Die Akademie der Dilettanten.
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1. Definition: der Dilettant ist der produktive Nicht-Fachmann, einer, der das Metier oder das Handwerk nicht beherrscht, und doch etwas produzieren möchte.

> Das setzt zweierlei voraus: es gibt eine Gruppe von Leuten, die entscheiden können, was zu einem Fach, zu einem Beruf, zu einer spezialisierten Tätigkeit, zu einem "Handwerk" gehört, und was nicht; diese Leute beurteilen die Produktionen, ihre eigenen, und die anderer Leute; oder es gibt Leute (Kritiker), die das für sie tun, professionelle Beurteiler;

> und es gibt zweitens Leute, die etwas produzieren, aber durch die Gruppe der Fachleute und Kritiker aus der Produktion ausgeschlossen werden, oder eigentlich ausgeschlossen werden sollen, weil sie bestimmte Standards, Werte, Normen, Fertigkeiten nicht anerkennen und/oder beherrschen.

2. Worum es also bei dem Wort "Dilettantismus" geht, ist die Grenze zwischen Produktion und Rezeption, einer spezialisierten Produktion und einer einerseits ebenso spezialisierten Rezeption -- der Rezeption durch die Leute vom Fach, die Leute, die produzieren, die es richtig machen, oder Leute, die richtig rezipieren können --, und einer unbeschränkten, jedem, dem gesamten Publikum zustehenden Rezeption (die aufgrund der spezialisierten Rezeption erst als "historischer Abstand", als "Popularisierung", als "Musealisierung" usw. entsteht).

> Und das Wort "Dilettant" sagt ganz laut und deutlich, daß es sich bei dieser Grenze um eine Barriere handelt: man kommt über die Grenze nicht so einfach rüber, man soll nicht rüberkommen, und wenn man es dennoch tut, also von der bloßen Rezeption zur Produktion wechselt, dann wird man bestraft, und zwar ganz einfach dadurch, daß man als "Dilettant" wieder abgewertet, aus der eigentlichen Produktion, der Produktion des Wertvollen, ausgeschlossen wird.

> Der Dilettant produziert Müll, Abfall, Belangloses, Ramsch, der dazu prädestiniert ist, als namenloser Müll in den Ramschläden zu enden, denn "Dilettantismus" ist ein Versuch, sich einen Namen zu machen, der zum Scheitern verurteilt ist, oder werden soll.

> Das ist der Stellenwert dieses Wortes seit dem 18. Jahrhundert, in allen Wissenschaften, in allen Künsten, in allen Handwerken, in allen spezialisierten Tätigkeiten: wo es eine Spezialisierung gibt, da gibt es auch ihren jeweiligen "Dilettantismus", das "Problem" des Dilettanten, und "Problem" kann hier zweierlei heißen:

> der Dilettant hat ein "Problem", denn er möchte ja gerne produzieren, und er möchte vielleicht auch gerne anerkannt werden, und zwar nicht als "Dilettant", sonder als das, was die spezialisierte Tätigkeit vorsieht, also als Maler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Töpfer, Germanist usw.,

> -- und andererseits haben die Leute von einem Fach, oder auch nur die fachlich kompetenten Beobachter, also die Kritiker, Rezensenten, Begutachter, Kuratoren, Stipendienorganisationen usw. das "Problem", den Dilettanten auszuschließen, oder die Unterscheidung von drinnen und draußen, kompetent und inkompetent immer wieder aufs Neue zu ziehen.

> Also: Jede Spezialisierung erzeugt ihre Dilettanten, denn sie erzeugt ihre eigene Barriere zwischen Produktion und Rezeption, diese Barriere und diese Leute bleiben nur dort unsichtbar, wo sie darauf verzichten, etwas zu produzieren oder zu veröffentlichen, und beides ist im Interesse der Spezialisierung: das Sichtbarmachen der Grenze, und ihre Unsichtbarkeit.

3. Diese Lage wird durch einiges unübersichtlicher, ebenfalls seit dem 18. Jahrhundert, ebenfalls für die gleichen Leute, auf beiden Seiten der Unterscheidung.

> Zum einen gibt es in jeder Spezialisierung die Aufgabe der Innovation, oder etwas weniger wertend, die Veränderung der fachlichen, handwerklichen, künstlerischen Standards. Die Standards sind die ganze Zeit in Veränderung, im Fluß, und die Veränderung wird belohnt, wo sie erfolgreich ist: als "Innovation", als "Fortschritt", als "Überbietung" des Alten, oder auch nur: als Abschaffung des Alten, weil sie das Alte ad acta legt, historisch macht.

