Die Bedeutung des Irrationalen in der Politik

Zum Wiederaufleben des Fundamentalismus

Hans-Gerd Jaschke

Das Nachdenken über das Irrationale in der Politik wirft ein schwerwiegendes Problem auf, denn es setzt Vorstellungen über das ,,Rationale" in der Politik voraus. Wollte man Ratio in der Tradition der Aufklärung verstehen, so blieben wohl am ehesten der Kern der westeuropäischen und amerikanischen Verfassungen als fortwirkende Bollwerke der Rationalität

Doch Politik erschöpft sich nicht in den Verfassungen, ja sie beginnt erst dort, wo es darum geht, sie in politisches Handeln umzusetzen. Politik in diesem Sinne auf ihre Rationalität hin zu untersuchen sprengt freilich den Rahmen eines Aufsatzes

Irrationale politische Bewegungen richten sich auch nicht gegen tagespolitische Entscheidungen oder Verfassungen. Ihnen ging und geht es vielmehr als ganzheitliche Weltauffassungen um mehr. Wie die historischen Beispiele zeigen, waren grundsätzliche Wege der Demokratie, des Kapitalismus und der liberalen Gesellschaft die Hauptangriffsflächen. These dieses Beitrages ist es, daß der politische Irrationalismus heute sich in den zahlreichen Strömungen des Fundamentalismus zeigt, daß er prinzipielle Vorbehalte gegen jegliche Fortschrittsideologien anmeldet, dadurch aber auch auf schwere Defizite der Gesellschaft aufmerksam macht

In der politischen Debatte wird unter Fundamentalismus vor allem die radikale Ablehnung der Werteordnung westlicher Gesellschaften verstanden. Verschiedene, teilweise militante islamistische Gruppen innerhalb und außerhalb der islamischen Welt gelten als fundamentalistisch. Ihre Gewaltbereitschaft bis hin zur Selbsttötung, ihre Massenbasis und ihr Haß auf die westlichen Werte lassen sie als eine Bedrohung der demokratischen Gesellschaft erscheinen. Ralf Dahrendorf spricht vom Fundamentalismus als einer mit Händen zu greifenden großen Anfechtung der Modernität am Ende des 20.Jahrhunderts (Dahrendorf, 1992, S.77). Werfen wir einen Blick auf die neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen, so wird deutlich, daß es um Weltanschauungen geht, welche die Fundamente einer Gesellschaft, einer Werteordnung oder auch nur das Regelwerk einer Gruppe einklagen, weil diese angeblich denaturiert seien. Sie haben einen historischtraditionalistischen Kern: Eingeklagt wird die Wiederherstellung eines Ur-Zustandes, der im Verlauf der Entwicklung verzerrt, verraten oder manipuliert wurde. Diese Form und Zielrichtung der modernen Kulturkritik reicht historisch weit zurück: Die Zurückweisung des städtischen als eines ,,verderbten" Lebens, verbunden mit der Romantisierung des einfachen, ländlichen Lebens ist so alt wie die Stadt selbst. Von der Antike über das Mittelalter bis hin zur modernen Gesellschaft ist das Motiv der Glorifizierung des Alten und der Ablehnung des Neuen ein zentrales Moment aller Kulturkritik. Das konservative Denken zehrt bis heute von ihm, doch Konservatismus ist nicht gleich Fundamentalismus. Wo die Konservativen bloß bewahren und den Schaden begrenzen wollen, betritt der Fundamentalismus die Bühne der kämpferischen Auseinandersetzung mit (fast) allen Mitteln

Darauf verweist ein sozialphilosophischer Ansatz, der die Frontstellung des Fundamentalismus gegen das Projekt der Moderne begreift als Kampf gegen die Aufklärung und den Vernunftbegriff des Deutschen Idealismus, der den selbständig denkenden und handelnden Menschen voraussetzt, der seine Orientierungen aus sich selbst heraus hervorbringen kann, ohne fremdgeleiteten Ideologien anzuhängen

Demnach geht es nicht nur um Religion, Staats- und Gesellschaftsformen, sondern vielmehr um die aus der Französischen Revolution und der europäischen Aufklärung herrührenden Grundlagen der europäischen modernen Zivilisation. So gesehen sind es gerade die Errungenschaften der Moderne, die bürgerlichen Freiheitsrechte, der Emanzipationsgedanke und der Individualismus, die ihre eigenen Traditionsbestände zerstören durch die ungehemmte Entfesselung von Wissenschaft und Technik und ein Vakuum hinterlassen: Dort, wo die Orientierungsbedürfnisse des Menschen auf gültige und verbürgte Traditionen nicht mehr zurückgreifen können, entsteht der Wunsch nach Geborgenheit und Verläßlichkeit, nach Maßstäben und Verhaltensnormen. In diese Lücke stößt der Fundamentalismus. Er ist daher als Gegenbewegung zur europäischen Aufklärung, zum ,,Projekt der Moderne" zu begreifen. Im Fundamentalismus zeige sich, so Thomas Meyer, ,,die eigentliche Dialektik der Moderne selbst. Er ist die im Modernisierungsprozeß erzeugte und in seinen Krisenperioden stets neu belebte Versuchung der Regression in die Geborgenheit und Unmündigkeit. Diese Versuchung kann massenhaft verführen, wenn die Verheißungen der Modernisierung zu ihren Zumutungen und Kosten für viele in unerträglichen Widerspruch geraten" (Meyer, 1989a)

