!Kaiser Gerhard II.

Schröders Enthemmung: Vom Zusammenbruch der Diplomatie

Die Zeit der Hitler-Vergleiche ist vorbei. Zwar hat der Londoner Economist soeben noch die Möglichkeit ventiliert, Gerhard Schröder könne sich als „der schlechteste deutsche Kanzler seit dem Zweiten Weltkrieg“ erweisen. Doch die viel erhellendere Parallele ist mittlerweile von verschiedenen Seiten – darunter dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber – gezogenen worden: die zu Kaiser Wilhelm II. Wenn der Vergleich trifft, dann gibt es Grund zur Sorge.

Die Berliner Regierung versucht nun (und in seiner morgigen Regierungserklärung dürfte der Kanzler das fortsetzen), das Debakel um den angeblichen deutsch-französischen Blauhelm-Plan vom Wochenende als „Kommunikationsdesaster“ kleinzureden – so, als gebe es hier eine Sache hinter der „Kommunikation“, die seriös und diskutabel sei. Doch auf dem Gebiet der Außenpolitik nennt man das, was für einen Wahlkampfstrategen oder Innenpolitiker „Kommunikation“ heißen mag, seit ein paar Jahrhunderten „Diplomatie“. Das „Kommunikationsdesaster“ ist hier also weit mehr als irgendeine parteipolitische Kakophonie; es handelt sich um ein Scheitern in dem, was – so lange die Waffen schweigen – außenpolitisches Kerngeschäft ist: im Gespräch unter Staaten.

Diplomatisches Handeln entstand im Europa der frühen Neuzeit aus höfischen Formen, und diese fein austarierten, stark ritualisierten Formen haben sich im friedlichen Verkehr zwischen den Nationen bis heute erhalten. Diplomatie spielt sich in einer anderen, wesentlich kleineren Amplitude ab als die Debatte der öffentlichen Meinung. Diese entfaltet sich gleichsam im Medium des Starkstroms, im aggressiven Schlagabtausch, nicht selten in Übertreibungen; verglichen damit sind die Umgangsformen der Diplomatie auf Schwachstrom geeicht. Diplomatie bricht zusammen, wenn in ihre empfindlichen Apparaturen Starkstrom geleitet wird – der Starkstrom der öffentlichen Emotion.

Angewidert und fassungslos

Diese Gefahr wurde in Europa mit dem Zusammenbruch des Metternichschen Systems im Jahre 1848 unausweichlich. Spätestens von diesem Zeitpunkt an waren die auswärtigen Angelegenheiten keine reine Kabinettspolitik mehr, sondern begannen sich mit den in der öffentlichen Meinung organisierten Stimmungen ganzer Nationen zu verquicken. Der erhitzte deutsch-französische Meinungskampf um die Rhein-Politik Napoleons III., die italienische Einigung von 1859/60, der deutsch-französische Krieg 1870/71, die von einem Leitartikel ausgelöste „Krieg-in-Sicht-Krise“ von 1875 bezeichnen wichtige zentraleuropäische Stationen in einem so unvermeidlichen wie gefährlichen Prozess: der Aufladung diplomatischer Vorgänge mit der Dynamik nationaler Stimmungen. Diese waren im 19. Jahrhundert durchweg kriegsfreundlich, meist offen aggressiv. Daraus ließ sich zuweilen sogar diplomatisches Kapital schlagen, indem die sich besonnen gebenden Außenminister auf den Druck ihrer heimischen Öffentlichkeit verwiesen, um Prestigevorteile für ihre Länder zu erzielen. Nicht nur der durch Plebiszite legitimierte Kaiser der Franzosen, sondern auch altständische Meisterdiplomaten wie Cavour und Bismarck operierten souverän mit den Instrumenten von Presse, Propaganda und Öffentlichkeit.

