Wenn ich das Wort Pop höre, entsichere ich meinen Revolver
 
Wider die falschen Freunde: Auch Massengeschmack ist elitär

Die einzige konsequent bündnistreue, amerikaselige, mit jeder Faser transatlantische Zeitschrift Deutschlands im gesamten Zeitraum von den Anschlägen des 11. September bis heute war die "Bravo", das niedliche Schwänzchen, mit dem die Plattenindustrie wedelt. Nachdem es gekracht hatte, gab es Aufkleber, später Schlüsselanhänger mit der Fahne der Vereinigten Staaten für die treue Teen-Leserschaft - während es gleichzeitig, wie schon 1991, vor allem dieses leicht verwirrte, laut neuesten amerikanischen Forschungen permanent und hormonbedingt wahnsinnige, liebenswert leidenschaftliche Zielpublikum der Elf- bis Siebzehnjährigen ist, das am vehementesten gegen den sich ankündigen Krieg die Stupsnasen rümpft und die Stimmbruchstimmen erhebt.

Wie damals weiße Bettücher aus Klassenzimmern gehängt und Friedenstauben in waghalsigen Aktionen nachts auf S-Bahn-Waggons gesprüht wurden, geht man jetzt auf die Luxemburg-Liebknecht-Demo in Berlin oder schlägt in München gegen die versammelten Geostrategen mit Kochlöffeln auf Mofahelme. Hat "Bravo" Jungvolkes Stimme nicht vernommen, ist die Popdemokratie kaputt?

Zeitgleich, in den Vereinigten Staaten: Ein relativ kleiner Fernsehkanal, der Spartensender "Sci-Fi Channel", setzt eine Serie ab, die sich in Zeiten schwindender Budgets wegen fehlender Werbeeinnahmen und stabiler, aber nicht wachsender Einschaltquoten nicht mehr trägt: "Farscape". Landes-, ja weltweite Proteste sind die Folge, Fans sammeln Geld, und am 3. Februar 2003 erscheint eine Titelseite des Flaggschiffs amerikanischer Unterhaltungs- und Medienjournalistik, "Variety", auf der nichts weiter steht als der Name der Serie, der Sendeplatz und zahlreiche Urteile der Kritik über die Show, von "Newsday", "USA Today", der "New York Post" und der "New York Times" über "TV Guide", "Entertainment Weekly" und den "San Francisco Chronicle" bis zum "Boston Herald" und der "Bedford Times Mail": "Die coolste Serie im Fernsehen", "ein Vergnügen", "klug, lustig, aufregend, anrührend", "suchterzeugend, erstklassig, witzig". Es bleibt bei der Absetzung, der Stein läßt sich nicht erweichen. Haben die Sendergewaltigen Käse im Ohr, ist das Pop-Prinzip Plebiszit verendet?

Unterdessen, in der Provinz Akademia, auf den Inseln des deutschen Feuilletons, am Kunstmarkt: Verjüngung, Vereinfachung, seid umschlungen, Millionen, bunt, wild, Symposien über "Populärkultur und Globalisierung", plötzlich zu sich kommende Musikkritiker, die das, was sie an Rock immer gehaßt haben, plötzlich toll finden, nämlich, daß man keine Noten lesen können muß, um über diesen Senf zu schreiben, Buchreihen wie ". . . and Philosophy" des renommierten akademischen Verlags "Open Court", herausgegeben von einem waschechten Philosophieprofessor namens William Irwin, schießen aus dem Boden und ins Kraut - bislang erschienen: Bände über die Sitcom-Serie "Seinfeld", die Zeichentrick-Show "The Simpsons" und den Science-fiction-Film "The Matrix", demnächst: "Buffy, the Vampire Slayer". Theater wird Poptheater, Literatur wird Popliteratur: keine Atempause, Geschichten vom Pferd wollen erzählt sein. Verkehrte Welt?

Nicht, daß man sich nicht freuen dürfte, daß die ordinierte Kunstbetrachtung jetzt endlich den lustigen und weisen Martin Kippenberger kapiert oder doch meint, sie täte es - aber wäre es nicht schön gewesen, das hätte ihn zu Lebzeiten ereilt, als daraus noch eine Debatte hätte werden können, auch über stachlige und ambivalente Dinge, statt ein postmortales Abfeiern? Was geschieht hier überhaupt?

Blödheit als Geschäftsidee

Die geistigen Leithammel und Multiplikatoren gehen auf Pop los, der aber verliert allerorten seine Massenbasis, zerfranst sich im Internet - die laufende Ausgabe von "Wired" sieht wieder mal die ganze Musikindustrie am Ende, bei Sony spricht man von "Bürgerkrieg" - und wird semantisch paradox: Das Fernsehen erzeugt "Superstars", deren Karrieredauer mit "ein Siebzehntel Karel Gott" vermutlich zu optimistisch geschätzt ist. Gleichzeitig aber wächst der Pop-Druck in den meinungs- und stimmungserzeugenden Sektoren des öffentlichen Redens: Was der alerte Feuilletonist der Gegenwart ärger fürchten muß als die Entlassung, ist die Klage seiner Kollegen oder derer, die seine Texte fürs Internet zusammenfassen, diese seien zu langatmig, zu altmodisch, zu fordernd, zu hochkulturell und, ach, die vielen Fremdwörter. Denn "die Leser wollen das nicht mehr", und dann fallen die Auflagen, und die Welt geht unter.

