Religion

Die Klone Gottes

In der aufgeklärten Republik verwandelt sich Religion in Esoterik. Das jüdisch-christliche Erbe ärgert viele immer mehr. Warum nur?

Von Thomas Assheuer

Seit Jahren lässt sich in der aufgeklärten Bundesrepublik ein erstaunliches Phänomen beobachten. Die großen Kirchen verlieren ihre Gläubigen, aber die Spielarten des „Religiösen“ nehmen zu. Kultische Ersatzformen und spiritistische Selbsthilfegruppen schießen wie Pilze aus dem Boden; in der Gesellschaft wimmelt es von glücklichen Sekten und wunderbaren Spinnern, Gnostikern, Teufelsaustreibern und Spökenkiekern. Wissenschaftsglaube und Esoterik reichen sich die Hand. Auch ihr liturgisches Zeichen hat die Gemeinde schon gefunden, jene buddhaähnliche Schokoladenmischung aus Weihnachtsmann und Osterhase, die im Wechsel der Jahreszeiten im Supermarkt ausliegt.

Es ist so gekommen, wie es sich die Propheten der Vielheit immer erträumt haben. Der „Abschied vom Prinzipiellen“ ist vollzogen, und niemand möchte ihn missen. Die abendländische Säkularisierung, wie einige Philosophen sagen würden, ist abgeschlossen, Christentum und Religion sind entkoppelt. An die Stelle des „Einen Gottes“ treten esoterische Schrumpfformen oder wissenschaftliche Popularsynthesen mit wechselndem Inhalt.

Und doch, eines passt so gar nicht zur real existierenden Farbenpracht, zum Bild der bunten, toleranten, liberalen und aufgeklärten Gesellschaft. Noch immer ist das Prinzipielle der Religionen, das Unbedingte ihres Wahrheitsanspruches, ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft, weit über den schwindenden Einfluss der Kirchen hinaus. Meistens sind die Motive diffus und unterschwellig, sie werden eher in kleiner Münze ins Spiel gebracht als offen ausgesprochen. Sie finden sich als Ressentiment bei liberalen Technokraten oder als Bekenntnis in den Reihen linker wie rechter Intellektueller.

Beim Streit um den Embryonenschutz fühlten sich sogar die besonnenen Verfechter der Biowissenschaften genötigt, dem „verstockten“ christlichen Menschenbild den Kampf anzusagen. Der religiöse Fundamentalismus, so argumentierten sie, bilde eine mentale Sperre, die verhindere, dass Deutschland in das Zeitalter der biogenetischen Selbstverbesserung eintrete. „Transhumanisten“ und Klonfabrikanten wollen das christliche Personenbild gleich ganz aus dem Verkehr ziehen und den Altmenschen durch einen homo novus ersetzen, der sich frei von metaphysischen Hemmungen dem Spiel der Kräfte überlässt. Auch der linken Kapitalismuskritik, man denke nur an Hardt und Negris Buch Empire, ist das alteuropäische Erbe ein Dorn im Auge. Glaubt man den Autoren, dann blockiert es den vitalistischen Aufbruch der Weltgesellschaft und setzt der Selbsterfindung unnötig Grenzen. Und außerhalb dieser Milieus verdichtet sich die Kritik an der Religion zu einem Generalverdacht, unter dem alle möglichen Ängste versammelt werden – die Angst vor Sinnverlust und Globalisierung, überhaupt die stille Verzweiflung über ein vom Gott der Moderne mobil gemachtes Leben, bei dem man fürchtet, nach all den Strapazen am Ende doch um die Früchte betrogen und auf den Himmel vertröstet zu werden.

Von dieser auf den ersten Blick ganz unverständlichen Wut auf den verblassenden Geist der Religion ist auch die Literatur nicht frei. Berüchtigt ist eine Passage aus dem Roman Plattform (Du Mont Verlag), in dem der französische Autor Michel Houellebecq, genauer: sein Erzähler, die monotheistischen Religionen für die Sinnlosigkeit der Welt verantwortlich macht. Während er den Katholizismus gerade noch erträglich findet, weil er so hübsch heidnisch sei, graust ihm vor den anderen Religionen, erst recht vor dem Islam. Die Botschaft des orientalischen Wüstengottes, der Glaube an das „Eine Prinzip“, habe den griechischen Himmel entvölkert und die paradiesische Fülle der Welt in eine Einöde verwandelt. Für Houellebecq ist die monotheistische Aufklärung der Stoff, aus dem die schreckliche Moderne ist, der verborgene Grund für das kalte und uniforme Leben, für Leiden und Einsamkeit. Erst heute aber sei die himmlische Botschaft vollends auf die Erde herabgestiegen. Sie habe sich zum amerikanischen Sendungsglauben säkularisiert und bilde die ideologische Superstruktur der Globalisierung. Sogar das biblische Erlösungsversprechen sei Fleisch geworden: als Fetisch des Konsums, als Göttlichkeit des Geldes und Götzendienst am Körper.