Das Regiment von Kaiser Wilhelm II. bezeichnet den bis dahin spektakulärsten Zusammenbruch diplomatischer Professionalität vor den Gewalten öffentlicher Stimmungen. Die markigen Auftritte des diplomatisch ungeschulten Kaisers – seine Depeschen, Reden, Interviews –, sein dabei durchgehaltener schneidiger, oft drohender Tonfall setzten eine Eskalation zwischen dem Monarchen und seinem Publikum in Gang, die je länger desto stärker in Widerspruch zu seinem eigentlich timiden Wesen geriet. Wolfgang J. Mommsen hat soeben in einer brillanten Studie zum Regierungssystem unter Wilhelm II. („War der Kaiser an allem schuld?“, Propyläen Verlag) nachgewiesen, wie sehr die verhängnisvolle Entwicklung zum Ersten Weltkrieg auch von einer oft kaiserkritischen Öffentlichkeit – zum Beispiel dem Journalisten Maximilian Harden – angetrieben wurde, welcher die Handlungen des Kaisers zu schwach vorkamen im Verhältnis zu dem, was sein hochfahrender Ton hatte erwarten lassen. Nichts war in Deutschland vor 1914 so populär wie der in die Katastrophe führende entscheidende Fehler der deutschen Außenpolitik: die Flottenrüstung gegen England.

Wilhelm II. war der erste Stimmungspolitiker an der Spitze Deutschlands. Er lebte im Beifall wie in einer Nährlösung und verfiel auch physisch mit dem Schwinden der Zuneigung seines Volkes im Ersten Weltkrieg. 1918 verließ er als kranker Mann seinen Thron. Schon diese sich bis in die Körperlichkeit abzeichnende Abhängigkeit von öffentlicher Zustimmung lässt Gerhard Schröder als einen gespenstischen Wiedergänger des lange Zeit populärsten deutschen Monarchen erscheinen. So grau und fahrig hat man den Kanzler noch nie gesehen wie in den Wochen nach der Wahl, als sich die öffentliche Meinung fast ruckartig gegen ihn richtete.

Von diesem Trauma ist sein Agieren bis heute geprägt, und der beispiellose Zusammenbruch diplomatischer Professionalität, der am Wochenende kulminierte, hat hier seine wichtigste Ursache.

Am Montagabend hat sich Schröder vor der SPD-Bundestagsfraktion ganz offen zu diesem Abschied von der außenpolitischen Rationalität bekannt. Er fühle sich „der Bevölkerung verpflichtet, und nicht anderen Ländern und Regierungschefs“, erklärte er unter stürmischem Beifall. Das erinnert noch einmal an den „deutschen Weg“, der dem Außenminister so große Pein bereitet hat.

In ihren klassischen Zeiten hat die europäische Diplomatie sich durchaus auch anderen Ländern verpflichtet gefühlt, nicht nur aus Gründen der Glaubwürdigkeit – pacta sunt servanda –, sondern um der Balance in einem System der Mächte willen. Man darf im übrigen daran erinnern, dass gerade einige der entscheidenden Weichenstellungen deutscher Nachkriegsaußenpolitik – die Westintegration mit dem Nato-Beitritt, zunächst auch die Brandtsche Ostpolitik, danach der Nato-Doppelbeschluss – gegen den massiven anfänglichen Widerstand der deutschen Bevölkerung eingeleitet wurden.

Auf andere Weise sind auch die Vereinigten Staaten dabei, sich von den Instrumenten und der Rationalität diplomatischen Handelns zu verabschieden. Die durch französische Initiative zustandegekommene letzte Resolution des Sicherheitsrates war der zunächst erfolgreiche Versuch, die solitäre Supermacht in die Bahnen solcher Rationalität zurückzuzwingen. Rumsfelds wohlkalkulierte Pöbeleien kamen erst nach Schröders enthemmtem Goslarer Wahlkampfauftritt.

