http://www.nzz.ch/2003/02/06/fe/page-article8NA17.html
6. Februar 2003, 02:09, Neue Zürcher Zeitung

  
Die Show geht wieder weiter
Die Rückkehr der Performance in die Klubkultur
Die Selbstdarstellung auf der Bühne gehört seit je zum Pop. Ein neues Phänomen ist der Performance-Artist aber in jenen musikalischen Milieus, deren Selbstverständnis bisher darauf beruhte, ohne das Starsystem des Pop auszukommen. Die Rede ist von der Klubkultur und der elektronischen Tanzmusik.
  
 
 Für die Protagonisten der Klubkultur war das Aufbegehren gegen Authentizität, Autorschaft und Aura von Anfang an wesentlich. Statt inszeniert aufzutreten, versteckten sich Techno- und House-Künstler ganz bewusst hinter Pseudonymen und digitalen Benutzeroberflächen. Abstraktion und Anonymität lauteten die Zentralbegriffe. - On stage hingegen, auf der Bühne, herrschte aus Sicht vieler Techno-Protagonisten die reaktionäre Welt der Stars und Sternchen, die mit ihren Liebes- und sonstigen Botschaften zu leugnen versuchten, dass die Künstlerpersönlichkeit nun nichts mehr und technologische Innovation alles bedeutete.

Leibhaftige Personas
Seit einiger Zeit lässt sich ein erstaunlicher Wandel beobachten: In den House- und Techno- Klubs von New York, Berlin und London tauchen wieder leibhaftige Personas auf - Musiker, die sich auf Bühnen mit Gesang und Performance zur Schau stellen. Sie tun dies vor allem im Gewand des wieder entdeckten Electro Pop der achtziger Jahre, dessen aktualisierte Variante nun auch «Nu Wave» oder «Electroclash» genannt wird. Die bekannten Klubstile, also House, Techno und Artverwandtes, haben diese neu-alte Musik in sich aufgenommen, weiterverarbeitet.

Radikal ist die Wende zur Performance insofern, als sich die enthusiastische Energie von Klubmusik zunächst gerade dem Fehlen von Persönlichkeiten verdankte. Gegen die klassische Bühnenshow betrieb die «ravende Gesellschaft» die Verflüssigung des nächtlichen Erlebnisraums. Die Abwesenheit des Guckfensters Bühne erlaubte das anonyme Abtauchen in die Masse der Tanzenden, wo man die Aufmerksamkeit ungerichtet strömen lassen konnte. Das Publikum sollte nicht mehr bevormundet werden und die abgeflachte Hierarchie des Klubs die demokratische Gleichheit der Feiernden garantieren. Neben der anonymen und pseudonymen Veröffentlichungspraxis im Techno war die Abschaffung der hierarchischen Topographie der Bühne programmatisch: Dieser Zerstörungsakt erlaubte es den Klubaktivisten, das notorisch beschworene «Verschwinden des Subjekts» zu feiern. In diesem Sinne stellen Labels wie beispielsweise Mille Plateaux (nach einem Buch der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari benannt) Techno bewusst in den Kontext postmoderner französischer Theorieansätze, in denen ortlose «Ströme», «Intensitäten» und «Netzwerke» an die Stelle der hierarchischen Anordnung von Subjekten treten.

Schluss mit flüssig
Beinahe täglich melden sich neue elektronische Performer zu Wort und begeben sich ohne Skrupel in den Aura-Raum der Bühne. Märtini Brös., Peaches, Northern Lite, Gonzales, Fischerspooner, Chicks on Speed, Toktok vs. Soffy O, Phantom/Ghost oder das Duo Miss Kittin and The Hacker sind einige Namen des neuen Performance-Booms in der elektronischen Klubmusik. Klassisches Entertainment mit unübersehbaren Reverenzen an Frank Sinatra - wie bei Louie Austen oder dem Berliner Gonzales - findet sich dabei ebenso wie aristokratische Dekadenz (Fischerspooner), dandyhafter Ennui (Miss Kittin and The Hacker) oder drastisch sexualisierte Körperakrobatik (Peaches).

Die Protagonisten der neuen Performance-Kultur haben die Regeln der Klubszene gleichsam von innen erschüttert und so ein neues Party- Paradigma in die Köpfe und Körper der Klubgänger einprogrammiert. Der englische Musikjournalist Simon Reynolds entdeckte kürzlich gar eine neue Nightlife-Generation und behauptete in dem Berliner Klubkultur-Magazin «Groove»: «Diese neue Generation hat das Ethos der Ecstasy-Kultur abgelegt: jene Prinzipien einer egalitären Einheit und Verbindung, die Vorstellung, das eigene Ego im hypnotischen Fluss der Musik abzustossen und mit der Masse zu verschmelzen, sowie die ‹In the mix'-Ästhetik›, die Tracks als anonyme Komponenten einer nahtlosen DJ-Montage versteht.»

Der von Reynolds beschriebene Paradigmenwechsel wird greifbar in jenem magischen Moment, wenn ein herkömmlicher Klubabend in eine Electro-Pop-Performance übergeht. Dann scheint es, als richteten sich die tanzenden Körper wie Nägel an einem Magnetfeld neu aus: Von einem freien, ungezwungenen Umherschweifen und «ozeanischen Verschmelzen» (Reynolds) wenden sich ihre Körper unvermittelt der Bühne zu. Meistens tanzen die Klubgäste zwar weiter, nun aber nicht mehr auf sich selbst bezogen, sondern die Performance anfeuernd. Selbst experimentelle Shows wie die des Chicagoer Electro- Acts Green Velvet stossen auf die begeisterte Zustimmung des Klubpublikums. Wo früher ein amorpher Rave-Fluss anonyme Animation anbot, trifft man nun eine Form der Publikumsansprache und Dramaturgie an, die noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre. Stücke werden angekündigt, die Konzentration richtet sich zentralperspektivisch auf einen Punkt, Applaus unterbricht die Show. Während der DJ-Mix die Grenze zwischen Produzent und Konsument, zwischen Absender und Adressat verwischte und unkenntlich macht, wird diese Grenze nun wieder eingezogen.

Zur Freude des Publikums: Die neuen Performance-Acts scheinen ein archaisches Begehren zu neuem Leben erweckt zu haben - ein Begehren, das von der klassischen Techno-Kultur und deren Ethos der Anonymität offenbar nicht zum Verschwinden gebracht werden konnte. Die minimalistische Techno-Ideologie hat den Wunsch nach maximal glamourösen Identifikationsfiguren, zu denen man hinaufschauen kann, nicht abgetötet. Im Gegenteil: Das von Techno Verdrängte kehrt jetzt umso lebendiger ins Nachtleben zurück.

Wer hat Angst vorm Ornament?
Denn indem die alte Techno-Kultur die Selbstdarstellung demokratisierte und den narzisstisch tanzenden Individuen selbst überliess, «entauratisierte» sie die Bühne, machte sie zu einem Ort unter anderen. Die herkömmliche Präsentation von Techno- und Elektronik-Acts verläuft deshalb nach dem immer gleichen ereignisarmen Schema: Man sieht einen schüchternen jungen Mann konzentriert hinter seinem Laptop stehen, versunken in die Datenanzeigen, die nur er sieht und anklickt. Weil der Künstler sich möglichst unauffällig in das abstrakte Klubambiente einfügen soll, wird dem Publikum keine visuelle Teilhabe gewährt.

Das ist auf Dauer ermüdend, und die elektronischen Performer haben die Konsequenz daraus gezogen: Sie setzen der kargen Funktionsästhetik eine verschwenderische Ornamentik entgegen. Statt sich wie Techno-Künstler hinter funktionalen Benutzeroberflächen zu verschanzen, entfachen sie ein burlesk-barockes Spektakel. Fast scheint es, als drängten all die im Zuge der Techno-Demokratisierung («Jeder ist ein Performer!») emanzipierten Klein-Performer nunmehr selbst wieder auf die Bühne, als forderten sie für ihre auf dem Dancefloor eingeübte Selbstdarstellungskompetenz grössere Aufmerksamkeit ein. Dabei setzen sie nicht mehr allein auf Musik - das gesammelte Wissen über Mode, Tanz, Kunst und Kommunikation spielt eine mindestens ebenso wichtige Rolle. So erweisen sich die Auftritte des New Yorker Kollektivs Fischerspooner als theatralisch inszenierte Spektakel, in denen sich elektronische Musik mit Tanz, Kunst und Mode vermischt. Auch die Berliner Frauenband Chicks on Speed arbeitet mit Elementen aus bildender Kunst und Mode, entwirft eigene Kleider aus Papier und macht die Bühne zu einem Aktionsort, wo exaltiert geschrien und gehüpft werden darf. Und die Gigs des in Berlin lebenden Kanadiers Gonzales integrieren Versatzstücke aus Comedy und Klamauk.

Mit dem Abrufen von Tondaten sind die elektronischen Selbstdarsteller nur noch am Rande beschäftigt. Während in der Klubkultur bisher Ästhetik und Auftritt der Technologie untergeordnet waren, ist im Electro Pop die Eigendynamik der Performance gewollt und wird zugelassen. Was auf der Bühne geschieht, liegt nicht schon vorab auf der Festplatte parat. Unmittelbarkeit tritt an die Stelle der Reproduktion von Daten, die Singularität des Auftritts ist wichtiger als die getreue Darstellung vorprogrammierter Sounds. Die Tatsache, dass technoide Musikstile musikalisch längst an die Grenzen ihrer Innovationsfähigkeit getrieben wurden, hat zu dieser performativen Wende entscheidend beigetragen.

Alles nur Show
Aber auch klangästhetisch gibt sich der neue Electro Pop selten rückwärts gewandt, die Patterns entsprechen, auch wenn sie sich noch so trashig gebärden, stets den aktuellen Produktionsstandards - auch die oft komplizierten Rhythmusmuster können nur mit neuester Software erzeugt werden. «Futurism.» heisst denn auch eine der wichtigsten Electro-Pop-Zusammenstellungen. Überhaupt wirft der neue Electro Pop die Errungenschaften der Techno- und Klubkultur keineswegs komplett über Bord: Das Ziel all der Bands und Interpreten ist nicht eine wiedererlangte Eigentlichkeit, die sich der technologischen Entfremdung heroisch widersetzt. Fischerspooner, Chicks on Speed und Co. bejahen das postmoderne Spiel mit der Maske, anders als Mainstream-Interpreten wie Herbert Grönemeyer gewähren sie keine Einblicke in ihr menschliches, allzu menschliches Innenleben. Die maschinellen Bewegungen, die ausdruckslosen Roboterstimmen und die vollkommen unromantischen Texte, in denen die aus Techno bekannten Chiffren der Entfremdung und der Cyber-Künstlichkeit aufgehoben werden, sind Anzeichen, dass den neuen elektronischen Performern nicht an Echtheit und Emotionalität gelegen ist. Sie stehen mitten im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit - und da sind Produktion und Prozess wichtiger als Gewissen und Gefühl.

Aram Lintzel