Boris Groys ist Professor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. “Der Verdacht ist das Medium” ist die redaktionell bearbeitete und vom Verfasser authorisierte Mitschrift der Tonbandaufzeichnung seines frei gehaltenen Vortrags vom 22.6.2000 in der Volksbühne. Seine Bücher “Gesamtkunstwerk Stalin”, “Über das Neue” und “Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien”, 2000 erschienen, sind an der Volksbühne nicht unbeachtet geblieben.

Der Verdacht ist das Medium !

Was ist der Verdacht? Der Verdacht ist unser Grundverhältnis zu den Medien als solchen. Warum? Weil das, was die Medien uns bieten, Zeichen sind oder Bilder. Und diese Zeichen oder Bilder zeigen etwas, manifestieren sich selbst und das Gezeigte. Auf der anderen Seite verdecken sie auch etwas, z.B. verdeckt der Text in einem Buch das Buch, und nicht nur das Buch, sondern auch die ganze Verlagspraxis hinter dem Buch. Bilder im Fernsehen verdecken sozusagen das Innere des Fernsehgerätes, aber gleichzeitig auch das ganze Medium Fernsehen und so geht es weiter und weiter. Jedes Zeichen verdeckt die Bedingungen seines Zeigens. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ein Bild oder einen Text konzentrieren, dann müssen wir die Szene des Erscheinens dieses Textes oder dieses Bildes vergessen. Sie wird uns unzugänglich und ist für uns verborgen. Das heißt, wenn wir mit einem Bild oder Text konfrontiert sind, fragen wir uns nicht: Warum ist dieser Text oder das Bild hier und jetzt vor uns präsent? Wir fragen uns nicht nach dem Grund des Bildes, solange wir uns mit ihm als solchem beschäftigen. Die einzige Beziehung, die wir zu diesem Grund herstellen können, liegt in der Frage: Warum bin ich eigentlich mit diesen Texten, mit diesen Bildern konfrontiert? Und diese Frage müssen wir uns früher oder später stellen. Das ist das Verhältnis des Verdachts. Die einzige Theorie, die unser reales Verhältnis zur medialen Welt beschreibt, ist die Verschwörungstheorie, und wir wissen, daß gerade im Bereich der Kultur die Verschwörungstheorie die einzige Theorie ist, die wirklich gilt. Wer einen Umgang mit Künstlern und Schriftstellern und überhaupt mit Menschen der Kultur, mit dem akademischen Milieu, hatte, der weiß, daß die einzige Theorie, die wirklich ernst genommen wird, die Verschwörungstheorie ist. Der Grund dafür ist folgender: Wenn wir nicht wissen, warum wir mit Texten und Bildern konfrontiert werden, dann ist das Einzige, was wir erwarten können, eine dunkle Verschwörung, eine verborgene Manipulation. Wir fragen uns: Welchen Interessen dient das? Wer hat das alles arrangiert? Wer hat das veranlaßt? Und geraten ganz automatisch in diesen Zustand des Verdachts. Nun verwechselt man diesen Verdacht oft mit der Frage nach der Wahrheit oder Lüge des Zeichens und des Gesagten in den Medien. Man sagt etwa, die Medien lügen oder die Medien simulieren, wie in diesen berühmten Simulationstheorien von Baudrillard und anderen. Diese Fragestellung, die sehr interessant und wichtig ist, hat aber mit meiner Frage wenig zu tun. Was für mich wichtig ist, ist die Erfahrung, daß es eigentlich völlig gleichgültig ist, ob die Zeichen, die Bilder, die Medien uns die Wahrheit sagen oder die Lüge, ob sie simulieren oder nicht simulieren. Die wahren Zeichen, die wahren Bilder verdecken genauso den Grund ihrer Wahrheit wie die lügenhaften Zeichen den Grund ihrer Lügen verdecken. Auch in Bezug auf die Wahrheit muß man sich fragen: Warum ist diese Wahrheit plötzlich da? Warum bin ich mit dieser Art Wahrheit plötzlich konfrontiert? Das ist beispielsweise die typische Situation des Familienstreits. Wenn einem im Laufe eines Familienstreits plötzlich gesagt wird: Du bist doch so und so und hast doch dies und jenes getan. Und wenn man fragt: Warum sagst du mir das