Das diplomatische Desaster zog auch Joschka Fischer in seinen Strudel: Sein hysterischer Auftritt auf der Münchner Sicherheitstagung („I am not convinced, this is my problem“) ließ eine persönliche Not aufscheinen, die im diplomatischen Verkehr nichts zu suchen hat. Rumsfelds Miene dazu – zwischen angewidert und fassungslos – sprach Bände. Im selben Moment, als Schröder erklärte, er fühle sich nur der eigenen Bevölkerung verpflichtet, traten am Montagabend Chirac und Putin in Paris vor die Presse. Chirac begann zu sprechen: „La France, l´Allemagne et la Russie ...“ Schröder war weit weg in Berlin, aber der französische Präsident sprach wie selbstverständlich schon mit für den deutschen Kanzler.

GUSTAV SEIBT // http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel1744.php
  
_

!Wilhelm Zwo läßt ganz herzlich grüßen
 
Schröders Berlinale: Auftritt Wilhelm Zwo

Immer falsch beurteilt zu sein, zu sehen, wie meine wiederholten Freundschaftsangebote mit mißtrauensvollen Augen nachgeprüft werden, stellt meine Geduld auf eine harte Probe.

Wilhelm II. am 28. Oktober 1908 im "Daily Telegraph".

Jetzt hat er seine "Daily Telegraph"-Affäre. Jetzt hat er einen Grad an Verantwortungslosigkeit erreicht, der aus seiner Regierung ein Regiment und aus seinem Stil einen persönlichen macht. Edmund Stoiber sprach in dieser Zeitung von Fehlern in der deutschen Außenpolitik wie unter Wilhelm II., und das hat Widerspruch und Protest hervorgerufen. Ganz zu Unrecht, wie selbst dem oberflächlichen Betrachter klar sein müßte. Schröders linker Wilhelminismus ist umgekehrter Größenwahn. Da wir die Schlechtesten der Welt nicht mehr sind, wollen wir die Besten werden. Der Mann, der nach dem 11.September gedankenlos von "uneingeschränkter Solidarität" redete, redet jetzt genauso absolut von uneingeschränkter Nichtsolidarität. Wer zwang ihn zum einen wie zum anderen?

Er läßt seine Regierung in München, wo sich achtundzwanzig Außen- und Verteidigungsminister trafen, darunter die Vertreter Rußlands und Amerikas, vor aller Augen ins offene Messer laufen. Er läßt, wie der "Tagesspiegel" weiß, am Donnerstagabend im Bundeskanzleramt Rotwein auffahren. Er tafelt mit Redakteuren des "Spiegels". Ob er einfach nur redet oder ob ihm die "Spiegel"-Redakteure die Zunge lösen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Jedenfalls ist der Chef der Regierung die Hauptquelle jener Nachricht, die Carsten Voigt am Abend im Fernsehen "Indiskretion" nennen wird.

Und man muß sich die Szene welthistorisch vor Augen führen, um sie wirklich zu genießen: In Berlin befinden sich keine achtundzwanzig Minister verbündeter Staaten. In Berlin trifft man zu dieser Stunde George Clooney, Heidi Klum, Dustin Hoffman, Roger Moore, Christopher Lee und Michael Douglas. Dazu: Glitzer, Film-, Gesellschafts-, Klatschjournalisten, Smokings. Vielleicht liegt es an der plötzlichen Eingemeindung Hollywoods, daß man sich in der Stadt wie unter einer Glaskuppel bewegt. Manchmal schüttelt der Bundeskanzler diese Glaskugel, und es schneit.