Während Meyer noch davon ausgeht, es handele sich um ein von den Krisen der Moderne abhängiges periodisches Aufflammen des irrationalen Widerstandes, betont Tibi, das Projekt der europäischen Moderne sei mittlerweise in eine schwerwiegende kulturkämpferische Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus verwickelt. Er spricht von einer ,,Revolte der nichtwestlichen Zivilisationen gegen den Westen", von einem Zivilisationskrieg der Weltanschauungen und einer schrittweisen ,,Entwestlichung" der Welt (Tibi, 1995, S. 301ff.). Hinter den lokalkulturell-ethnischen Kriegen der Gegenwart, etwa im ehemaligen Jugoslawien, verbergen sich in Wahrheit Kriege um Weltanschauungen und Religionen. Folgt man Tibis Modell, dann sind die aufklärerischen Wurzeln der europäischen Demokratien und Gesellschaften längst erheblich gefährdet, er empfiehlt eine stärkere, offensive Besinnung auf ebendiese Grundlagen

Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus
Der Begriff des ,,Fundamentalismus" im engen Sinne hat religionsgeschichtliche Wurzeln. Die sozialwissenschaftliche Debatte bezeichnet übereinstimmend den protestantischen Fundamentalismus in den USA um die Jahrhundertwende als Entstehungzeitraum des Begriffs ,,Fundamentalismus" (Birnbaum, 1989, Pfürtner, 1991). In den siebziger Jahren des 1 9. Jahrhunderts entwickelte sich im Rahmen der protestantischen Kirche der USA eine Bewegung, die den zeitgenössischen liberalen Bibelglauben strikt ablehnte, weil er angeblich nicht mehr dem Urtext entspreche

In der Schriftenreihe ,,The Fundamentals: The Testimony to the Truth", 1910-1912 in zwölf Bänden in Millionenauflage erschienen, wurde die Forderung nachdrücklich erhoben, zu den Wurzeln der Bibelexegese zurückzukehren (Pfürtner, 1991, S.47). Es ging darum, die wesentlichen Prinzipien des christlichen Glaubens zu verteidigen, vor allem die Unfehlbarkeit der Bibel und die christlichen Dogmen von der Jungfrauengeburt und der Auferstehung Christi

Moderne naturwissenschaftliche Evolutionstheorien hatten die biblische Deutung der Menschheitsgeschichte infrage gestellt und ihr ein anderes, durchaus attraktives Modell gegenübergestellt. Charles Darwin und seine Anhänger verwiesen auf die Evolution der Arten, aus der auch die Spezies Mensch hervorgegangen ist und legten durch ihren naturwissenschaftlichen Anspruch zugleich auch eine gewichtige Argumentationskette vor gegen die biblische lnterpretationsvariante des göttlichen Schöpfungsaktes

Nicht Adam und Eva, sondern die beständige Höherentwicklung der Fauna galten als Ursprung des Lebens und bedeuteten einen Generalangriff auf die biblische Deutung

Aber die protestantischen Fundamentalisten begnügten sich nicht mit einer dogmatischen Bibelexegese und dem Kampf gegen die Evolutionstheorie. Sie fühlten sich als Teil der konservativen weißen Mittelschicht, welche die amerikanische Kultur insgesamt bedroht sah vom Tempo der industriellen Entwicklung, von den sozialen Verwerfungen der Einwanderungswellen und von in ihren Augen dekadenten Alltagsgewohnheiten

Die rasche Entstehung der Großstädte mit ihren dekadenten Lebensformen außerhalb der sozialen Kontrolle in den Kleinstädten bestätigte die Fundamentalisten in ihrem Glauben an eine sündige Welt, der es mit unerschütterlicher Bibelfestigkeit entgegenzutreten gelte

Zahlreiche Kampagnen gegen die Herstellung und die Verbreitung von Alkohol gingen auf das Konto der Fundamentalisten, die sich überwiegend aus Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten und Unternehmern sowie aus Farmern rekrutierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten sie ihren gesellschaftlichen Einfluß zu verstärken durch die Gründung eigener Fernsehanstalten und die Ausweitung ihres Zeitungs- und Zeitschriftennetzes. Heute sind sie Teil der konservativen Fraktion des amerikanischen Protestantismus. Dogmen wie die Jungfrauengeburt, die leibliche Himmelfahrt und die bevorstehende Wiederkunft Christi haben sich mit konservativen politischen Positionen verbunden, wie etwa die Forderung nach einer militärischen Überlegenheit der USA in der Weltpolitik

Auseinandersetzungen um die Verfassungsmäßigkeit des Schulgebets und der Evolutionstheorie im Unterricht sowie in der Abtreibungfrage gehören zu den Kampagnen, die vor allem von den protestantischen Fundamentalisten inszeniert wurden

Drei einflußreiche Strömungen beherrschen den protestantischen Fundamentalismus in den USA der neunziger Jahre: Die eher unpolitischen Separatisten um Bob Jones III sehen in der Wiederkehr des Herrn die einzige Hoffnung für die Menschheit