alles?, bekommt man als Antwort: Weil es die Wahrheit ist! - das ist die klassische Antwort. Es ist zwar die Wahrheit oder könnte zumindest die Wahrheit sein, aber man fragt sich: Warum diese Wahrheit hier und jetzt? Warum wird sie erwähnt? Das bedeutet, daß die Wahrheit keine Grundlage sein kann und auch nicht als Grundlage gesehen wird für diese Darbietung von Behauptungen, Zeichen oder Bildern. Ob sie wahr sind oder nicht wahr, ob sie simuliert sind oder lügenhaft, das ist hier völlig irrelevant. In allen Fällen zeigt sich, daß diese Zeichen, wie gesagt, den Grund ihrer Präsenz, den Grund ihrer Existenz vor uns hier und jetzt verbergen, und zwar wahre Zeichen genauso wie falsche Zeichen. Was sie verdecken ist der “submediale Raum”, der Raum, von dem wir vermuten, daß er hinter dem Bild versteckt oder unter dem Bild verdeckt ist. (Ich werde im Folgenden immer “Bild” sagen, aber ich meine generell jedes Zeichen, auch Textzeichen.) Der Versuch, die Frage zu beantworten, was hinter den Bildern ist, heißt Aufklärung. Der Gestus der Aufklärung besteht darin, daß ich durch die Zeichenwand hindurchgehe und mir die Frage stelle: Was verbirgt sich hinter dem Bild? Welche politischen, sozialen, ökonomischen und sonstigen Gründe führen dazu, daß ich dieses Bild zu sehen bekomme? Dieser aufklärerische Gestus ist uns sehr gut bekannt und was auch immer man über die Krise der Aufklärung sagen mag: Dieser Gestus ist unumgänglich! Selbstverständlich bemühen wir uns um Aufklärung, wenn wir einen Verdacht haben. Das Problem mit diesem Gestus ist allerdings, daß er letztendlich zu nichts führt, zumindest führt er nicht zur endgültigen Entkräftung dieses Verdachts, denn je weiter wir gehen, desto mehr Bilder bekommen wir zu unserer Verfügung. Die Funktion der Bilder bleibt aber immer die gleiche: sie zeigen uns etwas und verbergen etwas. Das heißt: Wenn ich durch diese Zeichenwand hindurchgehe, wenn ich versuche mir ein Bild zu machen von dem, was sich hinter den Bildern unserer medialen Welt verbirgt, wenn ich im Bilde sein will und mir dieses Bild fixieren will, dann bekomme ich doch nur wieder ein Bild zu sehen und die ganze Situation wiederholt sich. Ich sehe ein Bild und frage weiter: Was verbirgt dieses Bild eigentlich? Die ganze Hoffnung der Aufklärung, diesen Verdacht zu entkräften und zu einer sicheren Erkenntnis zu kommen, war in dem Glauben begründet, daß ich diesen Verdacht oder Zweifel verwalten kann. Das war die Grundposition von Descartes: Sum cogitans. Ich denke, ich zweifle. Ich verdächtige die Außenwelt, daß sie anders ist, als sie sich mir zeigt. Nur eines ist sicher: daß ich mit diesem Zweifel umgehen, ihn verwalten kann. Ich kann nämlich aufhören zu zweifeln, ich kann statt zu zweifeln etwas Anderes tun, zum Beispiel angeln oder schlafen oder ins Theater gehen oder was auch immer, und dann zweifle ich nicht mehr, sondern bin von den Aufführungen der Volksbühne fasziniert. Oder ich gehe ins Kino, da denkt man dann überhaupt nicht mehr. Ich wähle zwischen diesen Möglichkeiten. Es ist meine Entscheidung. Allerdings wurde auch diese Selbstsicherheit der Aufklärung im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wieder in Zweifel gezogen, indem man sich gesagt hat: Wir denken eigentlich gar nicht; das, was wir als Denken erleben, ist eigentlich auch nur eine mediale Oberfläche dessen, was wir etwa als das Unbewußte in seinen verschiedenen Formen bezeichnen. Das heißt: Man hat angefangen nicht nur in der Außenwelt, sondern auch in der Innenwelt seiner eigenen medialen Imagination und seines eigenen Denkens etwas zu vermuten, was man unterschiedlich benannt hat: das Leben oder die Libido oder - wie hier in der Volksbühne - die ökonomischen Verhältnisse unter dem Kapitalismus oder - wie Derrida – die Schrift oder eben - wie Heidegger es definiert hat - das Sein. Das heißt, man hat angefangen, das Außen auch im Inneren zu vermuten, das Unbewußte oder prinzipiell Unbekannte zu vermuten als etwas, das hinter der Oberfläche meines eigenen Denkens oder meiner eigenen Imagination sich verbirgt. Und so wurde der Verdacht total. 