Als Schneeglaskugel nämlich, so scheint es, sieht Gerhard Schröder die Welt, als ein Spielzeug, das die Komplexität der Welt auf Teletubbies reduziert. "Wir haben die nachfolgende Mitteilung aus einer Quelle von so unzweifelhafter Autorität erhalten, daß wir ohne Zögern die deutliche Kundgebung, die sie enthält, der öffentlichen Aufmerksamkeit empfehlen". Mit diesen Worten begann jenes Interview, das der Oberst Stewart Worseley im Oktober 1908 mit Wilhelm II. führte und das unter dem Titel "Daily-Telegraph Affäre" Weltgeschichte wurde. "Diskretion ist die erste und letzte Eigenschaft, die man von einem Diplomaten verlangt. Dennoch gibt es in der Geschichte der Völker Augenblicke, wo eine berechnende Indisrektion einen außerordentlichen Dienst gegenüber der Öffentlichkeit bedeutet". Der "Spiegel" hätte die Einleitung des "Daily-Telegraph" zu seiner machen können. Und wenn auch die Redaktion in Hamburg darauf hinweist, viele verschiedene Quellen zu haben, und vom Ergebnis eigener Recherchen spricht, so weiß doch jeder in Berlin und anderswo, daß Schröder der Informant in eigener Sache war.

Eine Sache von der, wenn nicht alle Zeichen trügen, keiner der anderen Beteiligten irgendetwas wußte; weder der Außen-, noch der Verteidigungsminister, noch Frankreich; ein Plan, der nur ausgeheckt und weitergegeben worden zu sein scheint, weil und damit er nicht funktioniert - eine Form mutwilliger Nichtpolitik, die zwischen James Bond und Dracula, zwischen Roger Moore und Christopher Lee in der Tat besser aufgehoben zu sein scheint, als bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

Wäre der Vorgang nicht so unglamourös, so traurig, so rotweinverhangen, man würde von Operettenpolitik reden. Es fehlt nur die Tapetentür, durch die der Regierungschef nach Plazierung der journalistischen Bombe verschwindet. Er macht Politik nicht mit den Mitteln des Diskurses, des Kabinetts oder der Konferenz. Er macht Politik noch nicht einmal mit den Mitteln der Medien und des Journalismus'. Seine Art der Politik ist zunehmend fiktionale Politik, und sie ist darin dem Mummenschanz Wilhelms II. durchaus verwandt. Schröder produziert fiktionale Ereignisse - heißen sie nun Rürup oder Hartz (auch durch den "Spiegel" vorthematisiert) oder Gerster. Diese Fiktionalisierung von Entscheidungsprozessen, die es weder als Prozesse gibt, geschweige denn, daß sie überhaupt als Entscheidungen anstehen, hat bei der sogenannten Nato-Blauhelm-Initiative ihren weltpolitischen Höhepunkt gefunden. Es ist nichts anderes als die Hartz-Nummernoper mit anderen Mitteln. Wir reden von Drehbüchern, Skripten, von Fiktionen.

Wie lange wird die deutsche Öffentlichkeit auf diese Form von, sagen wir: romantisch zurückhaltend, Traumpolitik noch hereinfallen? Wann wird sie merken, daß Schröders Wirklichkeit eher Berlinale als Berlin ist? Zwar trägt er keine Kostüme wie Wilhelm II., aber rhetorisch hat er sich längst bedient. Nicht nur Oskar Lafontaine ist die Schwundrhetorik aufgefallen, mit der der Regierungschef vom Nein zum Krieg "gegen" den Irak bis zum Nein zum Krieg "im" Irak sprach. Was also meint er? Was meinte er, als er im niedersächsischen Wahlkampf mit Blick auf den Irak davon sprach, er werde nicht aufhören für "Frieden im nahen Osten (!)" zu kämpfen? Die Pazifisten hören aus alledem nur: Frieden, unconditional peace. Es könnte sein, daß sie noch nicht einmal zu ahnen begonnen haben, was Schröders Friede heißt.

FRANK SCHIRRMACHER // http://www.faz.net/IN/Intemplates/faznet/default.asp?tpl=faz/content.asp&rub={2D82590A-A70E-4F9C-BABB-B2161EE25365}&doc={AEAC2A5E-F168-4676-8342-21A8981D5FF9}
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.02.2003, Nr. 36 / Seite 33

Was ist eigentlich über euch gekommen, daß ihr euch einem Argwohn überlassen habt, der einer großen Nation nicht würdig ist?

Wilhelm II., "Daily Telegraph", 1908