Fünfzig Jahre verdrängt: "Tanz unterm Hakenkreuz"
 
Fünfzig Jahre verdrängt: Die Mary-Wigman-Gesellschaft diskutiert den "Tanz unterm Hakenkreuz"

Ein halbes Jahrhundert lang hat sich die deutsche Tanzszene der Illusion hingegeben, der brave, unpolitische Tanz habe sich zu Nazizeiten auch nicht schuldiger gemacht als andere Kunstformen; im Grunde sei er von den Nationalsozialisten vergewaltigt und dienstbar gemacht worden. Mit dieser Illusion hat eine Tagung der Mary-Wigman-Gesellschaft, die sich in Köln zwei Tage lang auf die Suche nach dem Politischen im Tanz begab und den ersten dieser beiden Tage dem "Tanz unterm Hakenkreuz" widmete, gründlich aufgeräumt. Der moderne Tanz, so die Pariser Tanzwissenschaftlerin Laure Guilbert, sei von den Nazis nie als entartete Kunst verboten worden; er sei, im Gegenteil, vom Dritten Reich mindestens in den ersten Jahren stark gefördert worden und weiter aufgeblüht. Die zur Zeit in Amerika lehrende deutsche Tanzwissenschaftlerin Marion Kant sekundierte ihrer französischen Kollegin: "Weder Einschüchterung noch Drohung waren nötig, die Tänzer zum Nationalsozialismus zu bringen." Denn: In der Gedankenwelt führender Protagonisten des deutschen Ausdruckstanzes - wie Rudolf von Laban oder Mary Wigman - waren die Idee des Völkischen, der Führerkult und der Rassismus schon virulent, bevor Adolf Hitler im Frühjahr 1933 an die Macht kam und die Künste gewaltsam "gleichschaltete". "Wigman und Co. paßten bereits ins völkische Spektrum" (Kant), und zwischen Harald Kreutzbergs Auftritten in Amerika während der zwanziger Jahre und denen in Deutschland zur Nazizeit bestand, laut Guilbert, ästhetisch kein Unterschied.

Die Französin Guilbert zeigte sich verwundert darüber, daß die Akten von Goebbels' Propagandaministerium fünfzig Jahre lang unausgewertet von der deutschen Tanzgeschichtsschreibung in den Berliner Archiven verblieben, und konstatierte einen tiefen Graben zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung. Mit einem Verweis auf die quasiparadiesischen Anfänge der Ausdruckstanzbewegung am Monte Verità im schweizerischen Ascona beschrieb sie einen Bedeutungswandel des Tanzes "von der Politik des freien Körpers zu einer Politik der Körper", die den Tanz in eine selbstgebastelte Falle zwischen Schönheit und Barbarei geraten ließ. Zwar sei nichts vorbereitet gewesen für den Tanz im neuen Staat. Doch: "Den modernen Tanz zu arisieren bedeutete, am kulturellen Leben des Dritten Reiches teilzunehmen", und weil sich einerseits die Tänzer von der Ideologie der Nazis motiviert fühlten, andererseits die Nazis sehr schnell das Potential der Tänzer sahen und den Voluntarismus der Tänzer instrumentalisierten, nahm der Tanz einen Aufschwung.

Annette von Wangenheims für den WDR gedrehter Film "Tanz unterm Hakenkreuz", der am Vorabend der Tagung zu sehen war, versammelt eindringliche Bespiele für die brutale "Säuberung" der deutschen Tanzszene von allem Jüdischen, die gleich nach Hitlers "Machtergreifung" einsetzte. Gleichwohl aber, so Marion Kant, hätten die Nazis eine eindeutige Tanzpolitik nicht gehabt. Die Gleichschaltung sei in der Praxis erfolgt und durch die positive Haltung führender Tänzer und Choreographen erleichtert worden. Mary Wigman bescheinigte Kant Kulturpessimismus, Elitedenken und ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie. Für Laban sei der Tanz eine religiöse und okkulte Erfahrung gewesen, die auf Gemeinschaft und Führerschaft aufgebaut habe; Raum sei, ganz wie von den Nazis, als Lebensraum verstanden worden. So machten sowohl Laban wie Wigman im Nazireich zunächst Karriere, ehe sie daran scheiterten, daß sie die bürokratischen Praktiken nicht durchschauten.

Kant wie Guilbert sahen in der nationalsozialistischen Kulturpolitik einen Bruch, den sie auf die Zeit nach den Olympischen Spielen, um das Jahr 1938, datierten und vor allem darauf zurückführten, daß Himmler sich zum ersten Mann hinter Hitler in Partei und Staat aufgeschwungen hatte. Der moderne Tanz, von Goebbels favorisiert, sei danach als überflüssig angesehen und zugunsten von Ballett und Volkstanz ins zweite Glied verwiesen worden. Einig waren Kant und Guilbert sowohl miteinander als auch mit den vier Koreferenten Patricia Stöckemann (Hamburg), Evelyn Dörr (Berlin), Ralf Stabel (Dresden) und Hedwig Müller (Köln), die sich mit zum Teil abweichender Meinung mit Kurt Jooss (der als einer der wenigen prominenten Protagonisten des modernen Tanzes gleich zu Beginn der Nazizeit aus Deutschland emigrierte), Laban, Wigman und Gret Palucca befaßten, daß sich diese Tänzer selbst als völlig unpolitisch verstanden hätten.

Der schöne Glaube, daß eine solche Haltung in der Gegenwart nicht mehr möglich sei, wurde im Laufe des zweiten Tages stark in Frage gestellt. Nicht nur, daß sich der österreichische Choreograph Hubert Lepka, dessen "Flugtheater für Air Power 2000" zu Beginn des Tages in einer die Luftwaffe glorifizierenden filmischen Kurzfassung zu sehen war, als geistiger Nachfahre der "unpolitischen" Ausdruckstänzer entpuppte und daß in den wichtigsten Referaten des Tages - Norbert Servos, Berlin, über Johann Kresnik und Pina Bausch, Katja Schneider, München, im wesentlichen über Raimund Hoghe und Jérôme Bel - ein zum Teil nicht fragwürdiges Verständnis des Politischen herrschte. Außer dem zur Schlußkonferenz eingeladenen Daniel Goldin, der seit sechs Jahren das Tanztheater an den Städtischen Bühnen Münster leitet, hatte kein halbwegs wichtiger Choreograph den Weg in den Kölner Mediapark gefunden. Die Riege der Theoretiker blieb unter sich.

JOCHEN SCHMIDT

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.2003, Nr. 31 / Seite 36
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