Politisches und soziales Engagement lehnen sie ab, weil die Lasterhaftigkeit der Welt ferngehalten werden muß in der Erwartung des Herrn. Die Gruppe um Jerry Falwell, dem zeitweiligen Führer der ,,Moral Majority", entstand in den sechziger Jahren nach der Abschaffung des Schulgebets in öffentlichen Schulen und fand weitere Resonanz nach der Legalisierung der Abtreibung im Jahr 1973. Beides führte zur Politisierung der Gruppe um Falwell, die ein- flußreiche Positionen in der Republikanischen Partei besetzt. ,,Falwell", notieren Marty und Appleby (1996, S.53), ,,begann als strikter Separatist, wurde aber zum Aktivisten, als er zu dem Entschluß gelangte, daß es nicht mehr länger möglich sei, in einer säkularisierten Kultur, die von Jahr zu Jahr zudringlicher und dominanter wurde, nach Reinheit zu streben Falwell und die Anhänger der Moral Majority nahmen sich vor, aktiv zu intervenieren, um diese Übergriffe abzuwehren, wollten das jedoch innerhalb des gesetzlichen Rahmens und vermöge der Manipulation des politischen Systems zu ihren Gunsten tun"

Randall Terry und seine ,,Operation rescue" schließlich bilden den militanten Teil des christlichen Fundamentalismus in den USA

Sie versuchen, durch Provokationen und spektakuläre öffentliche Aktionen - etwa vor Abtreibungskliniken - das öffentliche Bewußtsein zu mobilisieren und sie vertrauen darauf, daß auf diese Weise die Abkehr vom sündigen Leben und die Hinwendung zu Gott und der Bibel erst möglich ist

Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan versuchten die protestantischen Fundamentalisten, politische Koalitionen einzugehen. Sie unterstützten Kampagnen der Konservativen, um politischen Einfluß zu gewinnen und eine neue, christliche Rechte in den USA zu formieren. Die Politisierung des Fundamentalismus und sein Angriff auf die amerikanische Kultur belegen, daß eine Trennung zwischen Fundamentalismus und Politik oft kaum möglich ist. Die Beteiligung an Aktionen der herrschenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte läßt sogar Bündnisse absehbar werden, an denen herkömmliche Interessengruppen beteiligt sind und auf diese Weise eine Strategie der Unterwanderung abzulesen ist

Ganz andere und doch durchaus vergleichbare historische Entstehungshintergründe hat der moderne arabischislamische Fundamentalismus im Nahen Osten. Er ist eine Folge des für die arabische Sache verlorenen Sechs-Tage-Krieges gegen Israel im Jahr 1967. Das säkularisierte sozialistisch-populistische Modell des ägyptischen Präsidenten Nasser erschien mit dieser Niederlage gescheitert, eine Staatenbildung, eine politische und eine Gesellschaftsordnung auf nicht-religiöser Grundlage erschien nicht möglich ohne die notwendigen strukturellen Rahmenbedingungen und ein Mindestmaß an säkularen Grundüberzeugungen. Arabische Intellektuelle nutzten das von Nasser auch selbst eingestandenen Scheitern, um einen islamischen Fundamentalismus neu zu entwerfen, der sich auf der Abkehr von westlich-säkularen Gesellschaftsmodellen gründete und sich auf die Tradition der Religion berief. Der Koran und die Sunna sollen zu den ausschließlichen Maßstäben des Handelns werden. Der Ausgang des Sechs- Tage-Krieges revitalisierte fundamentalistische Strömungen, die sich aus verschiedenen Gründen bereits lange zuvor entwickelt hatten. Frühe Verweltlichungsversuche im 18. Jahrhundert, der Kolonialismus der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert und die Liberalisierungsund Säkularisierungspolitik etwa in der Türkei in den zwanziger Jahren und im Iran unter dem Schah führten zu islamistischen Gegenbewegungen, die auf der Einheit von Religion, Kultur und Politik unter dem Wertesystem des Koran pochten und damit die Tradition gegen die Moderne ausspielten

Islamischer Fundamentalismus erscheint vor diesen historischen Hintergründen als eine rückwärtsgewandte, von Intellektuellen begründete Utopie, die auf der Ablehnung der Verwestlichung der Gesellschaft beruht und das ,,goldene Zeitalter" des vom Propheten Mohammed errichteten Stadtstaates von Medina beschwört (Tibi, 1992)

Die Geschichte der amerikanischen Protestanten und der arabischen Islamisten macht einige Grundzüge des modernen Fundamentalismus sichtbar: Es geht, wenn auch in ganz unterschiedlichen historischen Zusammenhängen, um die Bewahrung von althergebrachten Traditionen, die in der modernen Welt angeblich bedroht sind. Der Impuls dazu beruht auf Skepsis gegenüber den modernen Zeitläuften, auf Fortschrittskritik und -feindlichkeit und auf dem Glauben an eine ewiggültige Welt- und Werteordnung, die von der Moderne angegriffen wird. Der Fundamentalismus besteht auf einem wie auch immer religiös verzierten Naturgesetz, auf grundsätzlichen Prinzipien, welche die Ordnung der Dinge regeln und dem Einzelnen eine Zielvorgabe machen für ein richtiges und ein glückliches Leben. Er beharrt auf dem verlorengegangenen ,,Golden Age" und er organisiert sich als Kreuzzug mit einer Mentalität des Unerschütterlichen, der Festigkeit und der Heilsgewißheit. Es ist diese Unerbittlichkeit und Kompromißlosigkeit, die ihn vom konservativen Denken unterscheidet. Auch dieses beharrt im Kampf des Neuen gegen das Alte auf den zu bewahrenden Beständen des Alten, aber nicht um jeden Preis. Hans G