2. Die Diskurse, mit denen wir heute zu tun haben, werden, wenn man sich als Intellektueller mit ihnen zu beschäftigen hat, irgendwann langweilig. (Ich versuche jetzt zu erklären, warum ich mein Buch “Unter Verdacht” überhaupt geschrieben habe.) Man wird von allen Seiten mit verschiedenen Diskursen und Theorien attackiert und irgendwann schreibt oder sagt man etwas, um das abzuwehren, weil es einem auf die Nerven geht. Was mir z.B. ziemlich auf die Nerven geht, ist dieser berühmte Diskurs über das Andere oder das Radikal-Andere und das alles; daß man also als Effekt aus dem Scheitern der Aufklärung, unter dem Einfluß der poststrukturalistischen Theorie, von Foucault bis Derrida darüber klagt, daß man, wenn man etwas sieht, von dem abhängig ist, was einem gezeigt wird, man aber dasjenige oder denjenigen, das oder der zeigt, nicht sehen kann. Man ist ihm ausgeliefert. Und das ist dieser berühmte Andere oder das Andere, der oder das sich hinter allen Erscheinungen und Zeichen und Texten und Medien verbirgt und alles heimlich manipuliert. Diesen Anderen kann man nicht greifbar machen, kann man nicht denken, kann man nicht vorstellen, da er sich uns einfach entzieht. Deshalb beginnt alles zu schwimmen. Alles ist ja heutzutage am Schwimmen, nicht wahr? Die Grenzen lösen sich auf, es passieren alle möglichen unglaublichen Dinge in unserer Kultur. Obwohl man immer mehr oder weniger ordentlich zu Hause sitzt oder bei einer Veranstaltung wie dieser hier, tut man das im Gefühl, daß alle Grenzen sich auflösen und alles fließt und die Medien sich globalisieren und das Andere sich ständig entzieht. Also wirklich: Alles ist ungeheuerlich. Nun wollte ich von dieser Ungeheuerlichkeit ein bißchen Abstand nehmen. Die Figur des Verdachts ist ein Versuch, diesen Diskurs abzuwehren, nämlich dadurch, daß man sagt: Ja gut, das mag alles stimmen oder auch nicht, aber der Verdacht ist nur mein Verdacht und sonst nichts. Ich kann weder behaupten, daß es hinter der medialen Oberfläche nichts gibt, noch, daß es dahinter etwas gibt, z. B. den Kapitalismus. Das wäre übrigens nicht deprimierend meiner Meinung nach, sondern beruhigend; wenn wir wirklich wüßten, da steckt überall das Kapital dahinter, dann wäre man sofort begeistert, so wie die ganze kommunistische Bewegung, solange sie intakt war, immer begeistert war und voller Vitalität. Die Begeisterung durch den Verdacht beruht darauf, daß man eine Verschwörungstheorie oder sonst eine Theorie entwickelt hat über den Kapitalismus oder über die Libido oder über das Begehren und diese Sachen. Ich bin begeistert, weil ich weiß, was hinter der medialen Oberfläche steckt. - Oder ich weiß eben nicht, was dahinter steckt: das begeistert mich dann überhaupt nicht. Der Verdacht, daß es vielleicht nicht der Kapitalismus oder die Libido oder das Begehren ist, was hinter allem steckt, deprimiert mich. Wenn ich es mit dem Radikal-Anderen zu tun habe, das sich entzieht, werde ich depressiv – soviel dazu, wenn schon von dem Zusammenhang von Kapitalismus und Depression hier die Rede sein soll. Das alles sind verschiedene Varianten des Verdachts. Dieser ganze submediale Raum, in dem alle diese wunderbaren oder depressiven Dinge sich abspielen, ist der Raum des Verdachts. Das ist etwas, was man sich als Möglichkeit vorstellen oder was man als Gefahr empfinden, was man aber auch als Chance begreifen kann. Das alles ist nichts, was sich beschreiben oder gar beweisen ließe. Alles ist erlaubt zu sagen und