> Wenn das Neue, oder die Veränderung geschieht, wenn "eine wirkliche Veränderung" geschieht, kann sie aber gar nicht mit den herkömmlichen Standards gemessen werden, muß also zuerst mit Notwendigkeit als "dilettantisch" angesehen werden; und genau das ist die letzten 200 Jahre natürlich immer wieder geschehen: jede neue Art des Herstellens, in Wissenschaft, Kunst, Schreibe, ist zuerst als eine Form von "Dilettantismus" verübelt worden, um dann natürlich ebenso sehr als eine neue Form "Handwerk" und "handwerklich korrekt" angesehen und unterrichtet zu werden.

> Und diese Bewertung hat überhaupt nichts mit der Mühe oder dem Aufwand zu tun, den die neue Methode, oder das neue Ereignis für den Produzenten oder für den Rezipienten bedeutete, einzig und allein damit, ob es vorgesehen war, oder nicht.

> Nun ist diese Geschichte wiederum gar nicht so einfach, denn sonst könnte man sich ja mit einer affirmativen Geschichte der Avantgarde, aller Avantgarden in allen Wissens- und Könnensbereichen begnügen: Innovation ist gefordert, Innovation setzt sich durch, also unterschreibt man den Innovationsimperativ, setzt ein Ausrufezeichen hinter ihn.

> Diese Haltung geht an der Sache vorbei, denn wenn man zurückblickt, muß man ja auch feststellen, daß dieser Vorgang: das, was einmal "dilettantisch" war, ist jetzt Teil des Handwerks oder des Metiers, überall schon erwartet wird und in die Erwartungen und Planungen einbezogen ist: man erwartet die Erneuerung bzw. Veränderung, man geht von ihr aus, und will sie überall befördern, durch Forschungsprogramme, durch Nachwuchsförderung, durch Mode, durch Wettbewerbe, kurz: durch die Suche nach dem "What's Next".

4. Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, in dem sich der Vorwurf des "Dilettantismus" mit einer ganz ähnlichen Zwangsläufigkeit stellt:

> und das ist ganz einfach die Ausbildung in einem Fach, sei es ein Wissenszweig, sei es ein Berufsbild, sei es jede Tätigkeit, für die es Spezialisten gibt und Zuschauer.

> Und hier bin ich natürlich da angelangt, wo wir immer schon sind, überall, in jedem Fach, ob sie so heißt oder nicht: in der AKADEMIE.

> Denn der Novize -- so will ich den Studenten jetzt einmal nennen, ob er Lehrling ist, Schüler, Hilfskraft, Assistent, Zuschauer, Bewunderer, oder was auch immer, das spielt hier keine Rolle: er will etwas, er ist neu bei der Sache, er "will da durch", und das heißt: durch die Barriere zwischen Rezeption und Produktion hindurch, er will nicht mehr nur Bilder sehen, sondern auch Bilder malen, nicht mehr nur Aufsätze lesen, sondern Aufsätze schreiben, nicht mehr nur Theorie lesen, sondern selber theoretisieren usw. -

> - dieser Novize steht vor dem Problem des "Dilettanten", und er steht vor diesem Problem dort, wo es am Ende, wenn man den Buchstaben des Programms folgt, keine Dilettanten geben soll: in einer fachlichen, in einer spezialisierten Ausbildung.

> Der Novize, wie gesagt, er könnte auch "Student" heißen, ist also doppelt drinnen, und doppelt draußen: er gehört ja schon "zum Fach", denn er studiert es ja, er ist Teil des Betriebs, und darauf kann er sich gegenüber den bloßen Rezipienten, seinen Eltern, seinen Freunden, allen Leuten, die ihn angreifen könnten, zurückziehen: ich gehöre dazu.

> Aber natürlich ist er in der Hierarchie dieses Fachs, wie die sich nun im einzelnen gestaltet, als Szene, als Klasse, als Seminar, als vollständige Isolation mit Büchern oder Bildern, soll hier einmal egal sein, zwar drinnen, aber unten, und das heißt: er ist der Dilettant in der Hierarchie, der erst noch beweisen muß, und zwar ab jetzt viele lange Jahre lang beweisen muß, wozu er fähig ist, wie weit er kommen kann, wie weit nach drinnen / nach oben, dorthin, wo die "Meister" sind, die ihn betrachten oder, das ist der Normalfall, ignorieren.