Kippenberg verweist in diesem Zusammenhang auf die unruhige, drängelnde, aber auch innovative Kraft der Fundamentalismen, die sie von den Konservativen und der religiösen Orthodoxie unterscheidet: ,,Es handelt sich um Gruppen, die auf eine Herausforderung des überlieferten Glaubens reagieren, traditionelle Auffassungen selektiv verteidigen, exklusive Bewegungen bilden, in Oposition zu sozialen oder politischen Mächten stehen, den Relativismus sowie Pluralismus bekämpfen, Autorität verteidigen und den Evolutionsgedanken bekämpfen

Kurzum: um Gruppen, die gegen die Moderne zurückschlagen - fighting back ist ihre Gemeinsamkeit" (Kippenberg, 1996, S.232)

Die Beispiele der amerikanischen Protestanten und der arabischen Islamisten verweisen aber auch darauf, daß keineswegs nur kleine Minderheiten, Außenseiter und Sektierer zu den Trägern des Fundamentalismus gehören. Allein in den USA wird die Anhängerschaft des protestantischen Fundamentalismus auf zwölf bis fünfzehn Millionen geschätzt (Marty/Appleby, 1996, S.53). Auch Teile der bürgerlichen Mitte und der Intelligenz können fundamentalistische Positionen beziehen

Nicht selten handelt es sich dabei um Fragen der Religion und der Religionsausübung

Auch in säkularen Gesellschaften wie die Bundesrepublik können sich heftige Konflikte, kreuzzugartig ausgetragen, an Fragen der Religion entzünden Als durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Trennung von Staat und Kirche bekräftigte, im Jahr 1995 Kruzifixe aus bayerischen Klassenzimmern abgehängt werden sollten, formierte sich ein konservativ-klerikaler Widerstand weit über die Reihen der katholischen Kirche und der CSU hinaus, der bis hin zur Radikalkritik am Bundesverfassungsgericht eindeutig fundamentalistische Züge im oben beschriebenen Sinn annahm. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber stellte sich an die Spitze der Kritiker und rief öffentlich zum Widerstand gegen das Kruzifix-Urteil auf. Stoiber und seine Gesinnungsfreunde - Fundamentalisten? Eine solche Einschätzung ist, genau besehen, irreführend, denn die Kritik bezieht sich auf eine einzige politische Streitfrage, das Kruzifix in den Schulen, keineswegs aber auf die Gesellschaft als solche. Deshalb erlaubt uns dieses kleine Beispiel eine weitere Abgrenzung: Von Fundamentalismus ist nur dann zu reden, wenn es um die Gesellschaft als solche geht, um die Grundlagen ihrer Verfassung, Organisation, ihre Werte, ihre Ziele, nicht aber dann, wenn es um eine singuläre politische Streitfrage geht

Lebensweltlicher, kultureller, ethnischer und politischer Fundamentalismus
Thomas Meyer spricht im Hinblick auf die Situation in Deutschland von einem lebensweltlichen, einem kulturellen und einem politischen Fundamentalismus. Zum lebensweltlichen zählt er religiöse Kulte und Sekten, esoterische Zirkel, aber auch islamistische Gruppen wie ,,Milli Görüs", denen es darum geht, eine eigenständige Lebenswelt innerhalb einer als fremd betrachteten Kultur zu etablieren. Hierzu gehören diejenigen Bewegungen, ,,die sich vom Pluralismus, der Offenheit und der individuellen Selbstverantwortung der modernen Lebenswelt abwenden und auf einer vermeintlich absoluten Erkenntnisgewißheit geschlossene Lebensformen errichten, die nur durch die Preisgabe der individuellen Autonomie und Selbstverantwortung möglich werden" (Meyer, 1989, S.263). So sehr das Argument von der Selbstabschottung und der Begründung eigenständiger Netzwerke des lebensweltlichen Fundamentalismus überzeugt, sowenig werden die Grenzen deutlich zu Gruppierungen, die ebenfalls selbstgenügsam- weltabgeschiedene Praktiken durchsetzen, ohne daß man sie dem Fundamentalismus zurechnen würde. Was unterscheidet das christliche Mönchtum oder die Hutterer vom lebensweltlichen Fundamentalismus? Die kulturelle Variante zehrt von einem spiritualistischen Erkenntnisanspruch, der sich von den Standards der modernen Wissenschaften verabschiedet und einen absoluten, eigenständigen Denkansatz in den Mittelpunkt stellt. Intuition, Meditation und Glaube treten an die Stellen des vernünftigen Argumentierens. Meyer führt die Bücher des New Age-Propheten Fritjof Capra und des radikalen Grünen Rudolf Bahro als Beispiele für den kulturellen Fundamentalismus an