Houellebecqs Religionskritik ist ein Akt der Trauer und bleibt ästhetisch in der Schwebe. Von Martin Walsers doppelter Abrechnung mit dem jüdisch-christlichen Glauben konnte man dies nicht sagen. In einem Aufsatz in der Neuen Zürcher Zeitung (vom 10.10.98) machte Walser Front gegen die universale Ethik der Bibel und bezeichnete sie als eine Quelle von Herrschaft und Gewalt. Sogar zwischen Liebesgebot und historischer Unterdrückung sieht Walser einen unauflöslichen Zusammenhang. Dass er im Gegenzug die keltischen Wald- und Wiesengottheiten rühmte, trug ihm völlig zu Recht den Vorwurf des „Neuheidentums“ (Salomon Korn) ein. Der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz bescheinigte Walser „Gefühlsantisemitismus“ und einen prinzipiellen Affekt gegen „jüdisch-christliche Tradition“.

Von diesem Affekt zehrt auch sein Roman Tod eines Kritikers (Suhrkamp Verlag), in dem Walser das Bild einer von Grund auf verkehrten, total verhexten Welt entwirft, die von einem kosmopolitisch bewegten Kulturkartell beherrscht wird. Anführer des Kartells ist ein Großkritiker; ein ewiger Beckmesser, der mit dem Schwert seiner kritischen Wahrheit deutsche Meistersinger und nationale Schriftsteller zu lächerlichen Figuren macht. So wie Walser diese Figur beschreibt, liegt über ihr der alte Fluch. Der Kritiker kommt aus der Fremde. Er gehört jener Religion an, die die Unterscheidung von Gut und Böse unter die Menschen gebracht hat. Er herrscht im Namen dieser Unterscheidungen. Er ist ein Jude.

Gewiss, das sind Romane, also ästhetisch gebrochene Gebilde, die ihre Behauptungen in einen poetischen Widerstreit verwickeln, manchmal aufheben oder gar widerrufen. Sie sind von anderen Äußerungsformen grundverschieden und halten ihre Weltdeutungen offen, jedenfalls ist das bei Houellebecq der Fall, der seinen Roman nicht als Schlüsselroman, nicht als Vernichtung einer identifizierbaren Person angelegt hat. Anders verhält es sich mit dem politischen Antimonotheismus, der gerade in den Reihen rechtsradikaler Globalisierungskritiker Karriere macht. Hasserfüllt konstruiert er eine direkte Verbindung zwischen dem Geist des „Judenchristentums“ und dem globalen Kapitalismus, zwischen den Werten von Gleichheit und Gerechtigkeit und der Unterwerfung der „Völker“ durch die Vereinigten Staaten. Amerika agiere wie der jüdische Gott: Es erfinde die Unterscheidung von Gut und Böse, um sich dann unter Berufung auf diese vermeintliche objektive Unterscheidung die Welt untertan zu machen. Was in der Wüste Sinai begonnen hat, ende als imperialer Triumph des amerikanischen Hegemon. In God we trust.

Mit einer Kirchenkritik sollte man den politischen Antimonotheismus nicht verwechseln. Es geht ihm nicht darum, die Gewaltanteile der Bibel aufzuspüren oder an die Blutspur zu erinnern, die die Ecclesia triumphans durch die Geschichte der Menschheit gezogen, das unendliche Leid, das sie den Feinden Gottes, den Ungläubigen, den Häretikern, „Hexen“ und Heiden zugefügt hat. Dieser neue Antimonotheismus gibt sich mit den Nuancierungen eines Jacques Derrida erst gar nicht ab; er hat auch nichts mit der Religionskritik eines Richard Rorty zu tun, der die Wahrheitstafeln der Religion niedriger hängen, das Entzauberungsprogramm der Religion selbst entzaubern und die christliche Brüderlichkeitsethik allein für das solidarische Zusammenleben der Menschen reservieren möchte. Der Streit ist auch von anderer Qualität als die Kontroverse, die Hans Blumenbergs und Odo Marquards Abschied vom Prinzipiellen ausgelöst hat. Marquards Justemilieu-Philosophie zielte, bei allen dunklen Anspielungen auf das jüdische Prinzip der Kritik, auf eine Abkühlung der Aufklärung – gegen eine marxistische Eschatologie, für eine Öffnung der Sprachspiele und Weltentwürfe .