> Dieser Zustand wäre schwer zu ertragen, wenn man nicht so sehr darauf bauen würde, daß es sich um einen Übergangszustand handelt: man macht das einige Jahre, in der Hoffnung, dann zu wissen, wo man sich in der Hierarchie, oder in den diversen Hierarchien befindet.

> Alles ist hier Initiation, Durchschleusen, Hoffnung.

> Doch man muß auch die Statik im Auge behalten: es handelt sich hier mitnichten um einen "Übergangszustand", denn dieser Zustand ist permanent, granithart, denn wenn dieser Zustand als Ganzes wegfallen würde, gäbe es das Fach nicht mehr, oder die betreffende Gattung, das betreffende Handwerk.

> Was biographisch immer als ein "Übergang" angelegt ist, in dem man näher ins Zentrum, höher in der Hierarchie, durch die Barrieren von der Rezeption zur Produktion vorstoßen will, und in dem natürlich 99% aller Leute, also eigentlich fast alle anderen Leute scheitern sollen, müssen, dürfen, das ist in der Organisation des betreffenden Handwerks der konkrete Vorgang der Unterscheidung zwischen Rezeption und Produktion, durch den Selbstrekrutierung und Hierarchiebildung möglich ist:

> die einen sind Künstler, Professoren, Kuratoren geworden, die anderen Kritiker, Lehrer, Journalisten, und wieder andere gar nichts.

5. Nun will ich hier nicht das Bild eines vollständigen Funktionierens malen, denn nichts funktioniert so gut, wie man es beschreiben kann, auch nicht der Betrieb eines akademischen Fachs, oder einer kunstgeschichtlichen Epoche.

> Man kann alles, was mit Macht zu tun hat, also auch die Beziehung von Fach und "Dilettantismus", als ein Panoptikum konstruieren, von allen Seiten einsichtig, von allen Seiten unberührbar -- ob jemals eine Frage der Macht, oder der Autorität, als ein solches Panoptikum funktioniert hat, das ist eine andere Sache.

> Doch über die Schwere der Aufgabe kann man sich nicht täuschen, und man kann sich im fortschreitenden Semester ja ohnehin keinen Illusionen mehr hingeben:

> es geht hier um die Frage, wieviel Kompetenz, wieviel Autorität den jeweiligen Mitgliedern einer Hierarchie zugesprochen wird. Und die Frage der "Ausbildung" -- ob jemand in einer Ausbildung ernst genommen wird, oder nicht -- entscheidet sich zuerst an der Frage, wie dilettantisch die Produktion "noch" ist.

> Scheinbar handelt es sich hier nur um eine Minimalbedingung: man soll nicht "dilettantisch" sein, denn dann kann man noch nichts, in Wirklichkeit geht es hier um die Autorität und Kompetenz der Gesamthierarchie, denn man kann auf jeder Stufe wieder "dilettantisch" sein und als "Dilettant" ausgeschlossen werden, auch auf der Ebene des Meisters oder Professors, es gibt keine Stellung in der Hierarchie, die einen vor dem Vorwurf schützen würde.

> Wenn man sich die ersten Jahre vor allem mit dem Vorwurf des "Dilettantismus" abplagt, dann geschieht das nicht, weil dieser Vorwurf irgendwann verschwindet, sondern weil man in den ersten Jahren lernt, diesen Vorwurf für sein ganzes Leben lang mit sich zu tragen, und zu beachten.

> ("Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.")

> Nun gibt es ganz klassische Abwehrmechanismen gegen diesen Druck, den der "Novize" in einem Fach, einem Kompetenzbereich verspürt, den er zu Recht verspürt, denn weder sein Urteil, noch seine Produkte zählen.

> Zwei solcher Reaktionen will ich erwähnen.

> Die erste Reaktion, die auch aufgrund der heutigen Lage der Universität sofort mit dem ersten Semester entsteht, ist die, daß man sich unterfordert fühlt, unterfordert und unterversorgt, unterinformiert, unterbelehrt, unterbebildet.

> Es gibt gar keine Universität oder Akademie, die einem das beibringt, was man lernen soll, und man kann sich auch nicht bei einer bestimmten Instanz darüber beschweren.

> Und das führt vor allem zu dem Gefühl, daß man das Handwerk, oder vielleicht auch ganz viele handwerkliche Fähigkeiten lernen sollte, um mit dieser Inkompetenz, der eigenen und der Inkompetenz der Institution und ihrer Lehrer umgehen zu können.