Den grünen Fundamentalismus von Trampert oder Ebermann hingegen zählt Meyer zu den politischen Ausdrucksformen des Fundamentalismus. In dieser Rubrik lassen sich freilich ohne Mühe sämtliche Ausdrucksformen des politischen Extremismus unterbringen. Ihm geht es in der Tat darum, ohne Komprimisse die Rettung der Welt und die Überwindung der bestehenden Ordnung durch eine bestimmte Ideologie zu verkünden. Insofern ist der politische Fundamentalismus immer auch eine aktive, oppositionelle, den Primat der Praxis und des politischen Handelns hier und jetzt ins Zentrum rückende Variante. Der Terrorismus als gewaltbereite Strategie des politischen Extremismus ist vor diesem Hintergrund eine letzte Konsequenz des politischen Extremismus

Den lebensweltlichen, kulturellen und politischen Varianten könnte eine weitere angefügt werden, die gerade in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat. Der ethnische Fundamentalismus tritt uns in zwei Formen gegenüber: Als raumbezogener reklamiert er eigenständige Lebensräume und Territorien, als migrationsbedingter pocht er auf der autonomen Kultur eines Volkes

Kämpferische Auseinandersetzungen um ,,heilige Orte" wie den Ost-Jerusalemer Tempelberg und die Klagemauer, um heilige Stätten zwischen Hindus und Moslems und die Entweihung Mekkas und Medinas durch die US-amerikanischen Truppen während des Golf-Krieges erweisen sich als ,,Schlachten um die Definition nationaler, regionaler und kommunaler Identität" (Marty/Appleby, 1996, S. 204), bei denen jahrhundertealte ethnische und/oder religiöse Konflikte fortgeführt werden. Doch auch in West- und Osteuropa lodert das Feuer ethnischterritorialer Kämpfe im ausgehenden 20

Jahrhundert. Basken, Iren, Korsen und andere westeuropäische regionalistische Bewegungen sehen ihre kulturelle Identität bedroht und begehren auf gegen die jeweilige staatliche Zentralmacht. Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben nationalistische Strömungen zur Loslösung vom Zentralstaat und zu neuen Staatenbildungen geführt

Dabei wurden, wie etwa im Fall der baltischen Staaten, lange zurückreichende historische Autonomiebestrebungen als Begründungen angeführt. Eine Vielzahl latenter und einige, wie in Tschetschenien, offen ausgetragene kriegerische Auseinandersetzungen verweisen auf das Konfliktpotential eines Vielvölkerstaates, der noch weit von einer demokratischen Bürgergesellschaft entfernt ist. Das Gewaltpotential des raumbezogenen ethnischen Fundamentalismus wurde am klarsten sichtbar im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien. Serben, Kroaten und Muslims gingen, jede ethnische Gruppe für sich, von historisch zu rechtfertigenden Gebietsansprüchen aus, die dann zur Legitimation militärischer Aggression dienten. Der raumbezogene ethnische Fundamentalismus deutet hin auf eine widersprüchliche Entwicklung in den Industriegesellschaften: Auf der einen Seite weiten sich die elektronische Kommunikation, der Austausch von Waren und Dienstleistungen aus, politische und wirtschaftliche Ordnungen haben längst ihre nationalen Begrenzungen verloren und gehen auf in kontinentalen politischen Ordnungen wie der Europäischen Union. ,,Globalisierung" heißt das Stichwort für die Internationalisierung der Ökonomie. Doch auf der anderen Seite bilden sich offenbar nicht zu unterschätzende regionalistische und ethnische Gegenströmungen. Sie werden um so lauter, je mehr der Prozeß der Globalisierung voranschreitet und ihre Strategien scheinen mehr und mehr fundamentalistische Züge anzunehmen

Die zweite Form des ethnischen Fundamentalismus ist migrationsbedingt. Die Zuwanderung in die Länder der EU seit etwa 1960 hat zu einer massiven ethnischen Unterschichtung der europäischen Arbeitsgesellschaften geführt. Die Migranten nahmen rasch die unteren Positionen in der sozialen Hierarchie ein, sie übernahmen schmutzige, gefährliche und gesundheitsschädliche Arbeiten. Während die erste Generation der Gastarbeiter sich noch relativ glatt in ihr Schicksal fügte, weil sie die neuen Lebensverhältnisse den alten im Rahmen der relativen Wohlstandsgesellschaft vorzog, fehlt dieser Vergleich bei den nachfolgenden, hier aufgewachsenen Generationen. Ihr Maßstab sind die Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse der einheimischen Altersgenossen. Der Rückzug von Teilen der zweiten und dritten Ausländergeneration auf die Kultur ihrer Herkunft, vor allem den Islam, scheint eine Reaktion auf massive Diskriminierungserfahrungen innerhalb und außerhalb der Schule, im Arbeits- und Wohnungsmarkt. Seinen Nährboden findet er in den ,,ethnischen Kolonien" (Heckmann, 1994) der Aufnahmeländer: Sie haben in Einwanderungsgesellschaften die doppelte Funktion, erste Schritte der sozialen Integration zu gewährleisten und gleichzeitig die sozialen und kulturellen Beziehungen zur Herkunft aufrechtzuerhalten. Je mehr das Aufnahmeland sich öffnet, desto schwächer werden die ethnischen Kolonien und umgekehrt: Wenn es sich gegenüber den Migranten verschließt, dann wächst die Bedeutung der Ausländer-Organisationen und damit zugleich auch das soziale Netzwerk fundamentalistischer Orientierungen. Insofern ist der migrationsbedingte Fundamentalismus, zumal in den islamistischen Strömungen, hausgemacht, er ist eine Reaktionsform auf die abweisende fremde Kultur

