ankunft des Klons, als auch die Selbstmordattentate als Massenphänomen konfrontieren uns wieder mit dem Tod auf einer politischen Ebene. Aber wir stehen dem Phänomen der Selbstmordattentate völlig hilflos gegenüber. Es übersteigt das Vorstellungsvermögen des Atheisten. Dieser Atheismus wird von der Macht des Selbstmords geschlagen werden. Die Rückkehr der Tragödie ist die Rückkehr des Selbstmordes. Wir haben die Tragödie in Europa zu lange verdrängt, vielleicht weil wir sie so intensiv erlebt haben.

Einige amerikanische Philosophen wie Michael Walzer denken über die Legitimation von Krieg, also über die Idee des gerechten Krieges nach. Was halten Sie vom Konzept des gerechten Krieges, gibt es einen solchen?

Ich glaube, der gerechte Krieg hat existiert. Aber die Globalisierung des Krieges kann nicht gerecht sein. Anders formuliert: Der gerechte Krieg kann gerecht sein, solange er lokal ist. Haben wir es indes mit einem Weltkrieg zu tun, kann er kaum noch gerecht sein. Wir haben es hier mit ungeahnten Fragen zu tun, vor denen wir völlig hilflos dastehen und die uns auf die alten Mythen der Griechen zurückwerfen.

In Deutschland kann man im Augenblick ein interessantes Phänomen beobachten, nämlich die Rückkehr des Zweiten Weltkriegs. Erst veröffentlichte Günter Grass seine Novelle "Im Krebsgang" über den Untergang des Lazarettschiffes Wilhelm Gustloff, dann erschien von Jörg Friedrich "Der Brand", beide thematisieren nicht nur den Krieg, Deutsche werden auch als Opfer gezeigt. Wie interpretieren Sie das?

Das heißt nichts anderes, als dass wir wieder in den Krieg eintreten. Während des Kalten Krieges standen solche Themen nicht auf der Tagesordnung. Es gab einen Sieger und einen Besiegten. Heute wird es nur noch Besiegte geben. Das ist die eigentliche Bedrohung.

Sie haben einmal gesagt, Jünger sei ein Mann des Krieges gewesen, Sie dagegen seien ein Kind des Krieges. Worin besteht der Unterschied?

Der Mann des Krieges ist verantwortlich, wenn nicht schuldig. Das Kind des Krieges ist Opfer und Zeuge zugleich. Ich bin 1932 geboren und war daher Zeuge des Zweiten Weltkrieges. Mich hat der Krieg, der Schrecken, die Bombardierung von Nantes und die Flucht geprägt. Als Kind hatte ich zwangsläufig die Perspektive eines Beobachters, das den Männern des Krieges zuschaut. Ich habe diesen Blickwinkel beibehalten und hätte im Übrigen nicht ein einziges meiner Bücher geschrieben, wenn ich nicht in dieser völlig durch die Bomben zerstörten Stadt groß geworden wäre.

Die von Paul Virilio kuratierte Ausstellung läuft noch bis zum 30. März an der Fondation Cartier pour l'Art contemporain. Der Katalog liegt auf Französisch und Englisch vor und kostet 45 Euro.


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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 31.01.2003 um 16:28:00 Uhr
Erscheinungsdatum 01.02.2003