> Wenn man Studenten aus dem Grundstudium irgend eines Fachs fragt, was am Grundstudium verbessert werden sollte, dann richten sich die Verbesserungsvorschläge meistens auf die Inhalte und das Fachliche des Fachs:

> man will mehr Handwerk, mehr Information, mehr Allgemeinwissen des Fachs, man will mehr nachhause tragen können, man will sich in der Institution mehr zuhause fühlen dürfen.

> Mit einem Wort: man will sich nicht als Dilettant fühlen, dem die notwendigen Ansprüche, Informationen und Techniken auch noch vorenthalten werden, und zwar, wie man deutlich spüren kann, zwar ohne Absicht, aber bewußt vorenthalten werden, oder: absichtlich, aber unbewußt. (Wie auch immer.)

> Andererseits ist Technik, Handwerk, fachliches Wissen zwar beruhigend, aber keine Lösung, weder für persönliche Fragen, noch für die Frage, was man mit diesem Handwerk anfangen soll. (HOW TO DO CAN NOT STOP THE QUESTION WHAT TO DO.)

> Wer nur das Handwerk beherrscht, und das gilt für jedes Fach, ob es Malerei oder Physik, Journalismus oder Werbung ist, also für alles, was mit Forschung zu tun hat, wer nur das Handwerk beherrscht und bedient, kann bestenfalls Kunstgewerbe produzieren, oder solide Übererfüllung, also auch wiederum etwas, das trotz allem guten Willen der Beteiligten, Zuschauer und Akteure, nur als dilettantisch abqualifiziert wird, selbst dort, wo man es bezahlt und gebraucht.

> Anders gesagt: man kann sich keinen Namen damit machen. Das handwerklich korrekte Produkt, in der Kunst wie in der Wissenschaft wie in der Graphik wie in der Naturwissenschaft, ist ein Produkt ohne Namensrecht, ein anonymes Produkt, und wenn jemand auf seinen Namen besteht, um es als Kunst, als Innovation, als Forschung durchsetzen zu wollen, dann ist es das Produkt eines Dilettanten, der nicht versteht, womit man sich einen Namen machen kann, und womit nicht.

> Denn "Handwerk", Metierbeherrschung ist zwar gefordert, und zwar in Form vieler, lernbarer, spezialisierter Tätigkeiten, aber es ist nicht genug:

> um sich einen Namen zu machen, zählt jenseits der Barriere zwischen Rezeption und Produktion nur die bereits erwähnte "Innovation", die Veränderung der Standards, nicht das handwerklich Gängige, das zum Zeitpunkt seiner Einführung in die Ausbildung oder Akademieausbildung bereits derart verbreitet ist, daß es nur noch als anonymes Produkt -- als Werbung, als Kunsthandwerk, als Feuilleton, als Schulwissen, als idée recue / Klischee usw. -- Verbreitung findet.

> Der Handwerker, das Handwerkliche zählt nicht, auch das ist eine gängige schreckliche Erfahrung der letzten 200 Jahre, und niemand kann sich ihr entziehen.

> Und es zählt nicht etwa deshalb nicht, wie das von einigen Leuten immer verbreitet wird, weil die handwerklichen Standards immer weiter sinken, sondern weil handwerkliche Standards in jedem Bereich, auch in dem der Künste, Wissenschaften und Öffentlichkeiten, von beliebig vielen, gut ausgebildeten Leuten ohne große Mühe zu erreichen sind.

6. Soweit das Handwerk, die Gegenreaktion des Grundstudiums.

> Im Hauptstudium konzentriert sich die Frage des Vorankommens, wenn man nicht ausweichen will, auch aufgrund des deutschen Studiensystems, immer mehr auf die Frage nach der Autorität, einer personalisierten Autorität, dem Professor, oder allgemeiner gesagt: auf die Meister-Frage.

> Man kann dieser Frage ausweichen, es gibt Mittel und Wege, der Autoritätsfrage auszuweichen, dann muß man es mit sich selber abmachen, wie man mit dem eigenen Dilettantismus fertig werden will, und das heißt: man muß sehr viel länger warten, bis andere Leute für einen entscheiden, daß man kein Dilettant ist.

> Wenn man hingegen die Autoritätsfrage akzeptiert, kann man sich darauf verlassen, daß sie eine andere Person für einen beantwortet;

> man begibt sich allerdings in eine Abhängigkeit, man liefert sich also bewußt dem Schrecken einer Abhängigkeit aus, die man seit den Tagen der Pubertät vielleicht gar nicht mehr erlebt hat und erleben wollte.