Mit solchen Kleinigkeiten gibt sich der radikale Antimonotheismus nicht zufrieden. Er segelt im Windschatten der attac-Bewegung und versucht, die Ablehnung der jüdisch-christlichen Religion mit der Kritik an der Globalisierung oder dem Messianismus der Bush-Regierung kurzzuschließen. Vor allem der französische Philosoph Alain de Benoist sieht sich im Aufwind. Er ist einer der „geistigen Führer“ der Neuen Rechten, und wenn man wissen will, was politischer Antimonotheismus in seiner unverhüllten, barbarischen Reinform bedeutet, kommt man um die Lektüre seiner Pamphlete nicht herum. Von ihm stammt die Fibel des intellektuellen Rechtsradikalismus, das obszön antijudaistische, auch in Deutschland gern herumgereichte Pamphlet Heide sein. Das „Judenchristentum“, so lautet die Parole, habe das negative Prinzip der Kritik erfunden, die tolerante Welt der Griechen zum Einsturz gebracht und einen Zentralisierungs- und Vereinheitlichungsschub ausgelöst, der die Welt ins Chaos stürze und Europa seiner „eingewurzelten“, nordischen Göttern beraube.

Damit ist das Sündenregister des Monotheismus noch nicht erschöpft. Benoist und seine Gefolgsleute werfen dem „jüdischen“ Paulus vor, er habe die Menschheit verhext und ihr eine Basisneurose verpasst: das schlechte Gewissen. Der Glaube an den alles beobachtenden Gott zwinge das souveräne Subjekt unter das Joch von Schuld und Verantwortung. Anstatt sich, wie in der Antike üblich, demütig mit Leiden und Unrecht, mit Macht und Herrschaft abzufinden, habe der egalitäre Universalismus der Bibel den Menschen die Gleichheit eingeredet und dem Leben alle Bejahungsenergie entzogen – „kraftzersetzend“ und „machtvernichtend“.

Gut getarnt: Martin Walsers politischer Antimonotheismus

Benoist konstruiert eine düstere Genealogie, seine „Achse des Bösen“. Weil alle modernen Prinzipien, vor allem Freiheit und Gleichheit, biblischen Ursprungs sind, sei das „Judenchristentum“ ein Bolschewismus avant la lettre. Die Erlösungsbotschaft führe über die Französische Revolution direkt zu Karl Marx, schließlich zum Terror des 20.Jahrhunderts. Mit der Pax Americana ende das zweitausend Jahre alte Programm der Weltbemächtigung. Die Botschaft der Wüstenreligion habe die Erde verwandelt: in eine Wüste.

Mit dieser Generalabrechnung empfiehlt sich Benoist als Thronfolger der marxistischen Ideologiekritik, was den Zulauf ehemaliger Linker erklärt, die den Kapitalismus schon immer für eine jüdische Erfindung hielten. Doch anders als die Helden von links träumt der politische Antimonotheismus von der heroischen Nation und wütet gegen alles, was sich auch nur entfernt auf die Bergpredigt beruft. Der Kampf gegen den „Westen“ ist für Benoist der Kampf gegen seine kulturellen Grundlagen. Deshalb müsse den jüdisch-christlichen Wurzeln das Wasser abgegraben werden – nur dann, wenn das Feld der Politik von der „machtfeindlichen“ Gerechtigkeitsmoral gereinigt sei, könne wieder „aristokratisch“ regiert werden. Der Fürsorge- und Konsensstaat müsse in Trümmer gelegt werden, damit Härte, Klarheit und tragische Gegensätze wieder Einzug in die Politik halten. „Der Mensch der Zukunft wird der Herr der Gegensätze sein. Er wird eine Romantik aus Stahl praktizieren.“

Wenn es eines Tages so weit sei, werde Europa zu den eigenen, den völkischen Wurzeln zurückkehren, zu seinen lokalen Göttern, der heidnischen „Glaubens-Alternative“ zum Monotheismus. Nationales Brauchtum, Wälder, Wiesen und keltische Götter ersetzten das Liebes- und Gerechtigkeitsgebot des „Judenchristentums“. Das „Gift“ der Bergpredigt werde eliminiert. „Das Heidentum heiligt diese Welt, während der jüdisch-christliche Monotheismus sakralisiert und von der Welt abzieht.“

Man könnte die rechtsradikale Spielart des politischen Antimonotheismus beruhigt rechts liegen lassen, wenn sich sein Echo nicht in der bürgerlichen Mitte auffällig verstärken würde. So findet sich die Vorstellung vom Gift des Evangeliums auch bei Martin Walser (ZEIT Nr. 4/03), und auch er möchte die Religion normativ entkernen und auf den wortlosen Akt mystischer Ich-Erfahrung beschränken – alles, nur keine christliche Moral, nur keine Ethik. Die eigentlich religiöse Substanz steckt für Walser in den Spitzenwerken der nationalen Literatur, und sie entbirgt sich im Maß der kontemplativen Versenkung. So kommen Religion und Kunst zur Deckung. Wie bei Richard Wagner verwandelt sich der kommende Christus der Religion in den anwesenden Erlöser der nationalen Kultur.

Walsers Kunstreligion zertrümmert die unendliche Differenz zwischen Mythos und Offenbarung, Gott und Göttern, Schöpfung und Erlösung. Sie spaltet eine deutsche Eigenerinnerung von der deutsch-jüdischen Gesamtgeschichte ab und pumpt die Literatur zu einer Ersatzreligion auf, deren Originalität sich in der unbeholfenen Nachahmung Heideggers erschöpft. Denn um zum „Eigentlichen“ zu gelangen, so Heidegger in seinem Nietzsche-Buch, müssen „wir alle Vorstellungen über die Gerechtigkeit, die aus der christlichen, aufklärerischen, bürgerlichen und sozialistischen Moral stammen, ausschalten“.

Nun geht es nicht um Walser, sondern um Stereotypen – um die seltsame Vorstellung, man könne die Moderne retten, indem man das christlich-jüdische Erbe abschüttelt und mit einem Tigersprung in das wahre und sprachlose Sein eintaucht, wahlweise in die ägyptische Kosmogonie, in die friedfertige Welt der vorchristlichen Griechen oder in Hölderlins nationale Lyrik. Das Freundlichste, was sich dieser Vorstellung nachsagen lässt, ist, dass sie ihr Motiv verrät. Denn tatsächlich geht es darum, moderne Blindheiten zu korrigieren und zu fragen, was der Abstraktionsschub des Monotheismus, was unsere Denk- und Glaubensweisen nicht nur an Einsichten eröffnet, sondern auch, welche Erfahrungen sie verstellt und entwertet haben.

In einer unendlich skrupulösen, tausend Seiten umfassenden Studie über Pindar, den größten Dichter der Antike (C. H. Beck Verlag), hat sich der Berliner Philosoph Michael Theunissen diesen Fragen gestellt. Theunissen hat mit dem Versuch Ernst gemacht, durch die monotheistische Zäsur hindurchzugreifen und Erfahrungen zur Sprache zu bringen, die uns und unserem theologischen Vokabular fremd geworden sind – allerdings mit einem ganz anderen Ergebnis, als sich die schlichten Nachfahren Heideggers dies hätten träumen lassen. Mit einer philologischen Inständigkeit, die dem Leser nichts als Bewunderung abnötigt, legt Theunissen die Zeiterfahrungen der frühgriechischen Epoche frei, um sie gegen die Verengung des modernen Zeitbewusstseins aufzubieten. Er will zeigen, wie sich bei Pindar ein „Überstieg“ ereignet, wie die Zeit einer in Schuld und Gewalt verstrickten Geschichte von einer religiösen, den Mythos aufsprengenden Erfahrung transzendiert wird – nicht als Entlastungserfahrung, nicht als Offenbarung einer ewigen und tragischen Seinsordnung, sondern als Einbruch göttlich erfüllter, alles verwandelnder Zeit.

Der Geist der neuheidnischen Revolte ist opportunistisch

Diskret weist Theunissen jene Philosophen und Theologen in die Schranken, die die Antike zur Vorgeschichte herabsetzen, gleichsam zu einer mythogen gestimmten Inkubationszeit des Monotheismus. An Heidegger, dessen Impuls Theunissen teilt, bleibt gleichwohl kein gutes Haar. Ausgerechnet derjenige Philosoph, der mit großer Prätention die Antike von modernen Glaubens- und Denkmustern hatte frei halten wollen, habe seinen Gegenstand manipuliert und verfälscht. Heidegger, so Theunissen, missbrauchte erst die Vorsokratiker, später Hölderlin als Kronzeugen für eine ressentimentgeleitete Modernekritik und eine nationale Erweckung – oder weniger vornehm: Er habe aus dem antiken Erbe herausgelesen, was sein Hass auf die Moderne vorher hineingelegt hatte.