So wird's sein. Kennte der Einzelhandel diese Argumentation, wäre sie ihm gewiß ein starker Trost; denn aus vermutlich analogen Gründen verkauft er seit Beginn der Krise immer weniger langatmige Bademäntel, altmodische Teeservices, fordernde Klobrillen, hochkulturelle Computerspiel-Konsolen und mit Fremdwörtern verseuchte Bettlaken. Daß fallende Auflagen und stagnierende Werbeeinnahmen damit zu tun haben könnten, daß Firmen und Leute den Cent viermal umdrehen, um ihn dann doch nicht auszugeben, geht denen, die "Farscape" abgesetzt haben, und den Vertretern eines journalistischen Populismus, der sich mit "Pop" verwechselt, nicht in die Köpfe - was nur logisch ist, denn sie sind als Medienarbeiter vor allem Intellektuelle, und die wollen immer nur den metaphysischen "Sinn" von schlimmen Vorgängen wissen, nie den Grund derselben.

Und so müssen wir das Elend weiter leiden: Vierzigjährige Laffen, die ihre Pubertät verpaßt und keine einzige Nacht ihres Lebens unter Bedingungen durchgemacht haben, die sie nicht kontrollieren konnten - das erst wäre "Pop" -, geben dem Publikum, "was es will" und was zu produzieren sie selbst nicht imstande sind, aber dafür gibt es dann ja dreißigjährige Gecken, deren Faxen suggerieren sollen, Popliteratur sei herzustellen, indem man gewöhnliche Nabelschauschreiberei mit öden Plattenanspielungen durchschießt, anstatt zu kapieren, daß Popliteratur, wenn überhaupt, nur entstehen kann, indem Literaten die Arbeitsbedingungen der Kulturindustrie teilen und das auch wissen, Leute wie Stephen King also, William Gibson oder die Macher von "Perry Rhodan". Wir erleben Popjournalisten, die zwar ernsthaft glauben, "Nirvana" hätten vor fünfzehn Jahren jene Rockmusik erfunden, die sich der Plattenindustrie verweigert, weil sie von Punk nur wissen, daß man dabei bunte Haare hat; die aber trotzdem dem morgendlichen Pendler-Leserstamm erzählen dürfen, irgendeine Quatsch-Band habe auf ihrem jüngsten Konzert in Schwäbisch Gmünd "den Rock neu erfunden".

Die Wir-AG ist leider pleite

Woher aber kommt dieses Grauen? Von der Unbildung. Es ist nämlich folgendermaßen: Pop und Massengeschmack oder gar das, was sich die Exekutivorgane der Quasi-Monopolisten aus der Platten-, Film-, Fernseh- und Meinungsbranche unter Massengeschmack vorstellen, sind seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr umstandslos in eins zu setzen. Pop nämlich meint, seit Intellektuelle an ihm mitwirken, was ungefähr von der "Gegenkultur" der späten Sechziger/frühen Siebziger an der Fall ist, etwas Inhaltliches und nichts Demographisches - jede Art von Kultur, die, anders als das bürgerliche Kunsterlebnis des "interesselosen Wohlgefallens", nicht auf Kanon und Partitur, sondern auf Involviertheit, Emphase, Fan-Riten und Identifikation setzt, im Guten wie im Bösen - auch von letzterem kann man wissen, nicht erst seit "Nazirock".

"Emphase" heißt aber gerade nicht, daß man sich nicht auskennen muß, daß da voraussetzungsloser gearbeitet wird als bei Wagner, Kleist und Caspar David Friedrich: Die Begleitung von Techno durch Rainald Goetz und umgekehrt, die Positionswechsel Diedrich Diederichsens seit 1982 sind keine voluntaristischen Entscheidungen einzelner Pop-Intellektueller, sondern das Thema selbst erzwingt intellektuellen Spielraum. Wenn in einer beliebigen Folge einer Fernsehserie für Jugendliche - nehmen wir mal "Buffy, the Vampire Slayer" und die Folge "Normal Again"- innert knapp fünfundvierzig Minuten Anspielungen auf die elitären Pop-Spielfilme "Taxi Driver" und "Blue Velvet", auf Shakespeares "Julius Caesar", auf "Einer flog übers Kuckucksnest" und Alfred Hitchcocks "Psycho" vorkommen, muß nicht nur das deutsche Synchronisatorenteam Überstunden machen, sondern auch das Publikum. Pop, wenn er was taugt, ist häufig gebildeter als seine Propagandisten; da tut sich eine Schere auf.

Die neue ideologische Pop-Hausse jedoch, die mit dem geschilderten Zerbrechen industrieller Allianzen mit dem Publikumsgeschmack und also einer Popularitäts-Baisse der Kulturindustrie sondergleichen zusammenfällt, ist eine Schimäre. Sie kommt vom schlechten Gewissen derer in den Meinungsmachersesseln, die sich nie dafür interessiert haben, wo das Geld herkommt, und sich deshalb jetzt, da keins mehr kommt, einreden, es käme wohl vom Volk, dem man deshalb schleunigst aufs Maul zu schauen angehalten ist.

Die Befreiung der Popkultur vom Argwohn der Gebildeten während der letzten fünf Jahre war keine des Wissens vom Dünkel, auch keine des Geschmacks vom Geld, und also auch keine Befreiung der Popkultur. Das Ende der Scharade ist nah. Die Pest klopft an die Tür, die Teuerung hat sie schon mitgebracht. Wildes Pferd springt nach Haus; die Lampen leuchten, das Fest ist aus.

DIETMAR DATH

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.02.2003, Nr. 37 / Seite 33