> Diesen Schrecken kann man auf verschiedenste Weise bannen, es gibt Standardmodelle.

> Da man hofft, und vor allem: wenn man hofft, daß man eines Tages zu den "Meistern" zählt, zu den Leuten mit Kompetenz, dann versucht man, das Bild des Meisters in seine Seele eindringen zu lassen, man hofft auf das "Siegel" des Meisters, das sich in das Wachs des eigenen Herzens einprägt

> -- und eines Tages, oder auch schon jetzt, steht man da, auf der Straße, vor der Klasse, vor der eigenen Szene, und siehe da, das Siegel wird von allen entdeckt, es wird eines Tages von allen wiedererkannt, an den Werken, die man produziert hat, an der Haltung, die man einnimmt.

> Dieser "Meister" und sein Siegel (oder Siegelring), -- das kann nun ein bestimmter Meister sein, der lebt, den man kennt, oder der tot ist, den man aus sicherer Distanz bewundert, das kann aber auch nur die Vorstellung vom "Meister" sein, das "Meister-Bild", der Habitus des Professors, Künstlers, Wissenschaftlers, Spezialisten,

> in jedem Fall handelt es sich um eine schwierige, und eine scheinbar sehr einfache Operation, die man jeden Tag, und jedes Jahr aufs Neue ausführen kann: „THE MASTER AS I SAW HIM“, Bild und Wunschbild.

> Diese Reaktion ist verständlich, und sie bietet alles das, was man als Novize sich irgendwann vielleicht einmal wünscht: Selbstschutz, Selbstbild, Entwicklungsfähigkeit, Initiation, Zukunft.

> Realistisch ist sie nicht: 99%, neunundneunzig Prozent, das ist der ungefähre Richtwert, es könnten allerdings auch 999 Promille oder, unter günstigsten Umständen: jeder Zweite sein, sollen scheitern, und wenn sie sich an einem Bild des Meisters orientieren, dann kann das nur heißen: 99% aller Novizen, die sich an einem Bild des Meisters, an "The-Master-as-I-Saw-Him" orientieren, sind dazu berufen - ob von ihm dazu berufen, das ist eine Frage, die sich nicht beantwortet -- an diesem Bild zu scheitern.

> Als was? Nun eben genau das: als "Dilettanten", die vom Bild, oder natürlich: von mehreren, von ganz vielen Bildern eines Meisters, vom "Meister-Bild" gefangen, an diesem Bild scheitern.

> Diesen Vorgang, der sich Jahr für Jahr, Tag für Tag mit der gleichen Notwendigkeit wiederholt, weil man diesen Vorgang ja gar nicht vom erfolgreichen Lernen, also vom Erfolg und vom Lernen trennen kann, weil dieser Vorgang eine pädagogische Basis besitzt, in allen Bereichen des Wissens und Könnens, die gar nicht auf diese Frage des Scheiterns zu reduzieren, die ganz einfach gesprochen: "Nachahmung" ist, und gut ist -- diesen Vorgang lasse ich jetzt einmal so stehen, er beschreibt nur eine Seite dessen, was dem Novizen geschieht -- wenn er nach oben blickt.

7. Ich denke, daß es in dieser Beschreibung eine Lücke gibt, und zwar eine Lücke in der Barriere zwischen Produktion und Rezeption.

> In jedes moderne "Fach", in jede spezialisierte Kompetenz ist die Forderung der Kompetenzerweiterung eingebaut: die geforderte Veränderung, die "Innovation", die Belohnungen, die jeder erhält, der etwas "Originelles" tut, das sich durchsetzt.

> Und alles Neue muß, wie ich bereits andeutete, erst einmal "dilettantisch" anmuten, "nicht fachgemäß", "daneben", oder sogar "wahnsinnig", irgendwie "pathologisch", neben der Kappe, usw.  Dieser Sachverhalt wird zwar im nachhinein meistens vergessen, jetzt steht alles in den den Museen, oder in den Fachzeitschriften, oder den Archiven.

> Aber zu Beginn muß sich ein Widerstand ergeben haben, der die „Innovation“, die Veränderung, ablehnte, sonst kann sie gar nicht als Veränderung von Standards beschrieben, erkannt, anerkannt werden.

> Und hier ergibt sich aus dieser Systembeschreibung, und in jedem betreffenden System, mit Notwendigkeit, mit einer Notwendigkeit, die man für die ganzen letzten 200 Jahre beobachten kann, eine bestimmte Blindheit.

> Die jeweiligen zeitgenössischen Standards, Werte, und handwerklichen "Pegel" sind per definitionem blind für die "Innovation" (sprich: Veränderung), denn sonst könnte die betreffende Veränderung/Innovation gar nicht als Veränderung (Erweiterung, Umwertung...) der Standards beschrieben werden.

> Also ist die Gegenwart blind für die Zukunft des Fachs, und diese Blindheit spielt sich als "Dilettantismus"-Vorwurf ab.

> Wie gesagt, es handelt sich um eine Spielregel der Spezialisierung.

> Das Interessante ist jetzt nicht, daß allem Neuen zuerst die Kompetenz abgestritten, und dann zuerkannt wird -- das liefe nur auf die altbekannte Avantgarde-Konzeption hinaus.

> Das Interessante ist, daß hier eine Blindheit vorliegt, mit Notwendigkeit vorliegt, und daß man diese Blindheit ausnutzen kann, indem man beide Probleme miteinander koppelt: das Problem der Innovation und das Problem des Novizen.

> Und genau das ist, glaube ich, auch immer wieder geschehen, in der Kunst, in der Popmusik, in der Philosophie, in der Wissenschaft und anderswo:

> man konnte und man kann die Blindheit der technischen Standards, die in jeder beliebigen Gegenwart und ihrer Spezialisierung vorliegen, ausnutzen, und zwar, weil sie eine doppelte Blindheit ist:

> sie schließt die Innovation aus, und sie schließt den Novizen aus, und sie kann beides, den "Dilettantismus" des Novizen, der Inkompetenz, und den der kompetenten Innovation nicht mit genügender Trennschärfe unterscheiden, sondern nur unscharf, verwischt, mit Augenreiben und Halluzinationen.

> Es gibt eine Lücke, einen "blinden         " in jedem Metier, und in dieser Lücke soll -- das ist ja ein Muß jedes Fachs und jeder modernen Spezialisierung -- sowohl der "wirkliche Dilettantismus" ausgegrenzt, und die "echte Innovation" eingegrenzt werden.

> Und eben deshalb ergibt sich ganz konkret, an jedem Punkt, für jede Barriere zwischen Produktion und Rezeption die Möglichkeit der Unentscheidbarkeit, der Gratwanderung zwischen Dilettantismus und Innovation.

> Diese Unentscheidbarkeit besitzt bereits viele Figuren: Genie oder Scharlatan? Spinner oder Erfinder? Pfuscherei oder Satire? Erfrischende Primitivität (Natürlichkeit, Rabiatheit...) und/oder unerträgliche Peinlichkeit? usw.

> Die einzelnen Formen dieser Unentscheidbarkeit will ich hier nicht alle aufzählen, denn mich interessiert vor allem eine von ihnen:

> Diese Unentscheidbarkeit, diese Blindheit kann man ausnutzen, und zwar nicht, wie in der "klassischen Avantgarde", um sich selbst als Innovation zu produzieren oder zu plazieren, als der Erfinder, der Meister ist, und auch nie etwas anderes gewesen ist und sein wollte, sondern indem man die Blindheit selbst ausnutzt, und etwas herstellt, das die Barriere zwischen Produktion und Rezeption, also das Gesamtsystem, das Symptom, in dem man selber steckt, in dem aber jeder stecken bleibt, vom Meister bis zum Novizen und zum Rezipienten, zum Thema macht.

> Das Motto dieser Ereignisse, dieser Thematisierung könnte sein: "Liebe Dein Symptom wie dich selbst!"; was bei diesen Ereignissen herauskommt, sieht auf den ersten Blick vielleicht wie eine Satire, eine Travestie aus.

8. Ich komme zum Wendepunkt. "Dilettantismus" ist nicht nur eine bestimmte Rezeptionskategorie für Produkte, durch die bestimmte Leute von der Produktion ausgeschlossen werden, "Dilettantismus" ist mit gleichem Recht, und zwar vor allem in der "Blindheit" der Innovation, eine Produktionskategorie für Rezipienten, eine produktive Kategorie, mit deren Hilfe man etwas Anderes, und manchmal auch etwas Neues schaffen kann.