gleichzeitig ist alles verboten. Es ist völlig plausibel und gleichzeitig unhaltbar. Es ist alles sinnvoll und nicht widerlegbar und trotzdem ziemlich problematisch. Es stellt sich dar als Schwimmen. Angesichts dieser Situation war mein Gedanke, einmal ein bißchen zurückzutreten, nicht immer aktiv weiter nach vorne in die eine oder andere Richtung zu fließen und immer neue Grenzen zu überschreiten, sondern ein bißchen asketische Praxis zu üben und zu fragen: Wie ist dieser Verdacht eigentlich beschaffen? Das heißt, bevor ich frage: Wie sieht es dahinter aus? Was ist es eigentlich? Ist es die Vernunft, das Sein, ist es das Andere?, frage ich mich zunächst einmal: Was sind die Kriterien des Verdachts? Was erwarte ich eigentlich von einer möglichen Antwort? Auf welche Antwort warte ich? Welche Frage stelle ich mir eigentlich? Welche Antwort wäre für mich eine befriedigende Antwort? Welche Antwort wäre für mich eine enttäuschende Antwort? Worauf warte ich eigentlich, wenn ich auf Aufklärung warte? Worauf warte ich, wenn ich auf einen Diskurs über das Andere warte? Was ist überhaupt meine Beschaffenheit dabei? Mit dieser Zurücknahme der Frage nach dem, was dahinter steckt und dem Verzicht auf Verdächtigungen, möchte ich auch von dieser wunderbaren metaphysischen und zudem metaphysikkritischen philosophischen Tradition weggehen. Ich wollte nur die Frage stellen: Was ist der Verdacht überhaupt? – aber nicht in dieser glorreichen aufklärerischen und aufklärungskritischen großen europäischen Tradition, sondern generell. 3. Wenn wir in einer Kultur des Verdachts leben, in erster Linie ausgedrückt durch das Krimigenre, ist es ganz klar, daß der eigentliche Held dieser Kultur der Privatdetektiv ist. Der Privatdetektiv zeichnet sich dadurch aus, daß er so etwas wie die generelle Verkörperung des Verdachts ist. Deshalb denke ich, daß man diese generelle Frage nach dem Verdacht mit der Frage nach der Figur des Privatdetekitvs verbinden muß. Diese Figur erscheint zuerst im Kontext der Romantik bei E. A. Poe und entwickelt sich weiter und weiter, wobei es ganz klar ist, daß heute der einzige Held unserer Kultur der Privatdetktiv ist, in der einen oder anderen Gestalt. Alles was heute geschrieben wird, in welchem Sinne auch immer, oder gefilmt oder gemalt oder ich weiß nicht was - im Zentrum unserer gesamten Kultur steht der Privatdetektiv. Das ist sehr einfach nachzuweisen: Umberto Eco schreibt nur Kriminalromane, Robbe-Grillet schreibt nur Kriminalromane, alle Filme sind Kriminalfilme; Liebesgeschichten interessieren überhaupt keinen. Man spricht zwar ständig über das Begehren, aber das interessiert wirklich niemanden. Die Liebesgeschichte - das kann man an jedem beliebigen Film beweisen - ist nur da für die Pausen zwischen unterschiedlichen Ebenen der Untersuchung, ob ein bestimmter Verdacht sich bestätigt oder nicht. Die Liebesgeschichte dient dazu, die Leute zwischendurch ein bißchen zu entspannen oder sogar um zusätzlichen Suspense zu erzeugen, aber auf keinen Fall bezieht sie sich auf dieses berühmte Begehren, das wirklich keinen Menschen interessiert. Die Philosophie insgesamt und speziell die der Aufklärung muß in erster Linie in Bezug auf die Figur des Privatdetektivs verstanden werden. Gerade für Deutschland, denke ich, ist das relevant. In Deutschland gibt es den aufklärerischen Diskurs von Adorno und der Frankfurter Schule, der sich vor allem gegen die Kulturindustrie richtet. Hier tritt Adorno praktisch in der Figur des Privatdetektivs auf. Ich bin mir sicher, daß er diese Figur aus der amerikanischen Kulturindustrie übernommen hat, die er dann mit Hilfe dieser Figur kritisierte. Er dupliziert diese Figur des Privatdetektivs und wendet sie gegen die Kulturindustrie selbst, der er diese Figur entnommen hat. Und fragt sich dann etwa: Was für eine Verschwörung verbirgt sich hinter dem Film als solchem? Er fragt sich nicht: Was für eine Verschwörung zeigt der Film?, sondern: Was ist der Film als Verbrechen? Es ist offensichtlich, daß das die Frage ist, die die Kulturindustrie sich zunehmend stellt. Zum Beispiel die neueren Filme wie “Matrix”, “Truman-Show” oder “Total Recall” sind nichts anderes als die Verfilmung der Frankfurter Schule. Diese Filme beschreiben den Film als Urverbrechen. Nebenbei bemerkt gibt es die Tradition, den Film als Urverbrechen zu beschreiben, schon länger. Ich empfehle allen, die ursprüngliche Originalserie “Mission Impossible” zu sehen, die in Deutschland immer wieder unter dem Titel “Kobra, übernehmen Sie” läuft. Im Unterschied zu den späteren, völlig uninteressanten und mißlungenen Folgen, die jetzt laufen, ist diese Serie der erste ernsthafte Versuch, den Kommunismus als Film und den Film als Verbrechen zu betrachten und gleichzeitig Film als Aufklärung, als Gegenmittel, als Gegengift zu interpretieren. Das gilt übrigens auch für die wunderbaren Kalten-Kriegs-Filme über die “Bodysnatchers”, die zumindest zu einer Hälfte die Funktion kommunistischer Filmregisseure verkörpern, die eine illusionäre Welt schaffen. Kurzum, was die Filmindustrie - Hollywood ist sozusagen der Ort oder das problematische Paradigma der Massenkultur insgesamt - als Urverbrechen bezeichnet und beschreibt, das ist der Film. Wir sehen das überdeutlich in “Matrix”, wo das Verhältnis zwischen Filmindustrie und Konsumenten vorgeführt wird: Die Menschen sitzen völlig immobilisiert in Ballons, wie eben die Zuschauer in einer Filmvorführung sitzen, im Dunkeln, und sehen das, was ihnen gezeigt wird, und zwar von den Maschinen, von der Kinoindustrie. Was ihnen gezeigt wird, ist die Normalität; ihnen wird der Alltag gezeigt, die alltägliche Normalität. Das ist der adornitische Gedanke schlechthin, daß die größte Täuschung die Normalität ist, daß gerade der Ort der Normalität der Ort des maximalen Verdachts ist und daß die Zeichen der Versöhnung mit dem Alltag das Gefährlichste sind. Das ist der Urverdacht, der übrigens auch bei Hitchcock zu finden ist. Wenn bei ihm das Alltägliche und ganz Normale gezeigt wird, weiß man, das bedeutet, daß jetzt irgendwann ein furchtbares Verbrechen geschieht. Es läuft eine lange Sequenz größter Friedlichkeit und irgendwann passiert es. Im Grunde ist man ja unglaublich erleichtert, wenn endlich jemand umgebracht wird. Die einzige Qual bei der Vorführung der Hitchcock-Filme und vieler anderer ist die Normalität, die langen, langen Sequenzen, in denen nichts passiert und man ständig auf den ersten Mord wartet. Passiert dieser Mord, ist man sozusagen wieder in seinem Element und vollständig glücklich. So sind auch generell die Fernsehserien angelegt, die in Deutschland laufen, wie z.B. “Hart aber herzlich”, meine Lieblingsserie. Da ist der Held ein Unternehmer und gleichzeitig ein Aufklärer, eben ein Privatdetektiv. Es geschieht ein Verbrechen, dann kommt er in so ein Haus, in dem das Verbrechen stattgefunden hat, oder in eine Firma, und die Leute, die ihn eingeladen haben und ihn empfangen, sagen: Bei uns ist alles absolut normal. Sehen Sie, schauen Sie herum, es herrscht überall Normalität. Es ist wirklich alles normal! Er schaut sich um und geht heraus und es ist wirklich normal: also muß hier gleich ein Verbrechen geschehen. Die Normalität oder das Gefühl der Normalität oder die normale Sensibilität des Lebens im Alltag ist der Moment, an dem der Verdacht sich maximiert. Der Verdacht ist unser normales Verhältnis zu den Medien und zur Außenwelt; es ist also normal, auf die Außenwelt mit Verdacht zu reagieren. Wenn wir uns in einer Situation der Normalität befinden, gehen wir automatisch davon aus, daß hinter dieser Fassade der Normalität sich etwas Furchtbares verbirgt. Das ist übrigens auch der Trick dieser “Big Brother”-Sendung, die in den Medien oft kritisiert wurde, indem man sagte: Die armen Menschen, der Voyeurismus der Medien und so weiter, als ob es der Voyeurismus der Medien sei, der die Menschen dazu bringt, diese Sendung zu sehen. Das ist nicht der Fall! Die Menschen sehen diese Sendung, weil diese Sendung sich selbst anklagt, weil sie sich “Big Brother” benennt, weil sie die Manipulation offenlegt. Was die Menschen genießen, genauso wie bei der “Truman Show” oder bei “Matrix”, ist die Selbstanzeigeerstattung des Mediums, die Rituale der Selbstentlarvung und der Selbstdemaskierung, die dort stattfinden. Wir haben eine Urszene, das ist die Urszene der Normalität, mit der ein Privatdetektiv seine Arbeit beginnt und wo der Verdacht sich am meisten konzentriert. Das ist auch die typische Urszene in der Philosophie. Wenn man frühere philosophische Texte liest, wie die von Descartes oder Berkeley, also den Meistern des Verdachts, dann beginnen sie immer mit einer ganz alltäglichen Szene. Ich sitze in einem Zimmer, sagt Descartes, und es ist so vertraut, es sieht so vertraut aus, aber vielleicht ist es ein Traum, vielleicht ist da etwas Furchtbares verborgen, vielleicht ist es nur eine Vision, die mit der Realität nichts zu tun hat. Wird man in einen Normalzustand versetzt, ist man erschrocken. Was tut man dann? Man beginnt unglaubliche Anstrengungen zu unternehmen, um zu einem Ausnahmezustand zu kommen. Das tun alle Helden in den Filmen, die ich erwähnt habe. Man beginnt Reisen zu unternehmen bis zum Ende der Welt, wie in “Truman Show”. Oder man beginnt merkwürdige Pillen zu schlucken und Kämpfe auszutragen wie die Helden in “Matrix”. Man begibt sich in einen Konflikt, in einen Kampf, in einen Krieg, und man erzeugt eine Ausnahmesituation und erzeugt sie weiter und weiter bis man plötzlich vor einer furchtbaren Bildrealität steht. Ein Bild, das die schlimmsten Befürchtungen des Privatdetektivs übertrifft. Man steht vor diesem Ausnahmezustand, man sieht dieses Bild des absoluten Schreckens - und ist erlöst und beruhigt, weil man zum ersten Mal glaubt, was man sieht. Wann entsteht der Glaube an die Medien? Wenn ich mit einem Bild konfrontiert bin, das meine eigenen schlimmsten Verdächtigungen und Befürchtungen weit übertrifft, wenn ich den Verdächtigungs-Wettbewerb mit den Medien verliere. Solange ich mit einem Bild konfrontiert bin, das meine Befürchtungen immer wieder verniedlicht oder unter der Ebene meiner prämedialen Verdächtigungen und Befürchtungen bleibt, bin ich unzufrieden. Erst wenn ich weiter und weiter gehe und plötzlich verstehe, daß alles, was passiert, von Aliens schon längst geplant ist und kontrolliert wird, oder wenn ich feststelle, daß mein Kühlschrank mich plötzlich zu verfolgen beginnt und mich durch Erfrieren vernichten will, bin ich sofort beruhigt und weiß: Jetzt bin ich bei der Wahrheit angekommen, jetzt weiß ich endlich, was Sache ist. Nun frage ich mich, mit welcher Art von Erkenntnistheorie wir es hier zu tun haben. Mit keiner wissenschaftlichen, das ist klar. Die Quelle dieser Evidenz: Jetzt sehe ich endlich etwas, was wirklich glaubhaft ist!, ist nicht die Quelle der Evidenz der Wissenschaft oder höchstens die der Wissenschaften, wie sie heute in der FAZ funktionieren, wo man liest, daß in den nächsten zwanzig Jahren die Menschheit von der Nanotechnologie zerstört wird und man weiß, daß die FAZ endlich etwas Wahres geschrieben hat. Man glaubt dem. Aber das ist eher die untypische Art der wissenschaftlichen Wahrheit. Die typische Art der wissenschaftlichen Wahrheit ist langweilig und man vertraut ihr nicht. Das heißt: wir haben es hier mit einer völlig anderen Quelle der Wahrheit zu tun - mit