Dass diese Korrekturen unter den Kulturkämpfern auf offene Ohren stoßen, ist wenig wahrscheinlich. Für Theunissen, so darf man ihn verstehen, ist der Kampf gegen die ethische Zäsur des Monotheismus so abwegig wie der Streit, den die intellektuelle Rechte in den zwanziger Jahren angezettelt hat und der heute noch in den Köpfen der rechten Kulturkritik spukt. Schon damals stand, im Gefolge von Nietzsche, das jüdisch-christliche Erbe unter dem denunzierenden Verdacht, eine fremde, undeutsche und lebensfeindliche Macht zu sein, die vom griechischen Ursprung und vom „Eigentlichen“ des Daseins ablenke – von der tragischen Verfassung des Lebens, von Kampf und Niederlage, Triumph und Schande.

Dieses Erbe darf man getrost ausschlagen und jenen unbelehrbaren Sonntagsrednern überlassen, die das Ausbleiben der nationalen Wende nach 1989 nicht verkraftet haben. Tragische Existenz contra Sozialstaat, „Schönheit gegen Wahrheit“, Souveränität gegen Gleichheit – diese Gegensätze sind von gestern. Dennoch bleibt die Frage, auf welche Krisenerfahrungen der politische Antimonotheismus reagiert – und ob es Erfahrungen sind, für deren Deutung derzeit nur kulturkonservative oder reaktionäre Muster bereitstehen. Gut möglich, dass aus dem Gestus des Abräumens ein absurd verdrehter Protest gegen die kommerzielle Ausplünderung und Verarmung der Lebenswelt spricht, ein Widerstand gegen „liberale“ Mobilmachung und marktförmige Zurichtung. Vielleicht verrät der ungestillte Hass auf die „monotheistische Moderne“ auch ein Verlangen nach existenziellen Erfahrungen, die sich nicht in die Sprache von Recht und Moral pressen lassen; weder in das Schema von Politik noch in die Schablonen des Fortschritts.

Für diese Vermutung spricht auch das wütende Beharren auf ästhetischer Souveränität und elitärer Differenz, erst recht die Forderung nach unverhandelbaren Werten, die in keine andere Sprache, keinen anderen Code konvertiert werden können und sich sperren, in den Verwertungskreislauf des Kulturbetriebs eingespeist zu werden. Und dennoch: Wie viel Denunziationsenergien muss man aufbringen, um dafür die monotheistischen Religionen verantwortlich zu machen?

Bleibt ein letztes Argument. Viele Antimonotheisten machen damit Reklame, sie seien die letzten Widerstandskämpfer der Moderne: Partisanen im Kampf gegen einen „Kapitalismus als Religion“, gegen die Selbstbeweihräucherung des „Liberalismus“, gegen Entleerung und Sinnverlust. Aber man fragt sich, wie es um diesen Widerstand bestellt ist. Eindrucksvoll hat der Theologe Jürgen Manemann gezeigt, dass sich im neuheidnischen Elitennationalismus ein zutiefst opportunistischer Geist verbirgt. Er habe keine Antwort auf die Gewalt, verabsolutiere das Endliche und verewige den Krieg. Religiöse Erfahrung, so schreibt Manemann in seinem Buch über politischen Antimonotheismus (Carl Schmitt und die Politische Theologie, Aschendorff Verlag), werde auf ihr kultisches Moment reduziert oder auf die Feier der Natur. Die Sorge für das Nächste ersetzt die Sorge für den Nächsten; der spirituelle Rest kreist stumpfsinnig um Ich-Erfahrung und Selbsterlösung. Ein jeder ist sein eigener Gott; er hofft auf nichts, nur auf sich selbst. Der politische Antimonotheismus, so Manemann, sei die perfekte Ergänzung einer liberalen Ideologie, die vom Einzelnen nichts anderes verlangt als Anpassung an die gesellschaftliche Dynamik. Seltsam nur, dass es dem bürgerlichen Publikum bei der kalten Anbetung des Ich derzeit ganz warm ums Herz wird.

(c) DIE ZEIT 08/2003

ZUM ARTIKELANFANG