> Und genau das ist sie auch schon seit 200 Jahren, also in jedem Fach und jedem Metier seit genau der Zeit, in der sich Produktion und Rezeption so radikal getrennt haben, daß 99% aller Rezipienten aus der Produktion ausgeschlossen werden.

> Zuerst sagte man allerdings zu dieser Stelle, dieser Lücke, in der produktiver "Dilettantismus" und "Innovation" nicht voneinander unterschieden werden können, etwas anderes.

> Man nannte sie "Genie".

> Aber gerade im "Genie"-Begriff zeigte sich von Anfang an, daß man "Genie" und "Dilettantismus" nicht ganz, nicht ohne Blindheit, immer nur im nachhinein, aus dem gebührenden historischen Abstand, wieder voneinander trennen konnte:

> indem man 99% der Genies "Dilettanten" nannte, und 1% "Meister".

> Und diese Unschärfe bedeutete wiederum zweierlei:

> für die Rezeptionskategorie war es nicht mehr ganz, und als Vorhersage überhaupt nicht mehr möglich, das Dilettantische der Innovation vom Dilettantischen der Inkompetenz zu trennen, also für Kritiker, Gutachter, Kuratoren, Galeristen, Professoren usw. wurde es schwierig, mit letzter Sicherheit zu sagen, wo ein neuer Standard entsteht, und wo alte Standards einfach nur unterboten werden. Das ist die eine Seite.

> Die andere Seite muß man in die Seele des Produzenten verlegen, der vielleicht gerne ein Genie, oder ein Meister, zumindest aber ein Produzent sein möchte, also in die Produktionskategorie "Dilettantismus".

> Der Produzent, der etwas Neues erfinden möchte, der dem Innovationsimperativ in seinem Metier gehorcht, oder so gerne gehorchen möchte, kann sich bis zur Anerkennung seiner Leistung gar nicht mehr sicher sein, ob er etwas Neues erfunden hat, oder nicht einfach ein Dilettant (oder ein Scharlatan, ein Hochstapler usw.) geblieben ist, ob er "wirklich etwas bewegt hat", oder ob er nicht vielmehr einfach unterhalb der gängigen Standards operiert hat.

> Das ist sein Problem, oder -- wie man auch sagen könnte -- "das ist sein Problem", und das können nur andere Leute für ihn lösen, also Rezipienten.

> Man kann sich natürlich darein versteifen, daß man ein Genie ist, daß man alles richtig macht, doch das ist in den seltensten Fällen eine Lösung, denn wenn man sich seiner Sache zu sicher ist, dann entgleiten einem die Standards der Kontrolle, sozial wie persönlich.

> Prinzipielle Unsicherheit gehört prinzipiell dazu, und diese Unsicherheit ist die fehlende Entscheidung -- und Unterscheidung -- zwischen Innovation und Dilettantismus, zwischen "das war wohl nichts" und "das ist etwas Neues", Besseres.

> Mit dieser Unsicherheit muß man leben, bevor man anerkannt wird, sie gehört zum Geschäft dazu, und wenn man sie nicht erträgt, sozial, persönlich, fachlich, dann steigt man ohnehin aus.

> Und in dieser Situation gibt es eine Möglichkeit, den Forderungen des Handwerks -- die zuwenig besagen --, und der Meisterschaft -- die man nicht eigenmächtig für sich reklamieren darf, zu entgehen, eine Möglichkeit, die man aus Verzweiflung, und aus Spaß in Anspruch nehmen kann, strategisch, und ohne an die Zukunft zu denken:

> Man macht sich selbst zum Dilettanten, man arbeitet dilettantisch, und das macht man mit anderen Leuten, denn sonst ist dieses Spiel witzlos, es macht keinen Spaß (wenn man sich selbst degradiert, ohne daß jemand anderes das als einen Witz goutieren kann).

> Und durch dieses Verfahren - den produktiven Dilettantismus -- bricht man durch die Barriere zwischen Produktion und Rezeption hindurch --, indem man sie unterbietet, indem man sie unterläuft.

9. Jedesmal stößt man auf folgenden Vorgang:

> Bestimmte Standards der Produktion (und der Kommunikation) werden absichtlich unterboten -- aber auch, weil man gar nicht anders kann: weil man in diesem Gebiet zufällig Dilettant ist, oder bleiben muß, weil es sich um ein anderes Gebiet handelt usw. -- dieser Moment wird zum zentralen Aufhänger der Produktion.