Fundamentalismus als Fortschrittskritik
Wir haben bis hierher im wesentlichen Erscheinungsformen des Fundamentalismus vorgestellt und miteinander verglichen. Eine zu seinem Verständnis bedeutsame Frage ist die nach seinem Zweck für die Betroffenen selber, also: Wozu eigentlich dient und wofür steht der Fundamentalismus? Im Falle der Migranten in den EU-Staaten handelt es sich offensichtlich um eine Überlebensstrategie in einer als abweisend empfundenen sozialen Umwelt, um ein Mittel, das tägliche Leben besser auszuhalten, indem man sich seiner Wurzeln versichert und mit anderen, gleichfalls Betroffenen, diese Erfahrungen teilt. Der Kampf um Freiräume, um kulturelle, sprachliche, religiöse Autonomie verhilft zum Überleben in der Fremde, er schafft und intensiviert soziale Beziehungen und er definiert das Verhältnis zu den Fremden. Doch es sind auch andere Zwecke denkbar. Martin Riesebrodt spricht von den Strategien des Fundamentalismus als Weltflucht und des Fundamentalismus als Weltbeherrschung (Riesebrodt, 1990)

Weltflucht im fundamentalistischen Zusammenhang bedeutet nicht individuelles Aussteigen, im Gegenteil. Das Gruppenerlebnis ist ein zentrales Merkmal dieser Variante. Es dient dazu, die Entfremdung des Einzelnen von der Welt durch das gruppendynamische Miteinander zu reflektieren und aufzuheben. Weltabgeschiedenes kommunitäres Leben dient der individuellen und gruppendynamischen Autonomie, es wehrt die Einflüsse der als dekadent empfundenen Außenwelt ab und verhilft zur Reinheit des Bewußtseins. Den die moderne Welt kennzeichnenden und sich verschärfende Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft (Ferdinand Tönnies) im Gruppenerlebnis aufzuheben - dies scheint eine mächtige Triebfeder. Das christliche Mönchtum wäre in Europa die Keimzelle fundamentalistischer Weltflucht. Es will ein Beispiel geben, ein Exempel statuieren durch den Aufbau einer Gemeinschaft, deren Beziehung zu Gott durch weltliche Einflüsse nicht behindert wird. Sehr viel mehr weltlich orientiert sind die frühen Kommunen des alternativen Lebens. Sie sind erste Anzeichen eines bewußten Aussteigens aus und einer offensiven Abkehr von den bürgerlichen Lebensformen der Industriegesellschaft. Die säkulare Kommunebewegung sucht nicht mehr die Abkehr von der Welt, um die Einkehr und die Ergebenheit an Gott voranzubringen, sondern sie stellt die Selbsterfahrung, das Experimentieren mit neuen Lebensformen im Kleinen, Alltäglichen angesichts einer zerrissenen Welt in den Mittelpunkt. Der Monte Verità nahe Ascona, legendenumwobene Gemeinschaftssiedlung von Asketen, Vegetariern, Stadtflüchtlingen, Lebensreformern, Bohemiens und Anarchisten, nicht zufällig ursprünglich als Laienkloster geplant, versammelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts jene Welt-Flüchtlinge, die sich anschickten, die bürgerliche Gesellschaft des Wilhelminismus zu überwinden. Die Tessiner Aussteiger waren nur der Auftakt zu einer in periodischen Abständen wiederkehrenden Welle von Versuchen des alternativen Lebens, darunter häufig religiös oder lebensreformerisch motivierte. Der Fundamentalismus der Weltabgeschiedenheit ist auf der Suche nach Inseln der Glückseligkeit, nach Refugien des ursprünglichen, reinen Lebens gegen eine als lebensfeindlich betrachtete Gesellschaft

In der in den siebziger Jahren entstehenden Alternativszene in der Bundesrepublik finden sich vielfältige Aktionsformen, welche die Tradition der alten Versuche um die Jahrhundertwende fortsetzen. Alternativbetriebe und Wohngemeinschaften als alternative Formen des Arbeitens und des Wohnens knüpfen wohl noch am ehesten an diese Traditionen an. Doch die Geschichte der neuen sozialen Bewegungen, ihr Einmünden in das politische und soziale Umfeld der Grünen zeigt die Politisierung dieser Szene, die eben nicht mehr nur weltabgeschieden agiert, sondem sich in hohem Maße den praktischen Anforderungen der Gegenwart zuwendet