der Wahrheit des Ausnahmezustandes. So wie man sagt: Erst im Krieg zeigt der Mensch, was an Heldenhaftem und Grausamen in ihm steckt. Oder erst im KZ weiß man, wozu der Mensch fähig ist. Wir glauben durch das Herstellen einer Ausnahmesituation, durch den Verlust der Sicherheiten, der Evidenzen, der Normalität zu einer Einsicht in die Grausamkeit dieser Welt zu gelangen und sind erst dann befriedigt, wenn unser Verdacht bestätigt ist. Die Ökonomie des Verdachts ist die Entkräftung des Verdachts durch seine Bestätigung. Die einzige Möglichkeit, die Paranoia zu besänftigen und den Verdacht zu beseitigen, ist erstens diesen Verdacht zu bestätigen und zweitens ihn zu übertreffen. Es ist vollkommen klar, daß auch unsere Hochkultur so funktioniert. Nehmen wir das Christentum, das den Tod Gottes inszeniert und damit den schlimmsten Verdacht ausspricht, nämlich daß Gott in der Welt ohnmächtig ist. Das war überhaupt der schlimmste Verdacht in der damaligen Zeit, wo alle Götter mächtig waren, entweder allmächtig oder mehr oder weniger mächtig. Zum ersten Mal wurde der Verdacht geäußert, Gott kann völlig ohnmächtig sein, geschlagen, gekreuzigt und gestorben. Daraus entstand die ganze Manifestation des Christentums, daß es den Verdacht überboten hat. Der Marxismus ist ein auch gutes Beispiel: Man glaubte an die Wahrheit des Marxismus, weil der Verdacht, den der Marxismus damals ausgesprochen hat, der radikalste denkbare Verdacht seiner Zeit war. Jetzt glauben alle mehr oder weniger Derrida, weil alle glauben, daß er den schlimmsten Verdacht überhaupt formuliert hat, nämlich, daß man den Verdacht eigentlich nicht so richtig formulieren kann. Wir befinden uns in einer Ökonomie des Verdachts, die darin besteht, daß man die authentische Wahrheit des Verborgenen bewertet, entsprechend der Leistung, die in den Verdacht investiert wurde. Je mehr Arbeit des Verdachts geleistet wurde, desto überzeugender klingt die Wahrheit, die als Bestätigung des Verdachts dann als Resultat dieser Arbeit auftritt. Wir können sagen, daß die Philosophie und unsere psychologische Ökonomie nach den gleichen Prinzipien funktionieren wie die Ökonomie der Werte der akkumulierten Arbeit. So ist der Wert unserer Wahrheiten die akkumulierte Arbeit des Verdachts, die wir in diese Wahrheiten investiert haben. Wir leben in einer medialen Ökonomie, in der der Verdacht als Grundform der Abrechnung und des Aushandelns von Welt funktioniert. Innerhalb dieser Ökonomie können wir mit dem Verdacht auf unterschiedliche Weise umgehen. Wir können z.B. Subjekte des Verdachts sein und diesen Verdacht weiter und weiter treiben. Wir können aber auch einen Verdacht am Verdacht äußern und den Verdächtiger verdächtigen. Das hat Nietzsche als Möglichkeit vorgeführt, die immer dann benutzt wird, wenn man über den “Privatdetektiv” sagt: Ach, das ist so ein frustrierter Typ, ein Paranoiker, ein Zu-kurz-Gekommener, ein Erfolgloser, der sein Unternehmen nicht richtig globalisieren kann, mit einem schlechtem Computer zu Hause, verliert sich im Internet - deswegen ist er wahrscheinlich frustriert und verdächtigt alle und ist so mißgestimmt. Das ist das nietzscheanische oder besser das populär-nietzscheanische Bewertungssystem, das heute als gesellschaftliche Norm funktioniert. Man kann aber auch intelligenter mit dem Verdacht umgehen, indem man sich selbst zum Objekt des Verdachts macht und sagt: Ich bin eigentlich die Quelle allen Übels!, den Verdacht sozusagen in seiner eigenen Person bestätigt. Diese Strategie wurde von einigen englischsprachigen Romantikern zuerst verwandt, zunächst von Lord Byron, später als décadence bezeichnet, oder eben Poe. Heute ist es eher ein Unternehmer wie Bill Gates, der sagt: Ich ziehe alle Stränge, ich stecke dahinter, ich bin das Subjekt des Verdachts. In