> Und dieser Moment hebt die Hierarchie an einer Ecke auf: "jeder" kann an diesem Moment teilhaben, die Unterscheidung von Produktion und Rezeption ist "im Fluß", die Leute vor der Bühne sind entweder Musiker oder Fanzinemacher, oder werden es nächste Woche sein.

> Das kann nur im Rahmen einer "Szene" funktionieren, mit einigen Leuten, die man kennt, die vielleicht etwas ganz anderes wollen, die sich aber an diesem Spiel beteiligen.

> Sehr oft geschieht dieses Spiel als Witz, und dadurch, daß man die persönlichen Ansprüche zurückstellt:

> man schafft noch nicht das eigentliche Werk, man schafft gerade kein "eigentliches Werk", oder überhaupt kein Werk, sondern ein Loch, Trash, Dreck, Reste, Witze, Taking the piss, Hintergrund statt Figur, als Figur, Displacement, Deplaziertheit, D-Fence, man versucht nur mit der Situation -- der eigenen Arbeitssituation, oder einer, in die man per Zufall reingeraten ist -- zurechtzukommen.

> Das Gefühl kann auch sein: der ganze Spuk ist nächste Woche vielleicht schon vorbei, solange hat man Spaß mit den anderen Leuten, oder ist mit ihnen zusammen verzweifelt/lustig, und spielt sich die Bälle hin und her.

> Für die "Szene" ist typisch, daß ihre Hierarchien nicht so festgefügt sind, wer letzte Woche draußen war, kann schon Teil der Szene sein; -- andererseits ist wichtig, daß Leute ausgeschlossen werden, weil sie den Witz nicht verstanden haben, oder selber keine guten Witze machen können, „im Prinzip“ muß die Sache aber offenbleiben.

> Das heißt, die Barriere zwischen Produktion und Rezeption wird hier in die eigene Hand genommen, im Rahmen der eigenen, als Witz verstandenen Produktion, und das ist auch die Funktion der szeneninternen Kritik, durch Klatsch, Fanzines, Briefe, Kassetten usw.

> Irgendwann brechen diese internen Kommunikationsnetze auseinander, entweder durch Erfolg, oder durch ständigen Mißerfolg, und dann ist die Kritik nicht mehr in den Händen der Produzenten, oder man wird erfolgreich nachgeahmt, so daß die Standards (und Anti-Standards) der eigenen Produktion nicht mehr gehören (nicht mehr kontrolliert werden können), usw., und in diesem Moment gehen die Witze, geht der Humor als erstes flöten, und können auch die Bekanntschaften auseinander gehen, einige Leute können auch als Opfer dieser Entwicklung draußen bleiben, gehen ins bürgerliche Leben zurück und hinterlassen keine Spuren oder bringen sich um, oder kommen zufällig ums Leben, oder verlassen die Szene aus persönlichen und künstlerischen Gründen usw.,

> die Überlebenden, Erfolgreichen stehen dann wieder alleine im Atelier und müssen mit dem, was sie aus der Situation gelernt haben, zurechtkommen

> -- die dilettantische Szene war ihre Akademie, ihre letzte Ausbildung --

> sie können dann versuchen, in gängige Modelle zurückzuschalten, z.B. jetzt der Meister sein, jetzt handwerklich korrekt arbeiten,

> d.h. die dilettantische Szene wird im Nachhinein entweder abgewertet

> -- das war noch nichts, oder das war ein guter Witz, oder das war Nihilismus, jetzt brauche ich eine katholische Kirche oder eine Partei usw. --,

> oder sie wird als die Schaltstelle begriffen, wo man dem eigenen (persönlichen) Genie begegnet ist, und jetzt kann man dieses Genie mit dem wiedergefundenen Handwerk zur (eins plus eins gleich) Meisterschaft zusammensetzen, und dafür alle Ideen gebrauchen (und plagiieren), die man in der kurzen oder langen Phase der dilettantischen Szene mit den anderen Leuten und vor allem von ihnen gelernt hat.

> Man kann also versuchen, sich in der/ nach der Auflösung einer Szene als den eigentlichen Erben einer Szene einzusetzen, und die kollektive Ideenerarbeitung im nachhinein als eine individuelle Leistung einsetzen, auf sie Copyright anmelden.

> Meistens werden das allerdings mehrere machen, viele bleiben trotzdem auf der Strecke, und können das Copyright nicht so wirksam durchsetzen.

> Die im Dunkeln sieht man nicht, das Kollektiv sieht man nicht, den Witz sieht man nicht: nicht an der Wand.

 


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