Mit dem Fundamentalismus der Weltabgeschiedenheit verwandt und doch ganz anders ist der Fundamentalismus der Weltbeherrschung. Er dünkt sich erhaben über die Innerlichkeit der Weltabgeschiedenheit, er wähnt sich im Besitz der Wahrheiten, die zur radikalen Veränderung der Welt vonnöten sind. Missionarischer Eifer und Sendungsbewußtsein prägen seine Führer und Anhänger. Er leitet aus der Gewißheit einen universalistischen Alleinvertretungsanspruch ab, den er ausdehnt auf die ganze Welt, wobei konkurrierende Ideologien als Feinde zu behandeln sind, die bis aufs Messer bekämpft werden. Thomas Meyer spricht in diesem Zusammenhang vom ,,politischen Fundamentalismus", der besondere Strategien und Taktiken entwickelt habe, um mit den anderen, den Nicht-Dazugehörenden umzugehen

Kompromißfeindschaft, die Unbedingtheit des absoluten Willens zur Macht, die Rücksichtslosigkeit der Machtausübung gehören zu seinen Wesensmerkmalen, historisch betrachtet sei er eine langfristig wirksame ,,destruktive Macht gegen die Grundlage einer vernunftbegründeten, intellektuellen und politischen Kultur" (Meyer, 1989, S. 282f.). Der Fundamentalismus der Weltbeherrschung hat in diesem Jahrhundert verheerende Kriege ausgelöst und Millionen Menschenleben gefordert. Zur Macht gekommen ist er in den totalitären Regimen

Unser Gang durch die verschiedenen Anwendungsformen des Begriffs Fundamentalismus hinterläßt das Bild eines vielschichtigen, in historisch, geographisch und politisch sehr diffusen Zusammenhängen präsenten Phänomens. Totalitäre Herrschaftsformen, weltabgeschiedene Lebensformen, religiöser Protest - all dies scheint zu unterschiedlich, um daraus einen verbindlichen Begriff abzuleiten

Fundamentalismus erscheint je nach den historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten nahezu identisch mit dem Totalitarismus, mit extremistischen Strömungen, mit sektiererischer Religiosität. Wodurch ist es dann noch gerechtfertigt, überhaupt von ,,Fundamentalismus" zu sprechen als einer eigenständigen historischen und aktuellen Protestform, was unterscheidet ihn vom Totalitarismus und Extremismus, was verbindet ihn damit? Eine eigenständige innere Logik gewinnt der Begriff , wenn man ihn bezieht auf Dimensionen der modernen Fortschriftskritik. Alle fundamentalistischen Strömungen beziehen sich auf das in ihrem politischen und gesellschaftlichen Umfeld jeweils dominierende Fortschritts-Paradigma

Die Ablehnung dieses Fortschritts geht einher mit dem Rückbezug auf die vermeintlich verratenen Grundlagen der Kultur, die es wiederherzustellen gelte. Bleiben wir bei unseren Fallbeispielen, so könnten wir nun folgende fundamentalistische Fortschrittskritik rekonstruieren

Die Erklärung der Religion zur staatsfreien Privatangelegenheit in den USA in der Verfassung von 1789 - als letztem Bundesstaat ratifiziert von Massachusetts im Jahr 1833 - wurde in der Praxis konterkariert und aufgeweicht von der bedeutenden Rolle der Religion im Alltag und in der Politik. Die Durchsetzung des kapitalistischen lndustriesystems und in deren Gefolge die multiethnischen und multikulturellen Einwandererströme bedrohten die Hegemonie des weißen Protestantismus und bewirkten die Pluralisierung der Religionen und der Bibelauslegungen. Vor diesem Hintergrund entsteht der protestantische Fundamentalismus als Protest gegen die Aufweichung der bis dahin dominierenden Stellung des Protestantismus, die Dynamik der gesellschaftlichen Modernisierung und den damit verbundenen Fortschrittsmythos

Die Verwestlichung traditioneller islamischer Gesellschaften, besonders deutlich in der türkischen Staatsgründung in den zwanziger Jahren und im Iran unter dem Schah Reza Pahlevi, untergräbt die bis dahin gültige, alles überragende Bedeutung der islamischen Kultur, indem westliche Modelle des wissenschaftlich-technischen, industriellen und kulturellen Fortschritts quasi importiert werden. Der Zusammenstoß von moderner westlicher Kultur und traditionalistischem islamischem Wertekanon verursacht die kämpferische Rückbesinnung von Teilen des Islams auf seine Wurzeln. Die Ablehnung des Westens bringt kulturkämpfensche, politische und militante Formen des Widerstandes hervor

Die Glorifizierung von industriell angewandter Wissenschaft und Technik als dominierenden Maßstäben der Rationalität in kapitalistischen Gesellschaften baute auf das Fortschrittsmodell des immer weiter prosperierenden materiellen Wohlstandes für immer mehr Menschen. Das in den beiden Weltkriegen sich entladende Zerstörungspotential des industriell-militärischen Komplexes und, später, die Warnungen des Club of Rome und das Fanal von Tschernobyl setzten hinter dieses Fortschrittsmodell mehr als ein Fragezeichen. Eine Vielzahl mehr oder weniger bedeutsamer fundamentalistischer Strömungen kämpft für eine radikale Umkehr

Unsere Fallbeispiele illustrieren Leitbilder des Fortschritts, an denen sich die Kritik entzündet hat. Fortschrittskritik bedeutet jedoch noch nicht Fundamentalismus. Es hat kontinuierliche und vielfältige Kritik des Industriesystems und des technischen Fortschritts gegeben, seitdem es moderne wissenschaftlich-technische Entwicklungen gibt. Die englischen ,,Maschinenstürmer" des ausgehenden 16. Jahrhunderts probten den Aufruhr gegen mechanische Webstühle; um 1740 zerstörten Kohlebergleute in Northumberland Förderanlagen, um bessere Löhne durchzusetzen und 1769 wurden in den Midlands Webstühle von Hunderten von Webern zerstört (Sieferle, 1984, S. 69ff.)