der Politik ist Martin Walser ein gutes Beispiel, der ein ziemlich langweiliges Buch sehr gut verkauft hat, indem er sich mit einer Rede selbst zum Objekt des Verdachts gemacht und diesen Verdacht als Werbung für seine schriftstellerische Produktion benutzt hat. Das heißt: Gegenstand des Verdachts zu werden, bedeutet in unserer Kultur eine Tabuübertretung. Es ist aber interessant, daß diese Tabuübertretung heute völlig anders funktioniert als früher. Früher bedeutete der Tabubruch die Radikalisierung des Verdachts, heute ist er sozusagen ein Positionswechsel. Man verwandelt sich vom Subjekt des Verdachts in das Objekt des Verdachts. So macht man sich zum Star. Die Verkörperung der Verdachtsökonomie in unserer Kultur ist die Prominenz. Ich glaube, daß die Rolle der Prominenz oder des Stars zu wenig reflektiert wird. Stars sind Menschen, die durch ihre Erscheinung zu Zeichen des Ausnahmezustands werden und die Illusion erzeugen, daß sie einen Durchblick oder Einblick erlangt haben, der den Normalmenschen verschlossen ist. Man sagt zum Beispiel, daß Madonna weiß, wie die Dinge laufen und wie man die Medien manipuliert. Sie hat den richtigen Durchblick, sie weiß, was los ist, und sie tut es ja auch, sie tut das so und so, sie ist immer da und macht alles immer richtig, sogar Kinder kriegt sie zur richtigen Zeit, sie kennt die Dinge hinter der Oberfläche. Das Gesicht von Madonna ist das, was Christus früher war: der Weg von der Oberfläche zum Innenraum, zur Bestätigung des Verdachts. Oder Clinton, der kein Star war vor dieser Geschichte, und jetzt schreibt man ein Buch nach dem anderen darüber, wie zynisch er eigentlich ist und wie geschickt er mit den Medien umgeht. Er wird allmählich zu diesem Star, zur Verkörperung einer absoluten Manipulation, zur Figur der Verschwörung. Es gibt die üblichen Verdächtigen, das sind unsere Stars, das ist unsere Prominenz, die wir verdächtigen, besonders manipulativ, besonders zynisch und deshalb besonders geschickt und effektiv mit den Medien umzugehen. 4. Aber das Thema dieses Vortrags war nicht “Der Verdacht als Ökonomie”, sondern “Der Verdacht als Medium.” Warum ist der Verdacht das Medium? Weil der Verdacht das ist, was eigentlich diese Medien trägt, weil er das ist, was wir hinter der Medien-Oberfläche vermuten. Wir vermuten alles mögliche dahinter, je nachdem, ob es sich um das Internet, das Fernsehen, das Theater oder die Literatur handelt. Das sind alles ganz unterschiedliche Medien, die, wie schon McLuhan gezeigt hat, nach unterschiedlichen Kriterien funktionieren. Wir haben aber auch ein Gesamtverhältnis zur medialen Wirklichkeit, und wir leben nicht in einer monomedialen, sondern in einer polymedialen Welt. Es ist eine Illusion zu glauben, wie McLuhan, daß die Medien sich ablösen, daß immer so etwas wie ein Leit-Medium existiert – wie das jetzt alle vom Internet behaupten. Die Menschen wissen doch vom Internet nur, was sie darüber in der Zeitung gelesen haben, vom Internet selbst haben sie keine Ahnung; wenn sie im Internet nachschauen, dann finden sie das Internet nicht, sondern etwas ganz Anderes. Die Medien sind eine vielfältige Illusion. Was diese Illusionen trägt, ist aber der Verdacht, daß es diese Illusionen gibt oder daß hinter diesen Illusionen etwas steckt. Dieser Verdacht, daß hinter den Illusionen etwas steckt, ist ein transmedialer Verdacht, eine transmediale Figur, die in allen Medien gleich präsent ist und hinter allen medialen Oberflächen gleichermaßen steckt. In diesem Sinne kann man sagen, daß der Verdacht das Medium aller Medien ist, das transmediale Medium in einer polymedialen Welt, das als einheitlicher Raum der Verdächtigungen, der Vermutungen, der Ängste hinter allen medialen Oberflächen gleichermaßen waltet und sich durch sie und in ihnen reproduziert.