Doch den Maschinenstürmern ging es nicht um die Zurückweisung des modernen technischen Fortschritt als solchem, sie verbanden ihren Protest vielmehr mit arbeitspolitischen Forderungen

Maschinensturm, Streik und Sabotage waren vielmehr Ausdrucksformen der organisierten Gegenwehr, wenn es in den Augen der Arbeiter darum ging, Arbeitsplatzvernichtung, steigende Arbeitsintensität und Dequalifizierung zu verhindern (Wulf, 1988, S. 30ff.). Auch den heftigen Widerstand gegen den Eisenbahnbau in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Sieferle, 1984, S. 87ff.) wird man nicht fundamentalistisch nennen können. Man fürchtete vielmehr Krankheiten durch die schnelle Fahrt, Unglücksfälle, Anschläge gegen die Bahn und den Verlust von Arbeitsplätzen im herkömmlichen Transportgewerbe

Nicht wenigen Begüterten schien es ein Graus, als Eisenbahnpassagiere mit Arbeitern und Handwerkern in einem Waggon sitzen zu müssen

Von einem fundamentalistischen Protest könnte man reden, wenn zur Fortschrittskritik einige weitere Faktoren hinzutreten. Da ist zum einen die Strategie des Kompromißlosen, des Unbedingten und des Absoluten, die den Keim der Gewaltbereitschaft in sich trägt, und da ist zum anderen die Mentalität des von quasi-religiösen Motiven durchsetzten Kreuzzuges. Beides begründet den Bewegungscharakter des Protests und beides erst macht die Fortschrittskritik zu einer fundamentalistischen. Schließlich und letztlich aber geht es um den Kern einer als bedroht und beschädigt empfundenen Identität von Volk, Religion, Lebensweise, Kultur, politischer und gesellschaftlicher Ordnung

Marty und Appleby sprechen von einer Situation des subjektiv wahrgenommenen ,,Belagerungszustandes", von dem aus der Fundamentalismus agiert: ,,In dem Gefühl der Bedrohtheit dieser Identität suchen Fundamentalisten ihre Identität durch eine selektive Wiederbelebung von Doktrinen, Glaubensvorstellungen und Praktiken aus einer intakten, heiligen Vergangenheit zu befestigen" (Marty/Appleby, 1996, S. 45)

Irrationalität in der Politik, hier verstanden als vielfältige Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, treffen zu Unrecht auf die scharfe, ja militante Abwehr in den westlichen Gesellschaften. Denn der Fundamentalismus als radikale Fortschrittskritik verweist auch auf die Defizite und Verwerfungen des Fortschritts, er problematisiert ihn und entwirft Gegenbilder

So gesehen hat er durchaus produktive Funktionen für eine demokratische Politik, die sich den Leitbildern der europäischen Aufklärung verbunden weiß

Literatur

Bimbaum, Norman, 1989: Der protestantische Fundamentalismus in den USA, in: Thomas Meyer (Hrsg.), Fundamentalismus in der modernen Welt, Frankfurt/Main, S

121-154

Dahrendorf, Ralf, 1992: Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart

Heckmann, Friedrich, 1994: Ethnische Vielfalt und Akkulturation im Eingliederungsprozeß, in: Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, hrsg. von Klaus Bade, München, S. 148-163

Kippenberg, Hans G, 1996: Nachwort in: Marty, Martin E./Appleby, Scott A., Herausforderung Fundamentalismus

Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt/New York, S. 226-247

Marty, Martin E./Appleby, Scott A., 1996: Herausforderung Fundamentalismus

Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt/ New York

Meyer, Thomas, 1989: Der unverhoffte Fundamentalismus. Beobachtungen in der Bundesrepublik, in: Ders. (Hrsg.), Fundamentalismus in der modernen Welt, Frankfurt/Main, S. 263-286

Meyer, Thomas, 1989: Fundamentalismus

Die andere Dialektik der Aufklärung, in: Ders. (Hrsg.), Fundamentalismus in der modernen Welt, Frankfurt/Main, S. 13-22 Pfürtner, Stephan H., 1991: Fundamentalismus

Die Flucht ins Radikale, Freiburg

Riesebrodt, Martin, 1990: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen

Sieferle, Rolf Peter, 1984: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München

Tibi, Bassam, 1992: Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt

Tibi, Bassam, 1995: Krieg der Zivilisationen, Hamburg

Wulf, Hans Albert, 1987: ,,Maschinenstürmer sind wir keine". Technischer Fortschritt und sozialdemokratische Arbeiterbewegung, Frankfurt/New York

Die Autoren Jaschke, Professor Dr. Hans-Gerd, geb. 1952; Studium der Germanistik, Politik und Pädagogik an der Universität Frankfurt/M.; Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin

 * * * * * * Eine Schriftenreihe der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung